Die Wanderungen der Menschen zerfallen in drei klar sich scheidende Epochen: a) die roheren Naturvölker haben meist zum Boden noch kein festes Verhältnis, sie wandern häufig und geschlossen in Stämmen; b) die seßhaft gewordenen Völker ver- lieren die Wanderlust und -Fähigkeit zu einem erheblichen Teile, nur teilweise über sie sie noch in der Form von Eroberung und Kolonisation aus; g) die heutigen Kultur- völker haben sich erst auf Grund der modernen Verkehrsmittel und des modernen Völkerrechts zu einer steigenden Einzelaus- und -Einwanderung erhoben und haben zugleich die Ausdehnung über die ganze Erde wieder als Kolonisatoren in großem Stile aufgenommen.
a) Auch die rohesten Stämme haben da und dort unter günstigen Bedingungen an derselben Stelle durch Generationen hindurch sich aufgehalten. Aber so lange kein Hausbesitz von Wert, keine wertvoll gewordenen Acker-, Garten-, Wege- und Brunnen- einrichtungen sie fesseln, lassen sie sich leicht von Feinden weiter drängen, verlassen sie erschöpfte Jagd-, Weide- und Ackergründe leicht, um bessere zu suchen; sie bedürfen großer Flächen; kleine Zunahme treibt die Stämme oder Teile derselben weiter; Beute- lust, Abenteurersinn, dunkle Hoffnungen auf bessere Existenz wirken mit. Auch der Herdenbesitz und der primitive Ackerbau haben Jahrtausende lang die Wanderungen wohl etwas erschwert, aber nicht verhindert. Die Indogermanen sind von Mittelasien über ganz Europa, die Mongolen über Europa, Asien und Amerika, die Malaien von Madagaskar über Südasien bis in die fernsten Inseln des stillen Ozeans gewandert. Fast alle antike und die ältere mittelalterliche Staatenbildung knüpft an die Wande- rungen der Kulturrassen an. Auch die seit Jahrzehnten seßhaft gewordenen Völker sind leicht immer wieder ganz oder teilweise in Bewegung gekommen, wie wir in der Völkerwanderung sehen. Die Indogermanen hatten, wie Ihering an der Institution des ver sacrum der Römer nachzuweisen sucht, den an die Wandersitte und Marsch- organisation der Halbnomaden sich anschließenden Brauch ausgebildet, zu bestimmter Zeit, wenn ihrer zu viele wurden, eine Auswahl junger Männer und Weiber, mit Führern, Waffen und Vieh vom Hauptstamme ausgestattet, hinauszusenden, um sich eine neue Existenz zu gründen. Ein Nachklang dieser ältesten Wanderungen der Stämme oder Stammesteile ist es, wenn in den großen Eroberungsreichen des Orients eine barbarische Königsmacht ganze Stämme oder ihre Aristokratien und oberen Schichten zu Tausenden in ganz entfernte Landschaften versetzte, um so den nationalen Geist und die Stammesorganisation zu brechen. Und Ähnliches wiederholt sich später in den ver- schiedensten Teilen der Erde von Karl d. Gr. bis in die centralamerikanischen Reiche des 15.--16. Jahrhunderts.
Bei allen diesen älteren Stammes- und Völkerbewegungen, wobei Hunderte und Tausende gemeinsam mit Weib und Kind, mit Hab und Gut, mit Vieh und Wagen sich kämpfend in Bewegung setzten, teils in leere Gebiete eindrangen, teils erobernd oder geduldet in schon besiedelte Länder vordrangen, andere Stämme oder Völker knechteten oder vernichteten, handelte es sich um halb- oder ganz kriegerische, von Häuptlingen oder Königen geleitete Bewegungen, die ebenso oft zum Untergang der Wanderer als zu dem der von ihnen Bedrohten führten; alle diese Wanderungen haben durch Hunger, Krankheit und Mißgeschick aller Art ebenso wie durch Kämpfe einen entsetzlichen Menschen- verbrauch herbeigeführt, aber daneben die kräftigsten Völker zur Herrschaft und zum Gedeihen in den für sie passendsten Gebieten gebracht.
