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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Sprache als Vergesellschaftungsmittel.
giebt es, und desto rascher bilden sie sich selbst um. Die unstete Lebensweise wandernder
Jägerstämme erlaubt nicht das stete und scharfe Festhalten derselben Lautzeichen. Die
Urenkel verstehen die Urgroßväter nicht mehr; jeder sich absplitternde Teil hat bald eine
eigene Sprache. Wenn es jetzt gegen 3000 Sprachen auf der Erde geben soll, so
kommen davon auf das kultivierte Europa nur 53. Je größer die Gemeinwesen werden,
desto größere Sprachgebiete mit um so ausgebildeterer Sprache entstehen.

Der begabtere Stamm hält das Werkzeug der Gedanken fester; die komplizierteren
Kulturvorgänge, die festere Gliederung der Gesellschaft, die Vergrößerung des Stammes
und Staates befestigen die Sprache und breiten sie aus. Das Bedürfnis, durch deut-
liche, klare Sprache sich einem immer größeren Kreis Verschiedenartiger deutlich zu
machen, wird von den Herrschenden, wie von den Tauschenden empfunden. Einzelne
größere Sprachen sind wesentlich mit durch den Verkehr in den Grenzgebieten, wo aus-
gleichender Güteraustausch herrschte, entstanden. Die Ausbildung der Sprache ist ein
stündlich und täglich sich erneuernder Vertrag aller mit allen, welche sie reden. Im
Sprachschatz sammelt sich das Anschauen, Vorstellen und Denken aller vorangegangenen
Geschlechter. Sie ist die symbolische Kapitalisierung der geistigen Arbeit eines Volkes.
Sie ist das Instrument der geistigen Erziehung für die heranwachsende Generation.

Die Sprache -- sagt Herbart -- ist es, welche das eigentliche Band der mensch-
lichen Gesellschaft knüpft. "Denn vermittelst des Wortes, der Rede geht der Gedanke
und das Gefühl hinüber in den Geist des anderen. Dort wirkt er neue Gefühle und
Gedanken, welche sogleich über die nämliche Brücke wandern, um die Vorstellungen des
ersteren zu bereichern. Auf diese Weise geschieht es, daß der allermindeste Teil unserer
Gedanken aus uns entspringt, vielmehr wir alle gleichsam aus einem öffentlichen Vorrat
schöpfen und an einer allgemeinen Gedankenerzeugung teilnehmen, zu welcher jeder
einzelne nur einen verhältnismäßig geringen Beitrag liefern kann. Aber nicht bloß die
Summe des geistigen Lebens, sofern sie im Denken besteht, ist ursprünglich Gemeingut,
sondern auch der Wille des Menschen, der sich nach Gedanken richtet. Die Ent-
schließungen, die wir fassen, indem wir auf das, was andere wollen, Rücksicht nehmen,
geben deutlich zu erkennen, daß unsere geistige Existenz ursprünglich gesellschaftlicher
Natur ist. Unser Privatleben ist nur aus dem allgemeinen Leben abgesondert, in
welchem es seine Entstehung, seine Hülfsmittel, seine Bedingungen, seine Richtschnur
findet und immer wieder finden wird."

Die historische Ausbildung der großen Kultursprachen, ihre Fixierung durch die
Schrift, die siegreiche Herrschaft eines Dialekts über die anderen, die räumliche Aus-
breitung der großen Sprachen stellt den Prozeß des geistigen Werdens der Volksseele,
des Volkscharakters dar. Wie man das germanische Accentgesetz, nach welchem im ein-
fachen Wort die Wurzelsilbe den Hauptton trägt, in Zusammenhang brachte mit den
Charakterzügen unseres Volkes, aus welchen auch sein Heldengesang, seine Heldenideale,
sein geistiges Wesen bis auf unsere Tage entsprang, wie man aus den gesamten Sprach-
denkmälern unseres Volkes ein System der nationalen Ethik hat aufbauen wollen
(W. Scherer), so giebt es auch für die anderen Kulturvölker und ihr innerstes Wesen
keine anderen, besseren Schlüssel der Erkenntnis als ihre Sprache und ihre Sprach-
denkmäler.

Die Berührung der Stämme und Völker untereinander aber von den ersten An-
fängen des Tauschverkehrs bis zum heutigen Welthandelssystem beruht auf der Mehr-
sprachigkeit der Händler, der Gebildeten, der Regierenden, auf der Herrschaft von Welt-
sprachen, wie sie einst das Griechische und Lateinische waren, dann das Französische und
Englische wurden. Die Wirkung der nationalen Kulturen aufeinander, die Überlieferung
der geistigen Schätze vergangener Völker auf die späteren, die zunehmende Übereinstimmung
aller gesellschaftlichen Einrichtungen der verschiedenen Völker ruhen auf derselben Grund-
lage. Das Ideal einer letzten fernen Zukunft wäre die einheitliche Weltsprache.

6. Die Schrift ist es, welche gleichsam als potenzierte Sprache erst alle die
tiefergreifenden Wirkungen derselben erzeugt hat.

