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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die älteren Hemmungen des Bevölkerungszuwachses.
des Trinkwassers, der Mangel aller hygienischen Einrichtungen, in den Städten der
Mangel an Sonne, Licht und Luft förderten die große Sterblichkeit. Die Hungerjahre
haben noch länger fortgedauert als die großen Krankheiten, wenigstens da, wo kein
moderner Verkehr sich entwickelt hat. In Bengalen sollen 1771 gegen 10 Mill. Menschen
verhungert sein, seither haben 21 solcher Hungerplagen in Indien gewütet, die letzten
1866, 1868, 1874, 1876--77, 1891; 1876--79 starben 6 Mill. an Hunger; der Ver-
waltungsdienst gegen Hungersnöte ist eine der glänzendsten Leistungen der englischen
Herrschaft, hat sie aber noch nicht beseitigt. Auch in China sind die Heuschrecken-
plagen, Überschwemmungen und Hungersnöte noch heute an der Tagesordnung wie bei
uns in früheren Zeiten.

Dazu kommt in den früheren barbarischen Zeiten der Kannibalismus, die
Menschenfresserei, die häufig üblichen massenhaften Menschenopfer, welche den kriege-
rischen Gottheiten dargebracht wurden; noch stärker aber mußten die aufreibenden Kämpfe
der Stämme und Völker untereinander wirken. In jenen Zeiten galt das Leben nichts;
der Tod durchs Schwert wurde dem auf dem Strohlager vorgezogen. Wenn noch in
unseren Tagen der Zuluherrscher Tschaka eine Million Fremde, 50000 Stammesgenossen
getötet, 60 Nachbarstämme vernichtet haben soll, so ist das ein Bild der früheren
Lebensvernichtung überhaupt. Die Kriege der Kulturvölker im Altertum und Mittel-
alter mögen dagegen schon milde genannt werden, decimierend haben sie bis auf den
30jährigen und die Napoleonischen Kriege gewirkt; die 1,8--2,5 Mill. Franzosen, die
den Kriegen 1793--1813, die 0,25 Mill., die im Orientkriege 1853--56 erlagen, haben
freilich die Zunahme der Bevölkerung nicht aufgehalten, aber sie fallen doch anders ins
Gewicht als die 46000 deutschen (1 %0) und die 139000 französischen Toten von
1870--71.

Hängt die Menschenfresserei und die Menschenopferung teilweise mit Aberglauben
zusammen, so ist das ebenso beim ursprünglich so verbreiteten Kindsmord; doch spielten
auch andere Motive bei ihm mit, z. B. die Annahme, daß das erstgeborene Kind der
jugendlichen Mutter zu schwächlich sei, oder die Absicht, überhaupt die kümmerlichen
Kinder auszumerzen. Auch die Tötung der Witwen, teils allein, teils mit Kindern und
Sklaven, hängt mit Vorstellungen religiöser Art, mit Hoffnungen auf das Jenseits
zusammen. Aber der systematisch geübte Kindsmord, der da und dort so weit ging,
zwei Drittel aller Geburten zu beseitigen, wie die Tötung der Alten und Kranken war
doch bei den zunehmenden Völkern früher vielfach das Ergebnis wirtschaftlicher Absichten
und Nöte. Wo naive, primitive Menschen in fest gegebenen, beschränkten Ernährungs-
verhältnissen lebten, wo begrenzte Stammes-, Gentil-, Generationszahlen als Bedingung
der Existenz klar erkannt waren, da haben die betreffenden roh und rücksichtslos Kinder
und Alte getötet, zumal auf der Wanderung und in Hungerjahren; da haben sich auch
als Institutionen jene derben Gepflogenheiten der Abtreibung, der Ausschneidung der
Geschlechtsteile, der Päderastie, der Vielmännerei, der Prostitution sowie des Cölibats
weiter Kreise ausgebildet, die wir nicht bloß bei vielen barbarischen, sondern vielfach
auch bei den älteren Halbkulturvölkern, vor allem im Orient finden. Noch die Vor-
schläge von Plato und Aristoteles über Kindsmord und staatliche Regulierung der
Kinderzahl hängen wahrscheinlich mit älteren solchen Sitten gewisser griechischer Stämme
zusammen. "Die Freigebung der Kindererzeugung," sagt Aristoteles, "wie sie in den
meisten Staaten besteht, muß notwendig die Verarmung der Bürger zur Folge haben,
die Verarmung aber verursacht Aufruhr und Verbrechen."

