Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Neumalthusianismus. Die älteren Wanderungen.

Die Wanderungen der Menschen zerfallen in drei klar sich scheidende Epochen:
a) die roheren Naturvölker haben meist zum Boden noch kein festes Verhältnis, sie
wandern häufig und geschlossen in Stämmen; b) die seßhaft gewordenen Völker ver-
lieren die Wanderlust und -Fähigkeit zu einem erheblichen Teile, nur teilweise über sie
sie noch in der Form von Eroberung und Kolonisation aus; g) die heutigen Kultur-
völker haben sich erst auf Grund der modernen Verkehrsmittel und des modernen
Völkerrechts zu einer steigenden Einzelaus- und -Einwanderung erhoben und haben
zugleich die Ausdehnung über die ganze Erde wieder als Kolonisatoren in großem Stile
aufgenommen.

a) Auch die rohesten Stämme haben da und dort unter günstigen Bedingungen
an derselben Stelle durch Generationen hindurch sich aufgehalten. Aber so lange kein
Hausbesitz von Wert, keine wertvoll gewordenen Acker-, Garten-, Wege- und Brunnen-
einrichtungen sie fesseln, lassen sie sich leicht von Feinden weiter drängen, verlassen sie
erschöpfte Jagd-, Weide- und Ackergründe leicht, um bessere zu suchen; sie bedürfen
großer Flächen; kleine Zunahme treibt die Stämme oder Teile derselben weiter; Beute-
lust, Abenteurersinn, dunkle Hoffnungen auf bessere Existenz wirken mit. Auch der
Herdenbesitz und der primitive Ackerbau haben Jahrtausende lang die Wanderungen
wohl etwas erschwert, aber nicht verhindert. Die Indogermanen sind von Mittelasien
über ganz Europa, die Mongolen über Europa, Asien und Amerika, die Malaien von
Madagaskar über Südasien bis in die fernsten Inseln des stillen Ozeans gewandert.
Fast alle antike und die ältere mittelalterliche Staatenbildung knüpft an die Wande-
rungen der Kulturrassen an. Auch die seit Jahrzehnten seßhaft gewordenen Völker
sind leicht immer wieder ganz oder teilweise in Bewegung gekommen, wie wir in der
Völkerwanderung sehen. Die Indogermanen hatten, wie Ihering an der Institution
des ver sacrum der Römer nachzuweisen sucht, den an die Wandersitte und Marsch-
organisation der Halbnomaden sich anschließenden Brauch ausgebildet, zu bestimmter
Zeit, wenn ihrer zu viele wurden, eine Auswahl junger Männer und Weiber, mit
Führern, Waffen und Vieh vom Hauptstamme ausgestattet, hinauszusenden, um sich
eine neue Existenz zu gründen. Ein Nachklang dieser ältesten Wanderungen der Stämme
oder Stammesteile ist es, wenn in den großen Eroberungsreichen des Orients eine
barbarische Königsmacht ganze Stämme oder ihre Aristokratien und oberen Schichten zu
Tausenden in ganz entfernte Landschaften versetzte, um so den nationalen Geist und
die Stammesorganisation zu brechen. Und Ähnliches wiederholt sich später in den ver-
schiedensten Teilen der Erde von Karl d. Gr. bis in die centralamerikanischen Reiche
des 15.--16. Jahrhunderts.

Bei allen diesen älteren Stammes- und Völkerbewegungen, wobei Hunderte und
Tausende gemeinsam mit Weib und Kind, mit Hab und Gut, mit Vieh und Wagen
sich kämpfend in Bewegung setzten, teils in leere Gebiete eindrangen, teils erobernd oder
geduldet in schon besiedelte Länder vordrangen, andere Stämme oder Völker knechteten
oder vernichteten, handelte es sich um halb- oder ganz kriegerische, von Häuptlingen
oder Königen geleitete Bewegungen, die ebenso oft zum Untergang der Wanderer als
zu dem der von ihnen Bedrohten führten; alle diese Wanderungen haben durch Hunger,
Krankheit und Mißgeschick aller Art ebenso wie durch Kämpfe einen entsetzlichen Menschen-
verbrauch herbeigeführt, aber daneben die kräftigsten Völker zur Herrschaft und zum
Gedeihen in den für sie passendsten Gebieten gebracht.

