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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Der Begriff der Volkswirtschaft.
Lebens der ganzen Erde stellen wir uns, nachdem wir diesen Begriff gebildet, als eine
Summe geographisch nebeneinander stehender und historisch einander folgender Volks-
wirtschaften vor. Die Summe der heute einander berührenden, in gegenseitige Abhängig-
keit von einander gekommenen Volkswirtschaften nennen wir die Weltwirtschaft.

Man hat gesagt, der Begriff der Volkswirtschaft sei nur ein Sammelbegriff, eine
Abkürzung für eine gewisse Summe von Einzelwirtschaften, es fehle ja die einheitliche,
centralistische Leitung, es seien immer die einzelnen Individuen, die wirtschafteten. Als
ob im menschlichen Körper nicht auch die einzelnen Zellen die aktiv thätigen Elemente
wären und unzählige Vorgänge in ihm sich abspielten, ohne daß ein Bewußtsein hiervon
im Centralorgan vorhanden wäre. Uns ist die Volkswirtschaft ein reales Ganzes, d. h.
eine verbundene Gesamtheit, in welcher die Teile in lebendiger Wechselwirkung stehen
und in welchem das Ganze als solches nachweisbare Wirkungen hat; eine Gesamtheit,
welche trotz ewigen Wechsels in den Teilen, in ihrer Wesenheit, in ihren individuellen
Grundzügen für Jahre und Jahrzehnte dieselbe bleibt, welche, soweit sie sich ändert,
sich uns als ein sich entwickelnder Körper darstellt. Niemals werden tausende von
Einzelwirtschaften, die verschiedenen Staaten angehören, als "eine Volkswirtschaft" vor-
gestellt und zusammengefaßt. Nur wo Menschen derselben Rasse und derselben Sprache,
verbunden durch einheitliche Gefühle und Ideen, Sitten und Rechtsregeln, zugleich ein-
heitliche nationale Wirtschaftsinstitutionen haben und durch ein einheitliches Verkehrs-
system und einen lebendigen Tauschverkehr verknüpft sind, sprechen wir von einer Volks-
wirtschaft. Die älteren Zeiten kannten wohl größere Staaten, d. h. politisch-militärische
Zusammenfassungen von zahlreichen Stämmen und Stadtbezirken; erst die neuere
Entwickelung hat Volkswirtschaften in unserm Sinne erzeugt, und deshalb konnte dieser
Begriff erst im Laufe der letzten drei Jahrhunderte sich bilden.

Indem die Volkswirtschaft sich als ein relativ selbständiges System von Ein-
richtungen, Vorgängen und Strebungen entwickelte, indem die wirtschaftlichen Interessen
zu selbständiger Vertretung in gewissen besonderen gesellschaftlichen Organen gelangten,
wurde das volkswirtschaftliche Leben für die Vorstellungen der Menschen ein begrifflich
von Staat und Recht, Kirche und Familienleben, Kunst und Technik getrenntes Gebiet.
Freilich vollzog sich die Trennung mehr in den Gedanken der Menschen als in der
Wirklichkeit. Denn die wirtschaftenden Personen blieben nach wie vor Bürger und
Unterthanen des Staates, Glieder der Familien, der Kirchen, der socialen Klassen, sie
handelten auch wirtschaftlich nach wie vor in der Regel unter dem Impuls aller der
Gefühle und Triebe, der Vorstellungen und Ideen, welche ihrer Zeit und Rasse, ihrer
Gesittung und Bildung überhaupt entsprachen. Freilich konnte unter der Einwirkung
der entwickelteren volkswirtschaftlichen Interessen das ganze Triebleben und die ganze
Moral, zumal in bestimmten Kreisen, sich ändern. Aber immer blieben diese veränderten
psychischen Elemente Teile des einheitlichen Volksgeistes, wie ein großer Teil der wirt-
schaftlichen Organe zugleich solche für andere Zwecke blieb, wie der Staat nicht auf-
hörte, das Centralorgan für die verschiedensten Zwecke zu sein.

