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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Sippenverbände und ihre Verfassung.
willkürlich, ungerade, durch historische Schicksale bestimmt, meist aber eine gerade, häufig
trifft man 4, 8, 16, 32, 64 Gentes, so daß man an eine successive Teilung bei der
Stammesvergrößerung denkt und begreift, warum je 2 oder 4 Gentes sich besonders
verwandt (als Phratrie) fühlen, gewisse Namen und Heiligtümer gemeinsam haben. Die
Glieder der Sippe sind die Nachkommen einer Stammmutter (später eines Stammvaters)
oder betrachten sich als solche; Tätowierung, Blutsbrüderschaft und Ähnliches ersetzt bei
dieser Kulturstufe oft die Verwandtschaft, zumal wenn die Betreffenden geistig und
körperlich sich nahe stehen, durch Zusammenwohnen sich assimilieren. Die Zahl der einer
Sippe angehörigen erwachsenen und unerwachsenen Personen schwankt, soweit wir halb-
wegs brauchbare Zahlen haben feststellen können, zwischen 50 und 500 Seelen; es würde
also eine Gens letzterer Art etwa 100 waffenfähige Männer, etwa 200--250 erwachsene
Männer und Frauen im Alter zwischen 16--45 Jahren gehabt haben. Je mehr Zwecke
die Sippe in den Rahmen ihrer Verfassung aufnahm, desto mehr müssen die praktischen
Bedürfnisse der Vieh- oder Ackerwirtschaft, der Veteidigung und Wanderung, der Kriegs-
führung und der Siedlung bestimmend in die Größen- und Zahlenverhältnisse ein-
gegriffen haben. Desto mehr haben wir uns auch zu denken, daß absichtliche, planmäßige
Einteilung die Geschlechtsverbände ordnete, vergrößerte oder verkleinerte; sie gingen dann
freilich mehr und mehr in gemeindliche und staatliche Gebilde, gewillkürte Korporationen
über. Ich erinnere nur daran, daß über die Größe der germanischen Hundertschaft wie
über die der Mark- und Dorfgenossenschaft, deren Kern sicher geschlechterartig war, noch
immer der Streit hin- und herwogt. Meitzen sieht in der Markgenossenschaft eine
Viehweidegenossenschaft von 120 Familien, etwa 1000 Seelen.

Die Gens bildet ein Mittelding zwischen dem, was wir heute eine große Familie
und was wir eine Genossenschaft nennen; die uterine ist in sich nur in eine Anzahl
Muttergruppen nebst den diesen blutsverwandten Brüdern und Mutterbrüdern gegliedert,
die Vatersippe in eine entsprechende Zahl Familien. Das Wesentliche ist, daß alle
Gentilgenossen sich im ganzen wie Brüder und Schwestern behandeln, daß bei voll-
endeter Ausbildung der Institution innerhalb der uterinen Gens jede Liebesbeziehung
und jeder Geschlechtsverkehr teilweise bei den härtesten Strafen verboten war. Vielfach
steht die Todesstrafe auf jedem geschlechtlichen Verkehr innerhalb der Gens. Die Männer
einer uterinen Sippe haben ihre Geliebten oder Frauen in einer anderen Gens.

Die Gentilgenossen sämtlicher uns näher bekannten Stämme mit ausgebildeter
Sippenverfassung hatten gemeinsame Kulte, Heiligtümer und Begräbnisplätze, gemeinsame
Stammzeichen und Namen, bald nach Tieren, bald nach Orten und Ahnen; sie garan-
tierten sich Schutz, Frieden, Hülfe gegen jede Not und Gewalt. Wer den Gentilgenossen
schmähte, schlug, verwundete oder tötete, griff damit die Sippe an, wie diese umgekehrt
für jedes Unrecht eines der Ihrigen haftete. Das Unrecht des einzelnen führte zu Ver-
handlungen zwischen den Gentes; wenn sie sich nicht in Güte vertrugen, erfolgte die
Blutsrache der Sippen untereinander. Die spätere Aufbringung des Wergeldes durch
die sämtlichen Magen oder Genossen der germanischen Vatersippe, die Verteilung des
empfangenen Wergeldes ganz oder teilweise an sämtliche Magen, die spätere Eideshülfe
der Magen, das spätere Recht, den Genossen auszustoßen, für den die Sippe nicht haften
will, dies und vieles andere beweist, wie die Gens das Vorbild für alle Genossenschaft
ist, in welcher alle für einen und einer für alle stehen.