b) Die seßhaft gewordenen Völker verlieren die Wanderungs-, Eroberungs- und
Expansionsfähigkeit in dem Maße, als die friedliche Ackerbaukultur ihnen gelingt, als
sie einen im Werte steigenden Haus-, Acker-, Garten- und Baumbesitz haben, als starke
Nachbarn sie umgeben. Einzelne spinnen sich rasch in philisterhafte Ruhe und in ein
behagliches örtliches Wirtschaftsleben ein; andere behalten wenigstens die Kraft, die
ihnen zugefallenen leeren Räume zu besiedeln, die Waldungen zu roden und so die
Möglichkeit der Existenz für eine wachsende Nachkommenschaft zu schaffen. Wo Schiff-
fahrt und Handel blühen, oder kriegerischer Eroberungsgeist im Volke oder in einer
herrschenden Klasse sich erhält, da kann freilich lange auch bei im übrigen friedlich

Schmoller, Grundriß der Volkswirtschaftslehre. I. 12
Der Neumalthuſianismus. Die älteren Wanderungen.

Die Wanderungen der Menſchen zerfallen in drei klar ſich ſcheidende Epochen:
α) die roheren Naturvölker haben meiſt zum Boden noch kein feſtes Verhältnis, ſie
wandern häufig und geſchloſſen in Stämmen; β) die ſeßhaft gewordenen Völker ver-
lieren die Wanderluſt und -Fähigkeit zu einem erheblichen Teile, nur teilweiſe über ſie
ſie noch in der Form von Eroberung und Koloniſation aus; γ) die heutigen Kultur-
völker haben ſich erſt auf Grund der modernen Verkehrsmittel und des modernen
Völkerrechts zu einer ſteigenden Einzelaus- und -Einwanderung erhoben und haben
zugleich die Ausdehnung über die ganze Erde wieder als Koloniſatoren in großem Stile
aufgenommen.

α) Auch die roheſten Stämme haben da und dort unter günſtigen Bedingungen
an derſelben Stelle durch Generationen hindurch ſich aufgehalten. Aber ſo lange kein
Hausbeſitz von Wert, keine wertvoll gewordenen Acker-, Garten-, Wege- und Brunnen-
einrichtungen ſie feſſeln, laſſen ſie ſich leicht von Feinden weiter drängen, verlaſſen ſie
erſchöpfte Jagd-, Weide- und Ackergründe leicht, um beſſere zu ſuchen; ſie bedürfen
großer Flächen; kleine Zunahme treibt die Stämme oder Teile derſelben weiter; Beute-
luſt, Abenteurerſinn, dunkle Hoffnungen auf beſſere Exiſtenz wirken mit. Auch der
Herdenbeſitz und der primitive Ackerbau haben Jahrtauſende lang die Wanderungen
wohl etwas erſchwert, aber nicht verhindert. Die Indogermanen ſind von Mittelaſien
über ganz Europa, die Mongolen über Europa, Aſien und Amerika, die Malaien von
Madagaskar über Südaſien bis in die fernſten Inſeln des ſtillen Ozeans gewandert.
Faſt alle antike und die ältere mittelalterliche Staatenbildung knüpft an die Wande-
rungen der Kulturraſſen an. Auch die ſeit Jahrzehnten ſeßhaft gewordenen Völker
ſind leicht immer wieder ganz oder teilweiſe in Bewegung gekommen, wie wir in der
Völkerwanderung ſehen. Die Indogermanen hatten, wie Ihering an der Inſtitution
des ver sacrum der Römer nachzuweiſen ſucht, den an die Wanderſitte und Marſch-
organiſation der Halbnomaden ſich anſchließenden Brauch ausgebildet, zu beſtimmter
Zeit, wenn ihrer zu viele wurden, eine Auswahl junger Männer und Weiber, mit
Führern, Waffen und Vieh vom Hauptſtamme ausgeſtattet, hinauszuſenden, um ſich
eine neue Exiſtenz zu gründen. Ein Nachklang dieſer älteſten Wanderungen der Stämme
oder Stammesteile iſt es, wenn in den großen Eroberungsreichen des Orients eine
barbariſche Königsmacht ganze Stämme oder ihre Ariſtokratien und oberen Schichten zu
Tauſenden in ganz entfernte Landſchaften verſetzte, um ſo den nationalen Geiſt und
die Stammesorganiſation zu brechen. Und Ähnliches wiederholt ſich ſpäter in den ver-
ſchiedenſten Teilen der Erde von Karl d. Gr. bis in die centralamerikaniſchen Reiche
des 15.—16. Jahrhunderts.