b) Die seßhaft gewordenen Völker verlieren die Wanderungs-, Eroberungs- und Expansionsfähigkeit in dem Maße, als die friedliche Ackerbaukultur ihnen gelingt, als sie einen im Werte steigenden Haus-, Acker-, Garten- und Baumbesitz haben, als starke Nachbarn sie umgeben. Einzelne spinnen sich rasch in philisterhafte Ruhe und in ein behagliches örtliches Wirtschaftsleben ein; andere behalten wenigstens die Kraft, die ihnen zugefallenen leeren Räume zu besiedeln, die Waldungen zu roden und so die Möglichkeit der Existenz für eine wachsende Nachkommenschaft zu schaffen. Wo Schiff- fahrt und Handel blühen, oder kriegerischer Eroberungsgeist im Volke oder in einer herrschenden Klasse sich erhält, da kann freilich lange auch bei im übrigen friedlich
Schmoller, Grundriß der Volkswirtschaftslehre. I. 12
Der Neumalthuſianismus. Die älteren Wanderungen.
Die Wanderungen der Menſchen zerfallen in drei klar ſich ſcheidende Epochen: α) die roheren Naturvölker haben meiſt zum Boden noch kein feſtes Verhältnis, ſie wandern häufig und geſchloſſen in Stämmen; β) die ſeßhaft gewordenen Völker ver- lieren die Wanderluſt und -Fähigkeit zu einem erheblichen Teile, nur teilweiſe über ſie ſie noch in der Form von Eroberung und Koloniſation aus; γ) die heutigen Kultur- völker haben ſich erſt auf Grund der modernen Verkehrsmittel und des modernen Völkerrechts zu einer ſteigenden Einzelaus- und -Einwanderung erhoben und haben zugleich die Ausdehnung über die ganze Erde wieder als Koloniſatoren in großem Stile aufgenommen.
α) Auch die roheſten Stämme haben da und dort unter günſtigen Bedingungen an derſelben Stelle durch Generationen hindurch ſich aufgehalten. Aber ſo lange kein Hausbeſitz von Wert, keine wertvoll gewordenen Acker-, Garten-, Wege- und Brunnen- einrichtungen ſie feſſeln, laſſen ſie ſich leicht von Feinden weiter drängen, verlaſſen ſie erſchöpfte Jagd-, Weide- und Ackergründe leicht, um beſſere zu ſuchen; ſie bedürfen großer Flächen; kleine Zunahme treibt die Stämme oder Teile derſelben weiter; Beute- luſt, Abenteurerſinn, dunkle Hoffnungen auf beſſere Exiſtenz wirken mit. Auch der Herdenbeſitz und der primitive Ackerbau haben Jahrtauſende lang die Wanderungen wohl etwas erſchwert, aber nicht verhindert. Die Indogermanen ſind von Mittelaſien über ganz Europa, die Mongolen über Europa, Aſien und Amerika, die Malaien von Madagaskar über Südaſien bis in die fernſten Inſeln des ſtillen Ozeans gewandert. Faſt alle antike und die ältere mittelalterliche Staatenbildung knüpft an die Wande- rungen der Kulturraſſen an. Auch die ſeit Jahrzehnten ſeßhaft gewordenen Völker ſind leicht immer wieder ganz oder teilweiſe in Bewegung gekommen, wie wir in der Völkerwanderung ſehen. Die Indogermanen hatten, wie Ihering an der Inſtitution des ver sacrum der Römer nachzuweiſen ſucht, den an die Wanderſitte und Marſch- organiſation der Halbnomaden ſich anſchließenden Brauch ausgebildet, zu beſtimmter Zeit, wenn ihrer zu viele wurden, eine Auswahl junger Männer und Weiber, mit Führern, Waffen und Vieh vom Hauptſtamme ausgeſtattet, hinauszuſenden, um ſich eine neue Exiſtenz zu gründen. Ein Nachklang dieſer älteſten Wanderungen der Stämme oder Stammesteile iſt es, wenn in den großen Eroberungsreichen des Orients eine barbariſche Königsmacht ganze Stämme oder ihre Ariſtokratien und oberen Schichten zu Tauſenden in ganz entfernte Landſchaften verſetzte, um ſo den nationalen Geiſt und die Stammesorganiſation zu brechen. Und Ähnliches wiederholt ſich ſpäter in den ver- ſchiedenſten Teilen der Erde von Karl d. Gr. bis in die centralamerikaniſchen Reiche des 15.—16. Jahrhunderts.