Wie in jenen roheren Zeitaltern die Gestattung des Kindsmordes, der Abtreibung,
der Prostitution und alle ähnlichen bevölkerungshemmenden Sitten gewirkt haben, können
wir heute nicht mehr genau erkennen. Sie haben sicher die Menschenzahl, wenigstens ihre
Zunahme sehr eingeschränkt, sie haben wahrscheinlich auch damals große sittliche und
physiologische Überlstände, sociale und rechtliche Härten und Mißbildungen erzeugt, wenn
sie vielleicht auch jene roheren Völker nicht so vergiftet, die Möglichkeit nachfolgender
Wiederzunahme der Bevölkerung nicht so vernichtet haben, wie später ähnliche Sitten
die höher kultivierten Völker in ihrem Kerne angriffen und decimierten. Wir denken

Die älteren Hemmungen des Bevölkerungszuwachſes.
des Trinkwaſſers, der Mangel aller hygieniſchen Einrichtungen, in den Städten der
Mangel an Sonne, Licht und Luft förderten die große Sterblichkeit. Die Hungerjahre
haben noch länger fortgedauert als die großen Krankheiten, wenigſtens da, wo kein
moderner Verkehr ſich entwickelt hat. In Bengalen ſollen 1771 gegen 10 Mill. Menſchen
verhungert ſein, ſeither haben 21 ſolcher Hungerplagen in Indien gewütet, die letzten
1866, 1868, 1874, 1876—77, 1891; 1876—79 ſtarben 6 Mill. an Hunger; der Ver-
waltungsdienſt gegen Hungersnöte iſt eine der glänzendſten Leiſtungen der engliſchen
Herrſchaft, hat ſie aber noch nicht beſeitigt. Auch in China ſind die Heuſchrecken-
plagen, Überſchwemmungen und Hungersnöte noch heute an der Tagesordnung wie bei
uns in früheren Zeiten.

Dazu kommt in den früheren barbariſchen Zeiten der Kannibalismus, die
Menſchenfreſſerei, die häufig üblichen maſſenhaften Menſchenopfer, welche den kriege-
riſchen Gottheiten dargebracht wurden; noch ſtärker aber mußten die aufreibenden Kämpfe
der Stämme und Völker untereinander wirken. In jenen Zeiten galt das Leben nichts;
der Tod durchs Schwert wurde dem auf dem Strohlager vorgezogen. Wenn noch in
unſeren Tagen der Zuluherrſcher Tſchaka eine Million Fremde, 50000 Stammesgenoſſen
getötet, 60 Nachbarſtämme vernichtet haben ſoll, ſo iſt das ein Bild der früheren
Lebensvernichtung überhaupt. Die Kriege der Kulturvölker im Altertum und Mittel-
alter mögen dagegen ſchon milde genannt werden, decimierend haben ſie bis auf den
30jährigen und die Napoleoniſchen Kriege gewirkt; die 1,8—2,5 Mill. Franzoſen, die
den Kriegen 1793—1813, die 0,25 Mill., die im Orientkriege 1853—56 erlagen, haben
freilich die Zunahme der Bevölkerung nicht aufgehalten, aber ſie fallen doch anders ins
Gewicht als die 46000 deutſchen (1 ‰) und die 139000 franzöſiſchen Toten von
1870—71.