Bei allen dieſen älteren Stammes- und Völkerbewegungen, wobei Hunderte und
Tauſende gemeinſam mit Weib und Kind, mit Hab und Gut, mit Vieh und Wagen
ſich kämpfend in Bewegung ſetzten, teils in leere Gebiete eindrangen, teils erobernd oder
geduldet in ſchon beſiedelte Länder vordrangen, andere Stämme oder Völker knechteten
oder vernichteten, handelte es ſich um halb- oder ganz kriegeriſche, von Häuptlingen
oder Königen geleitete Bewegungen, die ebenſo oft zum Untergang der Wanderer als
zu dem der von ihnen Bedrohten führten; alle dieſe Wanderungen haben durch Hunger,
Krankheit und Mißgeſchick aller Art ebenſo wie durch Kämpfe einen entſetzlichen Menſchen-
verbrauch herbeigeführt, aber daneben die kräftigſten Völker zur Herrſchaft und zum
Gedeihen in den für ſie paſſendſten Gebieten gebracht.

β) Die ſeßhaft gewordenen Völker verlieren die Wanderungs-, Eroberungs- und
Expanſionsfähigkeit in dem Maße, als die friedliche Ackerbaukultur ihnen gelingt, als
ſie einen im Werte ſteigenden Haus-, Acker-, Garten- und Baumbeſitz haben, als ſtarke
Nachbarn ſie umgeben. Einzelne ſpinnen ſich raſch in philiſterhafte Ruhe und in ein
behagliches örtliches Wirtſchaftsleben ein; andere behalten wenigſtens die Kraft, die
ihnen zugefallenen leeren Räume zu beſiedeln, die Waldungen zu roden und ſo die
Möglichkeit der Exiſtenz für eine wachſende Nachkommenſchaft zu ſchaffen. Wo Schiff-
fahrt und Handel blühen, oder kriegeriſcher Eroberungsgeiſt im Volke oder in einer
herrſchenden Klaſſe ſich erhält, da kann freilich lange auch bei im übrigen friedlich

Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 12
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0193" n="177"/>
          <fw place="top" type="header">Der Neumalthu&#x017F;ianismus. Die älteren Wanderungen.</fw><lb/>
          <p>Die Wanderungen der Men&#x017F;chen zerfallen in drei klar &#x017F;ich &#x017F;cheidende Epochen:<lb/>
&#x03B1;) die roheren Naturvölker haben mei&#x017F;t zum Boden noch kein fe&#x017F;tes Verhältnis, &#x017F;ie<lb/>
wandern häufig und ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en in Stämmen; &#x03B2;) die &#x017F;eßhaft gewordenen Völker ver-<lb/>
lieren die Wanderlu&#x017F;t und -Fähigkeit zu einem erheblichen Teile, nur teilwei&#x017F;e über &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ie noch in der Form von Eroberung und Koloni&#x017F;ation aus; &#x03B3;) die heutigen Kultur-<lb/>
völker haben &#x017F;ich er&#x017F;t auf Grund der modernen Verkehrsmittel und des modernen<lb/>
Völkerrechts zu einer &#x017F;teigenden Einzelaus- und -Einwanderung erhoben und haben<lb/>
zugleich die Ausdehnung über die ganze Erde wieder als Koloni&#x017F;atoren in großem Stile<lb/>
aufgenommen.</p><lb/>
          <p>&#x03B1;) Auch die rohe&#x017F;ten Stämme haben da und dort unter gün&#x017F;tigen Bedingungen<lb/>
an der&#x017F;elben Stelle durch Generationen hindurch &#x017F;ich aufgehalten. Aber &#x017F;o lange kein<lb/>
Hausbe&#x017F;itz von Wert, keine wertvoll gewordenen Acker-, Garten-, Wege- und Brunnen-<lb/>
einrichtungen &#x017F;ie fe&#x017F;&#x017F;eln, la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie &#x017F;ich leicht von Feinden weiter drängen, verla&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie<lb/>
er&#x017F;chöpfte Jagd-, Weide- und Ackergründe leicht, um be&#x017F;&#x017F;ere zu &#x017F;uchen; &#x017F;ie bedürfen<lb/>
großer Flächen; kleine Zunahme treibt die Stämme oder Teile der&#x017F;elben weiter; Beute-<lb/>
lu&#x017F;t, Abenteurer&#x017F;inn, dunkle Hoffnungen auf be&#x017F;&#x017F;ere Exi&#x017F;tenz wirken mit. Auch der<lb/>
Herdenbe&#x017F;itz und der primitive Ackerbau haben Jahrtau&#x017F;ende lang die Wanderungen<lb/>
wohl etwas er&#x017F;chwert, aber nicht verhindert. Die Indogermanen &#x017F;ind von Mittela&#x017F;ien<lb/>
über ganz Europa, die Mongolen über Europa, A&#x017F;ien und Amerika, die Malaien von<lb/>
Madagaskar über Süda&#x017F;ien bis in die fern&#x017F;ten In&#x017F;eln des &#x017F;tillen Ozeans gewandert.<lb/>
Fa&#x017F;t alle antike und die ältere mittelalterliche Staatenbildung knüpft an die Wande-<lb/>
rungen der Kulturra&#x017F;&#x017F;en an. Auch die &#x017F;eit Jahrzehnten &#x017F;eßhaft gewordenen Völker<lb/>
&#x017F;ind leicht immer wieder ganz oder teilwei&#x017F;e in Bewegung gekommen, wie wir in der<lb/>
Völkerwanderung &#x017F;ehen. Die Indogermanen hatten, wie Ihering an der In&#x017F;titution<lb/>
des <hi rendition="#aq">ver sacrum</hi> der Römer nachzuwei&#x017F;en &#x017F;ucht, den an die Wander&#x017F;itte und Mar&#x017F;ch-<lb/>
organi&#x017F;ation der Halbnomaden &#x017F;ich an&#x017F;chließenden Brauch ausgebildet, zu be&#x017F;timmter<lb/>
Zeit, wenn ihrer zu viele wurden, eine Auswahl junger Männer und Weiber, mit<lb/>
Führern, Waffen und Vieh vom Haupt&#x017F;tamme ausge&#x017F;tattet, hinauszu&#x017F;enden, um &#x017F;ich<lb/>
eine neue Exi&#x017F;tenz zu gründen. Ein Nachklang die&#x017F;er älte&#x017F;ten Wanderungen der Stämme<lb/>
oder Stammesteile i&#x017F;t es, wenn in den großen Eroberungsreichen des Orients eine<lb/>
barbari&#x017F;che Königsmacht ganze Stämme oder ihre Ari&#x017F;tokratien und oberen Schichten zu<lb/>