Bei allen dieſen älteren Stammes- und Völkerbewegungen, wobei Hunderte und Tauſende gemeinſam mit Weib und Kind, mit Hab und Gut, mit Vieh und Wagen ſich kämpfend in Bewegung ſetzten, teils in leere Gebiete eindrangen, teils erobernd oder geduldet in ſchon beſiedelte Länder vordrangen, andere Stämme oder Völker knechteten oder vernichteten, handelte es ſich um halb- oder ganz kriegeriſche, von Häuptlingen oder Königen geleitete Bewegungen, die ebenſo oft zum Untergang der Wanderer als zu dem der von ihnen Bedrohten führten; alle dieſe Wanderungen haben durch Hunger, Krankheit und Mißgeſchick aller Art ebenſo wie durch Kämpfe einen entſetzlichen Menſchen- verbrauch herbeigeführt, aber daneben die kräftigſten Völker zur Herrſchaft und zum Gedeihen in den für ſie paſſendſten Gebieten gebracht.
β) Die ſeßhaft gewordenen Völker verlieren die Wanderungs-, Eroberungs- und Expanſionsfähigkeit in dem Maße, als die friedliche Ackerbaukultur ihnen gelingt, als ſie einen im Werte ſteigenden Haus-, Acker-, Garten- und Baumbeſitz haben, als ſtarke Nachbarn ſie umgeben. Einzelne ſpinnen ſich raſch in philiſterhafte Ruhe und in ein behagliches örtliches Wirtſchaftsleben ein; andere behalten wenigſtens die Kraft, die ihnen zugefallenen leeren Räume zu beſiedeln, die Waldungen zu roden und ſo die Möglichkeit der Exiſtenz für eine wachſende Nachkommenſchaft zu ſchaffen. Wo Schiff- fahrt und Handel blühen, oder kriegeriſcher Eroberungsgeiſt im Volke oder in einer herrſchenden Klaſſe ſich erhält, da kann freilich lange auch bei im übrigen friedlich
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 12
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Der Neumalthuſianismus. Die älteren Wanderungen.
Die Wanderungen der Menſchen zerfallen in drei klar ſich ſcheidende Epochen:
α) die roheren Naturvölker haben meiſt zum Boden noch kein feſtes Verhältnis, ſie
wandern häufig und geſchloſſen in Stämmen; β) die ſeßhaft gewordenen Völker ver-
lieren die Wanderluſt und -Fähigkeit zu einem erheblichen Teile, nur teilweiſe über ſie
ſie noch in der Form von Eroberung und Koloniſation aus; γ) die heutigen Kultur-
völker haben ſich erſt auf Grund der modernen Verkehrsmittel und des modernen
Völkerrechts zu einer ſteigenden Einzelaus- und -Einwanderung erhoben und haben
zugleich die Ausdehnung über die ganze Erde wieder als Koloniſatoren in großem Stile
aufgenommen.
α) Auch die roheſten Stämme haben da und dort unter günſtigen Bedingungen
an derſelben Stelle durch Generationen hindurch ſich aufgehalten. Aber ſo lange kein
Hausbeſitz von Wert, keine wertvoll gewordenen Acker-, Garten-, Wege- und Brunnen-
einrichtungen ſie feſſeln, laſſen ſie ſich leicht von Feinden weiter drängen, verlaſſen ſie
erſchöpfte Jagd-, Weide- und Ackergründe leicht, um beſſere zu ſuchen; ſie bedürfen
großer Flächen; kleine Zunahme treibt die Stämme oder Teile derſelben weiter; Beute-
luſt, Abenteurerſinn, dunkle Hoffnungen auf beſſere Exiſtenz wirken mit. Auch der
Herdenbeſitz und der primitive Ackerbau haben Jahrtauſende lang die Wanderungen
wohl etwas erſchwert, aber nicht verhindert. Die Indogermanen ſind von Mittelaſien
über ganz Europa, die Mongolen über Europa, Aſien und Amerika, die Malaien von
Madagaskar über Südaſien bis in die fernſten Inſeln des ſtillen Ozeans gewandert.