Die Volkswirtschaft ist so ein Teilinhalt des gesellschaftlichen Lebens; auf natürlich-
technischem Boden erwachsen, ist ihr eigentliches Princip die gesellschaftliche Gestaltung
der wirtschaftlichen Vorgänge. Auch das Technische, die wirtschaftlichen Bedürfnisse, die
Gepflogenheiten des Ackerbaues, des Gewerbfleißes, des Handels erscheinen der volks-
wirtschaftlichen Betrachtung als Züge gewisser Klassen oder des gemeinsamen Volkstums
oder bestimmter Völkergruppen. Die gesellschaftlichen Beziehungen und Zusammenhänge
des Wirtschaftslebens wollen wir erfassen, wenn wir die Volkswirtschaft studieren. Daher
konnten zeitweise die Wert-, Preis-, Geld-, Kredit- und Handelserscheinungen als der
Kern der volkswirtschaftlichen Fragen erscheinen. Daher fragen wir, wenn wir die
konkreten Züge einer einzelnen Volkswirtschaft erkunden wollen, zwar zuerst nach Größe,
Lage und Klima des Landes, nach seinen Naturschätzen und seinen natürlichen Verkehrs-
mitteln, aber wichtiger ist uns doch, gleich zu erfahren, wie das Volk diese natürlichen
Gaben nutze, durch Veranstaltungen einträglich mache; wir wollen wissen, wie groß
und dicht die Bevölkerung und die vorhandene Kapitalmenge sei, noch mehr, wie diese

Der Begriff der Volkswirtſchaft.
Lebens der ganzen Erde ſtellen wir uns, nachdem wir dieſen Begriff gebildet, als eine
Summe geographiſch nebeneinander ſtehender und hiſtoriſch einander folgender Volks-
wirtſchaften vor. Die Summe der heute einander berührenden, in gegenſeitige Abhängig-
keit von einander gekommenen Volkswirtſchaften nennen wir die Weltwirtſchaft.

Man hat geſagt, der Begriff der Volkswirtſchaft ſei nur ein Sammelbegriff, eine
Abkürzung für eine gewiſſe Summe von Einzelwirtſchaften, es fehle ja die einheitliche,
centraliſtiſche Leitung, es ſeien immer die einzelnen Individuen, die wirtſchafteten. Als
ob im menſchlichen Körper nicht auch die einzelnen Zellen die aktiv thätigen Elemente
wären und unzählige Vorgänge in ihm ſich abſpielten, ohne daß ein Bewußtſein hiervon
im Centralorgan vorhanden wäre. Uns iſt die Volkswirtſchaft ein reales Ganzes, d. h.
eine verbundene Geſamtheit, in welcher die Teile in lebendiger Wechſelwirkung ſtehen
und in welchem das Ganze als ſolches nachweisbare Wirkungen hat; eine Geſamtheit,
welche trotz ewigen Wechſels in den Teilen, in ihrer Weſenheit, in ihren individuellen
Grundzügen für Jahre und Jahrzehnte dieſelbe bleibt, welche, ſoweit ſie ſich ändert,
ſich uns als ein ſich entwickelnder Körper darſtellt. Niemals werden tauſende von
Einzelwirtſchaften, die verſchiedenen Staaten angehören, als „eine Volkswirtſchaft“ vor-
geſtellt und zuſammengefaßt. Nur wo Menſchen derſelben Raſſe und derſelben Sprache,
verbunden durch einheitliche Gefühle und Ideen, Sitten und Rechtsregeln, zugleich ein-
heitliche nationale Wirtſchaftsinſtitutionen haben und durch ein einheitliches Verkehrs-
ſyſtem und einen lebendigen Tauſchverkehr verknüpft ſind, ſprechen wir von einer Volks-
wirtſchaft. Die älteren Zeiten kannten wohl größere Staaten, d. h. politiſch-militäriſche
Zuſammenfaſſungen von zahlreichen Stämmen und Stadtbezirken; erſt die neuere
Entwickelung hat Volkswirtſchaften in unſerm Sinne erzeugt, und deshalb konnte dieſer
Begriff erſt im Laufe der letzten drei Jahrhunderte ſich bilden.