Hängt die Menſchenfreſſerei und die Menſchenopferung teilweiſe mit Aberglauben
zuſammen, ſo iſt das ebenſo beim urſprünglich ſo verbreiteten Kindsmord; doch ſpielten
auch andere Motive bei ihm mit, z. B. die Annahme, daß das erſtgeborene Kind der
jugendlichen Mutter zu ſchwächlich ſei, oder die Abſicht, überhaupt die kümmerlichen
Kinder auszumerzen. Auch die Tötung der Witwen, teils allein, teils mit Kindern und
Sklaven, hängt mit Vorſtellungen religiöſer Art, mit Hoffnungen auf das Jenſeits
zuſammen. Aber der ſyſtematiſch geübte Kindsmord, der da und dort ſo weit ging,
zwei Drittel aller Geburten zu beſeitigen, wie die Tötung der Alten und Kranken war
doch bei den zunehmenden Völkern früher vielfach das Ergebnis wirtſchaftlicher Abſichten
und Nöte. Wo naive, primitive Menſchen in feſt gegebenen, beſchränkten Ernährungs-
verhältniſſen lebten, wo begrenzte Stammes-, Gentil-, Generationszahlen als Bedingung
der Exiſtenz klar erkannt waren, da haben die betreffenden roh und rückſichtslos Kinder
und Alte getötet, zumal auf der Wanderung und in Hungerjahren; da haben ſich auch
als Inſtitutionen jene derben Gepflogenheiten der Abtreibung, der Ausſchneidung der
Geſchlechtsteile, der Päderaſtie, der Vielmännerei, der Proſtitution ſowie des Cölibats
weiter Kreiſe ausgebildet, die wir nicht bloß bei vielen barbariſchen, ſondern vielfach
auch bei den älteren Halbkulturvölkern, vor allem im Orient finden. Noch die Vor-
ſchläge von Plato und Ariſtoteles über Kindsmord und ſtaatliche Regulierung der
Kinderzahl hängen wahrſcheinlich mit älteren ſolchen Sitten gewiſſer griechiſcher Stämme
zuſammen. „Die Freigebung der Kindererzeugung,“ ſagt Ariſtoteles, „wie ſie in den
meiſten Staaten beſteht, muß notwendig die Verarmung der Bürger zur Folge haben,
die Verarmung aber verurſacht Aufruhr und Verbrechen.“

Wie in jenen roheren Zeitaltern die Geſtattung des Kindsmordes, der Abtreibung,
der Proſtitution und alle ähnlichen bevölkerungshemmenden Sitten gewirkt haben, können
wir heute nicht mehr genau erkennen. Sie haben ſicher die Menſchenzahl, wenigſtens ihre
Zunahme ſehr eingeſchränkt, ſie haben wahrſcheinlich auch damals große ſittliche und
phyſiologiſche Überlſtände, ſociale und rechtliche Härten und Mißbildungen erzeugt, wenn
ſie vielleicht auch jene roheren Völker nicht ſo vergiftet, die Möglichkeit nachfolgender
Wiederzunahme der Bevölkerung nicht ſo vernichtet haben, wie ſpäter ähnliche Sitten
die höher kultivierten Völker in ihrem Kerne angriffen und decimierten. Wir denken