Die Gens hat gemeinsame Feste, Spiele und Tänze; wie auf der Festversammlung
des Stammes, bei den religiösen Aufführungen, so treten auf dem Schlachtfelde die
Glieder derselben geschlossen auf. Ihre kriegerische Kraft beruhte auf dem Schwure jedes
Genossen, dem anderen bis zum letzten Atemzuge beizustehen. Aber auch für wichtige
friedliche Geschäfte und Arbeiten hat sich da und dort eine Gemeinsamkeit oder ein
Reihedienst der Genossen ausgebildet, so sehr die Ernährung und Lebensfürsorge im
ganzen den einzelnen und den Muttergruppen überlassen bleibt. Wir finden Stämme,
in welchen die Sippengenossen Schiffe und Häuser gemeinsam bauen; einzelne haben
große Gentilhäuser für die Gens oder Teile derselben, die 40 bis 500 Personen auf-
nehmen können; die Jagdgründe sind häufig den Gentes zugeteilt; später haben sie viel-

Die Sippenverbände und ihre Verfaſſung.
willkürlich, ungerade, durch hiſtoriſche Schickſale beſtimmt, meiſt aber eine gerade, häufig
trifft man 4, 8, 16, 32, 64 Gentes, ſo daß man an eine ſucceſſive Teilung bei der
Stammesvergrößerung denkt und begreift, warum je 2 oder 4 Gentes ſich beſonders
verwandt (als Phratrie) fühlen, gewiſſe Namen und Heiligtümer gemeinſam haben. Die
Glieder der Sippe ſind die Nachkommen einer Stammmutter (ſpäter eines Stammvaters)
oder betrachten ſich als ſolche; Tätowierung, Blutsbrüderſchaft und Ähnliches erſetzt bei
dieſer Kulturſtufe oft die Verwandtſchaft, zumal wenn die Betreffenden geiſtig und
körperlich ſich nahe ſtehen, durch Zuſammenwohnen ſich aſſimilieren. Die Zahl der einer
Sippe angehörigen erwachſenen und unerwachſenen Perſonen ſchwankt, ſoweit wir halb-
wegs brauchbare Zahlen haben feſtſtellen können, zwiſchen 50 und 500 Seelen; es würde
alſo eine Gens letzterer Art etwa 100 waffenfähige Männer, etwa 200—250 erwachſene
Männer und Frauen im Alter zwiſchen 16—45 Jahren gehabt haben. Je mehr Zwecke
die Sippe in den Rahmen ihrer Verfaſſung aufnahm, deſto mehr müſſen die praktiſchen
Bedürfniſſe der Vieh- oder Ackerwirtſchaft, der Veteidigung und Wanderung, der Kriegs-
führung und der Siedlung beſtimmend in die Größen- und Zahlenverhältniſſe ein-
gegriffen haben. Deſto mehr haben wir uns auch zu denken, daß abſichtliche, planmäßige
Einteilung die Geſchlechtsverbände ordnete, vergrößerte oder verkleinerte; ſie gingen dann
freilich mehr und mehr in gemeindliche und ſtaatliche Gebilde, gewillkürte Korporationen
über. Ich erinnere nur daran, daß über die Größe der germaniſchen Hundertſchaft wie
über die der Mark- und Dorfgenoſſenſchaft, deren Kern ſicher geſchlechterartig war, noch
immer der Streit hin- und herwogt. Meitzen ſieht in der Markgenoſſenſchaft eine
Viehweidegenoſſenſchaft von 120 Familien, etwa 1000 Seelen.

Die Gens bildet ein Mittelding zwiſchen dem, was wir heute eine große Familie
und was wir eine Genoſſenſchaft nennen; die uterine iſt in ſich nur in eine Anzahl
Muttergruppen nebſt den dieſen blutsverwandten Brüdern und Mutterbrüdern gegliedert,
die Vaterſippe in eine entſprechende Zahl Familien. Das Weſentliche iſt, daß alle
Gentilgenoſſen ſich im ganzen wie Brüder und Schweſtern behandeln, daß bei voll-
endeter Ausbildung der Inſtitution innerhalb der uterinen Gens jede Liebesbeziehung
und jeder Geſchlechtsverkehr teilweiſe bei den härteſten Strafen verboten war. Vielfach
ſteht die Todesſtrafe auf jedem geſchlechtlichen Verkehr innerhalb der Gens. Die Männer
einer uterinen Sippe haben ihre Geliebten oder Frauen in einer anderen Gens.