Indem die Volkswirtſchaft ſich als ein relativ ſelbſtändiges Syſtem von Ein-
richtungen, Vorgängen und Strebungen entwickelte, indem die wirtſchaftlichen Intereſſen
zu ſelbſtändiger Vertretung in gewiſſen beſonderen geſellſchaftlichen Organen gelangten,
wurde das volkswirtſchaftliche Leben für die Vorſtellungen der Menſchen ein begrifflich
von Staat und Recht, Kirche und Familienleben, Kunſt und Technik getrenntes Gebiet.
Freilich vollzog ſich die Trennung mehr in den Gedanken der Menſchen als in der
Wirklichkeit. Denn die wirtſchaftenden Perſonen blieben nach wie vor Bürger und
Unterthanen des Staates, Glieder der Familien, der Kirchen, der ſocialen Klaſſen, ſie
handelten auch wirtſchaftlich nach wie vor in der Regel unter dem Impuls aller der
Gefühle und Triebe, der Vorſtellungen und Ideen, welche ihrer Zeit und Raſſe, ihrer
Geſittung und Bildung überhaupt entſprachen. Freilich konnte unter der Einwirkung
der entwickelteren volkswirtſchaftlichen Intereſſen das ganze Triebleben und die ganze
Moral, zumal in beſtimmten Kreiſen, ſich ändern. Aber immer blieben dieſe veränderten
pſychiſchen Elemente Teile des einheitlichen Volksgeiſtes, wie ein großer Teil der wirt-
ſchaftlichen Organe zugleich ſolche für andere Zwecke blieb, wie der Staat nicht auf-
hörte, das Centralorgan für die verſchiedenſten Zwecke zu ſein.

Die Volkswirtſchaft iſt ſo ein Teilinhalt des geſellſchaftlichen Lebens; auf natürlich-
techniſchem Boden erwachſen, iſt ihr eigentliches Princip die geſellſchaftliche Geſtaltung
der wirtſchaftlichen Vorgänge. Auch das Techniſche, die wirtſchaftlichen Bedürfniſſe, die
Gepflogenheiten des Ackerbaues, des Gewerbfleißes, des Handels erſcheinen der volks-
wirtſchaftlichen Betrachtung als Züge gewiſſer Klaſſen oder des gemeinſamen Volkstums
oder beſtimmter Völkergruppen. Die geſellſchaftlichen Beziehungen und Zuſammenhänge
des Wirtſchaftslebens wollen wir erfaſſen, wenn wir die Volkswirtſchaft ſtudieren. Daher
konnten zeitweiſe die Wert-, Preis-, Geld-, Kredit- und Handelserſcheinungen als der
Kern der volkswirtſchaftlichen Fragen erſcheinen. Daher fragen wir, wenn wir die
konkreten Züge einer einzelnen Volkswirtſchaft erkunden wollen, zwar zuerſt nach Größe,
Lage und Klima des Landes, nach ſeinen Naturſchätzen und ſeinen natürlichen Verkehrs-
mitteln, aber wichtiger iſt uns doch, gleich zu erfahren, wie das Volk dieſe natürlichen
Gaben nutze, durch Veranſtaltungen einträglich mache; wir wollen wiſſen, wie groß
und dicht die Bevölkerung und die vorhandene Kapitalmenge ſei, noch mehr, wie dieſe