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[173/0189] Die älteren Hemmungen des Bevölkerungszuwachſes. des Trinkwaſſers, der Mangel aller hygieniſchen Einrichtungen, in den Städten der Mangel an Sonne, Licht und Luft förderten die große Sterblichkeit. Die Hungerjahre haben noch länger fortgedauert als die großen Krankheiten, wenigſtens da, wo kein moderner Verkehr ſich entwickelt hat. In Bengalen ſollen 1771 gegen 10 Mill. Menſchen verhungert ſein, ſeither haben 21 ſolcher Hungerplagen in Indien gewütet, die letzten 1866, 1868, 1874, 1876—77, 1891; 1876—79 ſtarben 6 Mill. an Hunger; der Ver- waltungsdienſt gegen Hungersnöte iſt eine der glänzendſten Leiſtungen der engliſchen Herrſchaft, hat ſie aber noch nicht beſeitigt. Auch in China ſind die Heuſchrecken- plagen, Überſchwemmungen und Hungersnöte noch heute an der Tagesordnung wie bei uns in früheren Zeiten. Dazu kommt in den früheren barbariſchen Zeiten der Kannibalismus, die Menſchenfreſſerei, die häufig üblichen maſſenhaften Menſchenopfer, welche den kriege- riſchen Gottheiten dargebracht wurden; noch ſtärker aber mußten die aufreibenden Kämpfe der Stämme und Völker untereinander wirken. In jenen Zeiten galt das Leben nichts; der Tod durchs Schwert wurde dem auf dem Strohlager vorgezogen. Wenn noch in unſeren Tagen der Zuluherrſcher Tſchaka eine Million Fremde, 50000 Stammesgenoſſen getötet, 60 Nachbarſtämme vernichtet haben ſoll, ſo iſt das ein Bild der früheren Lebensvernichtung überhaupt. Die Kriege der Kulturvölker im Altertum und Mittel- alter mögen dagegen ſchon milde genannt werden, decimierend haben ſie bis auf den 30jährigen und die Napoleoniſchen Kriege gewirkt; die 1,8—2,5 Mill. Franzoſen, die den Kriegen 1793—1813, die 0,25 Mill., die im Orientkriege 1853—56 erlagen, haben freilich die Zunahme der Bevölkerung nicht aufgehalten, aber ſie fallen doch anders ins Gewicht als die 46000 deutſchen (1 ‰) und die 139000 franzöſiſchen Toten von 1870—71. Hängt die Menſchenfreſſerei und die Menſchenopferung teilweiſe mit Aberglauben zuſammen, ſo iſt das ebenſo beim urſprünglich ſo verbreiteten Kindsmord; doch ſpielten auch andere Motive bei ihm mit, z. B. die Annahme, daß das erſtgeborene Kind der jugendlichen Mutter zu ſchwächlich ſei, oder die Abſicht, überhaupt die kümmerlichen Kinder auszumerzen. Auch die Tötung der Witwen, teils allein, teils mit Kindern und Sklaven, hängt mit Vorſtellungen religiöſer Art, mit Hoffnungen auf das Jenſeits zuſammen. Aber der ſyſtematiſch geübte Kindsmord, der da und dort ſo weit ging, zwei Drittel aller Geburten zu beſeitigen, wie die Tötung der Alten und Kranken war doch bei den zunehmenden Völkern früher vielfach das Ergebnis wirtſchaftlicher Abſichten und Nöte. Wo naive, primitive Menſchen in feſt gegebenen, beſchränkten Ernährungs- verhältniſſen lebten, wo begrenzte Stammes-, Gentil-, Generationszahlen als Bedingung der Exiſtenz klar erkannt waren, da haben die betreffenden roh und rückſichtslos Kinder und Alte getötet, zumal auf der Wanderung und in Hungerjahren; da haben ſich auch als Inſtitutionen jene derben Gepflogenheiten der Abtreibung, der Ausſchneidung der Geſchlechtsteile, der Päderaſtie, der Vielmännerei, der Proſtitution ſowie des Cölibats weiter Kreiſe ausgebildet, die wir nicht bloß bei vielen barbariſchen, ſondern vielfach auch bei den älteren Halbkulturvölkern, vor allem im Orient finden. Noch die Vor- ſchläge von Plato und Ariſtoteles über Kindsmord und ſtaatliche Regulierung der Kinderzahl hängen wahrſcheinlich mit älteren ſolchen Sitten gewiſſer griechiſcher Stämme zuſammen. „Die Freigebung der Kindererzeugung,“ ſagt Ariſtoteles, „wie ſie in den meiſten Staaten beſteht, muß notwendig die Verarmung der Bürger zur Folge haben, die Verarmung aber verurſacht Aufruhr und Verbrechen.“ Wie in jenen roheren Zeitaltern die Geſtattung des Kindsmordes, der Abtreibung, der Proſtitution und alle ähnlichen bevölkerungshemmenden Sitten gewirkt haben, können wir heute nicht mehr genau erkennen. Sie haben ſicher die Menſchenzahl, wenigſtens ihre Zunahme ſehr eingeſchränkt, ſie haben wahrſcheinlich auch damals große ſittliche und phyſiologiſche Überlſtände, ſociale und rechtliche Härten und Mißbildungen erzeugt, wenn ſie vielleicht auch jene roheren Völker nicht ſo vergiftet, die Möglichkeit nachfolgender Wiederzunahme der Bevölkerung nicht ſo vernichtet haben, wie ſpäter ähnliche Sitten die höher kultivierten Völker in ihrem Kerne angriffen und decimierten. Wir denken

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/189>, abgerufen am 24.04.2024.