Tau&#x017F;enden in ganz entfernte Land&#x017F;chaften ver&#x017F;etzte, um &#x017F;o den nationalen Gei&#x017F;t und<lb/>
die Stammesorgani&#x017F;ation zu brechen. Und Ähnliches wiederholt &#x017F;ich &#x017F;päter in den ver-<lb/>
&#x017F;chieden&#x017F;ten Teilen der Erde von Karl d. Gr. bis in die centralamerikani&#x017F;chen Reiche<lb/>
des 15.&#x2014;16. Jahrhunderts.</p><lb/>
          <p>Bei allen die&#x017F;en älteren Stammes- und Völkerbewegungen, wobei Hunderte und<lb/>
Tau&#x017F;ende gemein&#x017F;am mit Weib und Kind, mit Hab und Gut, mit Vieh und Wagen<lb/>
&#x017F;ich kämpfend in Bewegung &#x017F;etzten, teils in leere Gebiete eindrangen, teils erobernd oder<lb/>
geduldet in &#x017F;chon be&#x017F;iedelte Länder vordrangen, andere Stämme oder Völker knechteten<lb/>
oder vernichteten, handelte es &#x017F;ich um halb- oder ganz kriegeri&#x017F;che, von Häuptlingen<lb/>
oder Königen geleitete Bewegungen, die eben&#x017F;o oft zum Untergang der Wanderer als<lb/>
zu dem der von ihnen Bedrohten führten; alle die&#x017F;e Wanderungen haben durch Hunger,<lb/>
Krankheit und Mißge&#x017F;chick aller Art eben&#x017F;o wie durch Kämpfe einen ent&#x017F;etzlichen Men&#x017F;chen-<lb/>
verbrauch herbeigeführt, aber daneben die kräftig&#x017F;ten Völker zur Herr&#x017F;chaft und zum<lb/>
Gedeihen in den für &#x017F;ie pa&#x017F;&#x017F;end&#x017F;ten Gebieten gebracht.</p><lb/>
          <p>&#x03B2;) Die &#x017F;eßhaft gewordenen Völker verlieren die Wanderungs-, Eroberungs- und<lb/>
Expan&#x017F;ionsfähigkeit in dem Maße, als die friedliche Ackerbaukultur ihnen gelingt, als<lb/>
&#x017F;ie einen im Werte &#x017F;teigenden Haus-, Acker-, Garten- und Baumbe&#x017F;itz haben, als &#x017F;tarke<lb/>
Nachbarn &#x017F;ie umgeben. Einzelne &#x017F;pinnen &#x017F;ich ra&#x017F;ch in phili&#x017F;terhafte Ruhe und in ein<lb/>
behagliches örtliches Wirt&#x017F;chaftsleben ein; andere behalten wenig&#x017F;tens die Kraft, die<lb/>
ihnen zugefallenen leeren Räume zu be&#x017F;iedeln, die Waldungen zu roden und &#x017F;o die<lb/>
Möglichkeit der Exi&#x017F;tenz für eine wach&#x017F;ende Nachkommen&#x017F;chaft zu &#x017F;chaffen. Wo Schiff-<lb/>
fahrt und Handel blühen, oder kriegeri&#x017F;cher Eroberungsgei&#x017F;t im Volke oder in einer<lb/>
herr&#x017F;chenden Kla&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ich erhält, da kann freilich lange auch bei im übrigen friedlich<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Schmoller</hi>, Grundriß der Volkswirt&#x017F;chaftslehre. <hi rendition="#aq">I.</hi> 12</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[177/0193] Der Neumalthuſianismus. Die älteren Wanderungen. Die Wanderungen der Menſchen zerfallen in drei klar ſich ſcheidende Epochen: α) die roheren Naturvölker haben meiſt zum Boden noch kein feſtes Verhältnis, ſie wandern häufig und geſchloſſen in Stämmen; β) die ſeßhaft gewordenen Völker ver- lieren die Wanderluſt und -Fähigkeit zu einem erheblichen Teile, nur teilweiſe über ſie ſie noch in der Form von Eroberung und Koloniſation aus; γ) die heutigen Kultur- völker haben ſich erſt auf Grund der modernen Verkehrsmittel und des modernen Völkerrechts zu einer ſteigenden Einzelaus- und -Einwanderung erhoben und haben zugleich die Ausdehnung über die ganze Erde wieder als Koloniſatoren in großem Stile aufgenommen. α) Auch die roheſten Stämme haben da und dort unter günſtigen Bedingungen an derſelben Stelle durch Generationen hindurch ſich aufgehalten. Aber ſo lange kein Hausbeſitz von Wert, keine wertvoll gewordenen Acker-, Garten-, Wege- und