Die Gentilgenoſſen ſämtlicher uns näher bekannten Stämme mit ausgebildeter
Sippenverfaſſung hatten gemeinſame Kulte, Heiligtümer und Begräbnisplätze, gemeinſame
Stammzeichen und Namen, bald nach Tieren, bald nach Orten und Ahnen; ſie garan-
tierten ſich Schutz, Frieden, Hülfe gegen jede Not und Gewalt. Wer den Gentilgenoſſen
ſchmähte, ſchlug, verwundete oder tötete, griff damit die Sippe an, wie dieſe umgekehrt
für jedes Unrecht eines der Ihrigen haftete. Das Unrecht des einzelnen führte zu Ver-
handlungen zwiſchen den Gentes; wenn ſie ſich nicht in Güte vertrugen, erfolgte die
Blutsrache der Sippen untereinander. Die ſpätere Aufbringung des Wergeldes durch
die ſämtlichen Magen oder Genoſſen der germaniſchen Vaterſippe, die Verteilung des
empfangenen Wergeldes ganz oder teilweiſe an ſämtliche Magen, die ſpätere Eideshülfe
der Magen, das ſpätere Recht, den Genoſſen auszuſtoßen, für den die Sippe nicht haften
will, dies und vieles andere beweiſt, wie die Gens das Vorbild für alle Genoſſenſchaft
iſt, in welcher alle für einen und einer für alle ſtehen.

Die Gens hat gemeinſame Feſte, Spiele und Tänze; wie auf der Feſtverſammlung
des Stammes, bei den religiöſen Aufführungen, ſo treten auf dem Schlachtfelde die
Glieder derſelben geſchloſſen auf. Ihre kriegeriſche Kraft beruhte auf dem Schwure jedes
Genoſſen, dem anderen bis zum letzten Atemzuge beizuſtehen. Aber auch für wichtige
friedliche Geſchäfte und Arbeiten hat ſich da und dort eine Gemeinſamkeit oder ein
Reihedienſt der Genoſſen ausgebildet, ſo ſehr die Ernährung und Lebensfürſorge im
ganzen den einzelnen und den Muttergruppen überlaſſen bleibt. Wir finden Stämme,
in welchen die Sippengenoſſen Schiffe und Häuſer gemeinſam bauen; einzelne haben
große Gentilhäuſer für die Gens oder Teile derſelben, die 40 bis 500 Perſonen auf-
nehmen können; die Jagdgründe ſind häufig den Gentes zugeteilt; ſpäter haben ſie viel-