Faſt alle antike und die ältere mittelalterliche Staatenbildung knüpft an die Wande-
rungen der Kulturraſſen an. Auch die ſeit Jahrzehnten ſeßhaft gewordenen Völker
ſind leicht immer wieder ganz oder teilweiſe in Bewegung gekommen, wie wir in der
Völkerwanderung ſehen. Die Indogermanen hatten, wie Ihering an der Inſtitution
des ver sacrum der Römer nachzuweiſen ſucht, den an die Wanderſitte und Marſch-
organiſation der Halbnomaden ſich anſchließenden Brauch ausgebildet, zu beſtimmter
Zeit, wenn ihrer zu viele wurden, eine Auswahl junger Männer und Weiber, mit
Führern, Waffen und Vieh vom Hauptſtamme ausgeſtattet, hinauszuſenden, um ſich
eine neue Exiſtenz zu gründen. Ein Nachklang dieſer älteſten Wanderungen der Stämme
oder Stammesteile iſt es, wenn in den großen Eroberungsreichen des Orients eine
barbariſche Königsmacht ganze Stämme oder ihre Ariſtokratien und oberen Schichten zu
Tauſenden in ganz entfernte Landſchaften verſetzte, um ſo den nationalen Geiſt und
die Stammesorganiſation zu brechen. Und Ähnliches wiederholt ſich ſpäter in den ver-
ſchiedenſten Teilen der Erde von Karl d. Gr. bis in die centralamerikaniſchen Reiche
des 15.—16. Jahrhunderts.
Bei allen dieſen älteren Stammes- und Völkerbewegungen, wobei Hunderte und
Tauſende gemeinſam mit Weib und Kind, mit Hab und Gut, mit Vieh und Wagen
ſich kämpfend in Bewegung ſetzten, teils in leere Gebiete eindrangen, teils erobernd oder
geduldet in ſchon beſiedelte Länder vordrangen, andere Stämme oder Völker knechteten
oder vernichteten, handelte es ſich um halb- oder ganz kriegeriſche, von Häuptlingen
oder Königen geleitete Bewegungen, die ebenſo oft zum Untergang der Wanderer als
zu dem der von ihnen Bedrohten führten; alle dieſe Wanderungen haben durch Hunger,
Krankheit und Mißgeſchick aller Art ebenſo wie durch Kämpfe einen entſetzlichen Menſchen-
verbrauch herbeigeführt, aber daneben die kräftigſten Völker zur Herrſchaft und zum
Gedeihen in den für ſie paſſendſten Gebieten gebracht.
β) Die ſeßhaft gewordenen Völker verlieren die Wanderungs-, Eroberungs- und
Expanſionsfähigkeit in dem Maße, als die friedliche Ackerbaukultur ihnen gelingt, als
ſie einen im Werte ſteigenden Haus-, Acker-, Garten- und Baumbeſitz haben, als ſtarke
Nachbarn ſie umgeben. Einzelne ſpinnen ſich raſch in philiſterhafte Ruhe und in ein
behagliches örtliches Wirtſchaftsleben ein; andere behalten wenigſtens die Kraft, die
ihnen zugefallenen leeren Räume zu beſiedeln, die Waldungen zu roden und ſo die
Möglichkeit der Exiſtenz für eine wachſende Nachkommenſchaft zu ſchaffen. Wo Schiff-
fahrt und Handel blühen, oder kriegeriſcher Eroberungsgeiſt im Volke oder in einer
herrſchenden Klaſſe ſich erhält, da kann freilich lange auch bei im übrigen friedlich
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 12
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/193>, abgerufen am 19.04.2024.
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