Brunnen- einrichtungen ſie feſſeln, laſſen ſie ſich leicht von Feinden weiter drängen, verlaſſen ſie erſchöpfte Jagd-, Weide- und Ackergründe leicht, um beſſere zu ſuchen; ſie bedürfen großer Flächen; kleine Zunahme treibt die Stämme oder Teile derſelben weiter; Beute- luſt, Abenteurerſinn, dunkle Hoffnungen auf beſſere Exiſtenz wirken mit. Auch der Herdenbeſitz und der primitive Ackerbau haben Jahrtauſende lang die Wanderungen wohl etwas erſchwert, aber nicht verhindert. Die Indogermanen ſind von Mittelaſien über ganz Europa, die Mongolen über Europa, Aſien und Amerika, die Malaien von Madagaskar über Südaſien bis in die fernſten Inſeln des ſtillen Ozeans gewandert. Faſt alle antike und die ältere mittelalterliche Staatenbildung knüpft an die Wande- rungen der Kulturraſſen an. Auch die ſeit Jahrzehnten ſeßhaft gewordenen Völker ſind leicht immer wieder ganz oder teilweiſe in Bewegung gekommen, wie wir in der Völkerwanderung ſehen. Die Indogermanen hatten, wie Ihering an der Inſtitution des ver sacrum der Römer nachzuweiſen ſucht, den an die Wanderſitte und Marſch- organiſation der Halbnomaden ſich anſchließenden Brauch ausgebildet, zu beſtimmter Zeit, wenn ihrer zu viele wurden, eine Auswahl junger Männer und Weiber, mit Führern, Waffen und Vieh vom Hauptſtamme ausgeſtattet, hinauszuſenden, um ſich eine neue Exiſtenz zu gründen. Ein Nachklang dieſer älteſten Wanderungen der Stämme oder Stammesteile iſt es, wenn in den großen Eroberungsreichen des Orients eine barbariſche Königsmacht ganze Stämme oder ihre Ariſtokratien und oberen Schichten zu Tauſenden in ganz entfernte Landſchaften verſetzte, um ſo den nationalen Geiſt und die Stammesorganiſation zu brechen. Und Ähnliches wiederholt ſich ſpäter in den ver- ſchiedenſten Teilen der Erde von Karl d. Gr. bis in die centralamerikaniſchen Reiche des 15.—16. Jahrhunderts. Bei allen dieſen älteren Stammes- und Völkerbewegungen, wobei Hunderte und Tauſende gemeinſam mit Weib und Kind, mit Hab und Gut, mit Vieh und Wagen ſich kämpfend in Bewegung ſetzten, teils in leere Gebiete eindrangen, teils erobernd oder geduldet in ſchon beſiedelte Länder vordrangen, andere Stämme oder Völker knechteten oder vernichteten, handelte es ſich um halb- oder ganz kriegeriſche, von Häuptlingen oder Königen geleitete Bewegungen, die ebenſo oft zum Untergang der Wanderer als zu dem der von ihnen Bedrohten führten; alle dieſe Wanderungen haben durch Hunger, Krankheit und Mißgeſchick aller Art ebenſo wie durch Kämpfe einen entſetzlichen Menſchen- verbrauch herbeigeführt, aber daneben die kräftigſten Völker zur Herrſchaft und zum Gedeihen in den für ſie paſſendſten Gebieten gebracht. β) Die ſeßhaft gewordenen Völker verlieren die Wanderungs-, Eroberungs- und Expanſionsfähigkeit in dem Maße, als die friedliche Ackerbaukultur ihnen gelingt, als ſie einen im Werte ſteigenden Haus-, Acker-, Garten- und Baumbeſitz haben, als ſtarke Nachbarn ſie umgeben. Einzelne ſpinnen ſich raſch in philiſterhafte Ruhe und in ein behagliches örtliches Wirtſchaftsleben ein; andere behalten wenigſtens die Kraft, die ihnen zugefallenen leeren Räume zu beſiedeln, die Waldungen zu roden und ſo die Möglichkeit der Exiſtenz für eine wachſende Nachkommenſchaft zu ſchaffen. Wo Schiff- fahrt und Handel blühen, oder kriegeriſcher Eroberungsgeiſt im Volke oder in einer herrſchenden Klaſſe ſich erhält, da kann freilich lange auch bei im übrigen friedlich Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 12

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/193
Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/193>, abgerufen am 19.04.2024.