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[237/0253] Die Sippenverbände und ihre Verfaſſung. willkürlich, ungerade, durch hiſtoriſche Schickſale beſtimmt, meiſt aber eine gerade, häufig trifft man 4, 8, 16, 32, 64 Gentes, ſo daß man an eine ſucceſſive Teilung bei der Stammesvergrößerung denkt und begreift, warum je 2 oder 4 Gentes ſich beſonders verwandt (als Phratrie) fühlen, gewiſſe Namen und Heiligtümer gemeinſam haben. Die Glieder der Sippe ſind die Nachkommen einer Stammmutter (ſpäter eines Stammvaters) oder betrachten ſich als ſolche; Tätowierung, Blutsbrüderſchaft und Ähnliches erſetzt bei dieſer Kulturſtufe oft die Verwandtſchaft, zumal wenn die Betreffenden geiſtig und körperlich ſich nahe ſtehen, durch Zuſammenwohnen ſich aſſimilieren. Die Zahl der einer Sippe angehörigen erwachſenen und unerwachſenen Perſonen ſchwankt, ſoweit wir halb- wegs brauchbare Zahlen haben feſtſtellen können, zwiſchen 50 und 500 Seelen; es würde alſo eine Gens letzterer Art etwa 100 waffenfähige Männer, etwa 200—250 erwachſene Männer und Frauen im Alter zwiſchen 16—45 Jahren gehabt haben. Je mehr Zwecke die Sippe in den Rahmen ihrer Verfaſſung aufnahm, deſto mehr müſſen die praktiſchen Bedürfniſſe der Vieh- oder Ackerwirtſchaft, der Veteidigung und Wanderung, der Kriegs- führung und der Siedlung beſtimmend in die Größen- und Zahlenverhältniſſe ein- gegriffen haben. Deſto mehr haben wir uns auch zu denken, daß abſichtliche, planmäßige Einteilung die Geſchlechtsverbände ordnete, vergrößerte oder verkleinerte; ſie gingen dann freilich mehr und mehr in gemeindliche und ſtaatliche Gebilde, gewillkürte Korporationen über. Ich erinnere nur daran, daß über die Größe der germaniſchen Hundertſchaft wie über die der Mark- und Dorfgenoſſenſchaft, deren Kern ſicher geſchlechterartig war, noch immer der Streit hin- und herwogt. Meitzen ſieht in der Markgenoſſenſchaft eine Viehweidegenoſſenſchaft von 120 Familien, etwa 1000 Seelen. Die Gens bildet ein Mittelding zwiſchen dem, was wir heute eine große Familie und was wir eine Genoſſenſchaft nennen; die uterine iſt in ſich nur in eine Anzahl Muttergruppen nebſt den dieſen blutsverwandten Brüdern und Mutterbrüdern gegliedert, die Vaterſippe in eine entſprechende Zahl Familien. Das Weſentliche iſt, daß alle Gentilgenoſſen ſich im ganzen wie Brüder und Schweſtern behandeln, daß bei voll- endeter Ausbildung der Inſtitution innerhalb der uterinen Gens jede Liebesbeziehung und jeder Geſchlechtsverkehr teilweiſe bei den härteſten Strafen verboten war. Vielfach ſteht die Todesſtrafe auf jedem geſchlechtlichen Verkehr innerhalb der Gens. Die Männer einer uterinen Sippe haben ihre Geliebten oder Frauen in einer anderen Gens. Die Gentilgenoſſen ſämtlicher uns näher bekannten Stämme mit ausgebildeter Sippenverfaſſung hatten gemeinſame Kulte, Heiligtümer und Begräbnisplätze, gemeinſame Stammzeichen und Namen, bald nach Tieren, bald nach Orten und Ahnen; ſie garan- tierten ſich Schutz, Frieden, Hülfe gegen jede Not und Gewalt. Wer den Gentilgenoſſen ſchmähte, ſchlug, verwundete oder tötete, griff damit die Sippe an, wie dieſe umgekehrt für jedes Unrecht eines der Ihrigen haftete. Das Unrecht des einzelnen führte zu Ver- handlungen zwiſchen den Gentes; wenn ſie ſich nicht in Güte vertrugen, erfolgte die Blutsrache der Sippen untereinander. Die ſpätere Aufbringung des Wergeldes durch die ſämtlichen Magen oder Genoſſen der germaniſchen Vaterſippe, die Verteilung des empfangenen Wergeldes ganz oder teilweiſe an ſämtliche Magen, die ſpätere Eideshülfe der Magen, das ſpätere Recht, den Genoſſen auszuſtoßen, für den die Sippe nicht haften will, dies und vieles andere beweiſt, wie die Gens das Vorbild für alle Genoſſenſchaft iſt, in welcher alle für einen und einer für alle ſtehen. Die Gens hat gemeinſame Feſte, Spiele und Tänze; wie auf der Feſtverſammlung des Stammes, bei den religiöſen Aufführungen, ſo treten auf dem Schlachtfelde die Glieder derſelben geſchloſſen auf. Ihre kriegeriſche Kraft beruhte auf dem Schwure jedes Genoſſen, dem anderen bis zum letzten Atemzuge beizuſtehen. Aber auch für wichtige friedliche Geſchäfte und Arbeiten hat ſich da und dort eine Gemeinſamkeit oder ein Reihedienſt der Genoſſen ausgebildet, ſo ſehr die Ernährung und Lebensfürſorge im ganzen den einzelnen und den Muttergruppen überlaſſen bleibt. Wir finden Stämme, in welchen die Sippengenoſſen Schiffe und Häuſer gemeinſam bauen; einzelne haben große Gentilhäuſer für die Gens oder Teile derſelben, die 40 bis 500 Perſonen auf- nehmen können; die Jagdgründe ſind häufig den Gentes zugeteilt; ſpäter haben ſie viel-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/253>, abgerufen am 29.03.2024.