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[5/0021] Der Begriff der Volkswirtſchaft. Lebens der ganzen Erde ſtellen wir uns, nachdem wir dieſen Begriff gebildet, als eine Summe geographiſch nebeneinander ſtehender und hiſtoriſch einander folgender Volks- wirtſchaften vor. Die Summe der heute einander berührenden, in gegenſeitige Abhängig- keit von einander gekommenen Volkswirtſchaften nennen wir die Weltwirtſchaft. Man hat geſagt, der Begriff der Volkswirtſchaft ſei nur ein Sammelbegriff, eine Abkürzung für eine gewiſſe Summe von Einzelwirtſchaften, es fehle ja die einheitliche, centraliſtiſche Leitung, es ſeien immer die einzelnen Individuen, die wirtſchafteten. Als ob im menſchlichen Körper nicht auch die einzelnen Zellen die aktiv thätigen Elemente wären und unzählige Vorgänge in ihm ſich abſpielten, ohne daß ein Bewußtſein hiervon im Centralorgan vorhanden wäre. Uns iſt die Volkswirtſchaft ein reales Ganzes, d. h. eine verbundene Geſamtheit, in welcher die Teile in lebendiger Wechſelwirkung ſtehen und in welchem das Ganze als ſolches nachweisbare Wirkungen hat; eine Geſamtheit, welche trotz ewigen Wechſels in den Teilen, in ihrer Weſenheit, in ihren individuellen Grundzügen für Jahre und Jahrzehnte dieſelbe bleibt, welche, ſoweit ſie ſich ändert, ſich uns als ein ſich entwickelnder Körper darſtellt. Niemals werden tauſende von Einzelwirtſchaften, die verſchiedenen Staaten angehören, als „eine Volkswirtſchaft“ vor- geſtellt und zuſammengefaßt. Nur wo Menſchen derſelben Raſſe und derſelben Sprache, verbunden durch einheitliche Gefühle und Ideen, Sitten und Rechtsregeln, zugleich ein- heitliche nationale Wirtſchaftsinſtitutionen haben und durch ein einheitliches Verkehrs- ſyſtem und einen lebendigen Tauſchverkehr verknüpft ſind, ſprechen wir von einer Volks- wirtſchaft. Die älteren Zeiten kannten wohl größere Staaten, d. h. politiſch-militäriſche Zuſammenfaſſungen von zahlreichen Stämmen und Stadtbezirken; erſt die neuere Entwickelung hat Volkswirtſchaften in unſerm Sinne erzeugt, und deshalb konnte dieſer Begriff erſt im Laufe der letzten drei Jahrhunderte ſich bilden. Indem die Volkswirtſchaft ſich als ein relativ ſelbſtändiges Syſtem von Ein- richtungen, Vorgängen und Strebungen entwickelte, indem die wirtſchaftlichen Intereſſen zu ſelbſtändiger Vertretung in gewiſſen beſonderen geſellſchaftlichen Organen gelangten, wurde das volkswirtſchaftliche Leben für die Vorſtellungen der Menſchen ein begrifflich von Staat und Recht, Kirche und Familienleben, Kunſt und Technik getrenntes Gebiet. Freilich vollzog ſich die Trennung mehr in den Gedanken der Menſchen als in der Wirklichkeit. Denn die wirtſchaftenden Perſonen blieben nach wie vor Bürger und Unterthanen des Staates, Glieder der Familien, der Kirchen, der ſocialen Klaſſen, ſie handelten auch wirtſchaftlich nach wie vor in der Regel unter dem Impuls aller der Gefühle und Triebe, der Vorſtellungen und Ideen, welche ihrer Zeit und Raſſe, ihrer Geſittung und Bildung überhaupt entſprachen. Freilich konnte unter der Einwirkung der entwickelteren volkswirtſchaftlichen Intereſſen das ganze Triebleben und die ganze Moral, zumal in beſtimmten Kreiſen, ſich ändern. Aber immer blieben dieſe veränderten pſychiſchen Elemente Teile des einheitlichen Volksgeiſtes, wie ein großer Teil der wirt- ſchaftlichen Organe zugleich ſolche für andere Zwecke blieb, wie der Staat nicht auf- hörte, das Centralorgan für die verſchiedenſten Zwecke zu ſein. Die Volkswirtſchaft iſt ſo ein Teilinhalt des geſellſchaftlichen Lebens; auf natürlich- techniſchem Boden erwachſen, iſt ihr eigentliches Princip die geſellſchaftliche Geſtaltung der wirtſchaftlichen Vorgänge. Auch das Techniſche, die wirtſchaftlichen Bedürfniſſe, die Gepflogenheiten des Ackerbaues, des Gewerbfleißes, des Handels erſcheinen der volks- wirtſchaftlichen Betrachtung als Züge gewiſſer Klaſſen oder des gemeinſamen Volkstums oder beſtimmter Völkergruppen. Die geſellſchaftlichen Beziehungen und Zuſammenhänge des Wirtſchaftslebens wollen wir erfaſſen, wenn wir die Volkswirtſchaft ſtudieren. Daher konnten zeitweiſe die Wert-, Preis-, Geld-, Kredit- und Handelserſcheinungen als der Kern der volkswirtſchaftlichen Fragen erſcheinen. Daher fragen wir, wenn wir die konkreten Züge einer einzelnen Volkswirtſchaft erkunden wollen, zwar zuerſt nach Größe, Lage und Klima des Landes, nach ſeinen Naturſchätzen und ſeinen natürlichen Verkehrs- mitteln, aber wichtiger iſt uns doch, gleich zu erfahren, wie das Volk dieſe natürlichen Gaben nutze, durch Veranſtaltungen einträglich mache; wir wollen wiſſen, wie groß und dicht die Bevölkerung und die vorhandene Kapitalmenge ſei, noch mehr, wie dieſe

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/21>, abgerufen am 19.04.2024.