Die Sprache als Vergeſellſchaftungsmittel.
giebt es, und deſto raſcher bilden ſie ſich ſelbſt um. Die unſtete Lebensweiſe wandernder
Jägerſtämme erlaubt nicht das ſtete und ſcharfe Feſthalten derſelben Lautzeichen. Die
Urenkel verſtehen die Urgroßväter nicht mehr; jeder ſich abſplitternde Teil hat bald eine
eigene Sprache. Wenn es jetzt gegen 3000 Sprachen auf der Erde geben ſoll, ſo
kommen davon auf das kultivierte Europa nur 53. Je größer die Gemeinweſen werden,
deſto größere Sprachgebiete mit um ſo ausgebildeterer Sprache entſtehen.

Der begabtere Stamm hält das Werkzeug der Gedanken feſter; die komplizierteren
Kulturvorgänge, die feſtere Gliederung der Geſellſchaft, die Vergrößerung des Stammes
und Staates befeſtigen die Sprache und breiten ſie aus. Das Bedürfnis, durch deut-
liche, klare Sprache ſich einem immer größeren Kreis Verſchiedenartiger deutlich zu
machen, wird von den Herrſchenden, wie von den Tauſchenden empfunden. Einzelne
größere Sprachen ſind weſentlich mit durch den Verkehr in den Grenzgebieten, wo aus-
gleichender Güteraustauſch herrſchte, entſtanden. Die Ausbildung der Sprache iſt ein
ſtündlich und täglich ſich erneuernder Vertrag aller mit allen, welche ſie reden. Im
Sprachſchatz ſammelt ſich das Anſchauen, Vorſtellen und Denken aller vorangegangenen
Geſchlechter. Sie iſt die ſymboliſche Kapitaliſierung der geiſtigen Arbeit eines Volkes.
Sie iſt das Inſtrument der geiſtigen Erziehung für die heranwachſende Generation.

Die Sprache — ſagt Herbart — iſt es, welche das eigentliche Band der menſch-
lichen Geſellſchaft knüpft. „Denn vermittelſt des Wortes, der Rede geht der Gedanke
und das Gefühl hinüber in den Geiſt des anderen. Dort wirkt er neue Gefühle und
Gedanken, welche ſogleich über die nämliche Brücke wandern, um die Vorſtellungen des
erſteren zu bereichern. Auf dieſe Weiſe geſchieht es, daß der allermindeſte Teil unſerer
Gedanken aus uns entſpringt, vielmehr wir alle gleichſam aus einem öffentlichen Vorrat
ſchöpfen und an einer allgemeinen Gedankenerzeugung teilnehmen, zu welcher jeder
einzelne nur einen verhältnismäßig geringen Beitrag liefern kann. Aber nicht bloß die
Summe des geiſtigen Lebens, ſofern ſie im Denken beſteht, iſt urſprünglich Gemeingut,
ſondern auch der Wille des Menſchen, der ſich nach Gedanken richtet. Die Ent-
ſchließungen, die wir faſſen, indem wir auf das, was andere wollen, Rückſicht nehmen,
geben deutlich zu erkennen, daß unſere geiſtige Exiſtenz urſprünglich geſellſchaftlicher
Natur iſt. Unſer Privatleben iſt nur aus dem allgemeinen Leben abgeſondert, in
welchem es ſeine Entſtehung, ſeine Hülfsmittel, ſeine Bedingungen, ſeine Richtſchnur
findet und immer wieder finden wird.“

Die hiſtoriſche Ausbildung der großen Kulturſprachen, ihre Fixierung durch die
Schrift, die ſiegreiche Herrſchaft eines Dialekts über die anderen, die räumliche Aus-
breitung der großen Sprachen ſtellt den Prozeß des geiſtigen Werdens der Volksſeele,
des Volkscharakters dar. Wie man das germaniſche Accentgeſetz, nach welchem im ein-
fachen Wort die Wurzelſilbe den Hauptton trägt, in Zuſammenhang brachte mit den
Charakterzügen unſeres Volkes, aus welchen auch ſein Heldengeſang, ſeine Heldenideale,
ſein geiſtiges Weſen bis auf unſere Tage entſprang, wie man aus den geſamten Sprach-
denkmälern unſeres Volkes ein Syſtem der nationalen Ethik hat aufbauen wollen
(W. Scherer), ſo giebt es auch für die anderen Kulturvölker und ihr innerſtes Weſen
keine anderen, beſſeren Schlüſſel der Erkenntnis als ihre Sprache und ihre Sprach-
denkmäler.

Die Berührung der Stämme und Völker untereinander aber von den erſten An-
fängen des Tauſchverkehrs bis zum heutigen Welthandelsſyſtem beruht auf der Mehr-
ſprachigkeit der Händler, der Gebildeten, der Regierenden, auf der Herrſchaft von Welt-
ſprachen, wie ſie einſt das Griechiſche und Lateiniſche waren, dann das Franzöſiſche und
Engliſche wurden. Die Wirkung der nationalen Kulturen aufeinander, die Überlieferung
der geiſtigen Schätze vergangener Völker auf die ſpäteren, die zunehmende Übereinſtimmung
aller geſellſchaftlichen Einrichtungen der verſchiedenen Völker ruhen auf derſelben Grund-
lage. Das Ideal einer letzten fernen Zukunft wäre die einheitliche Weltſprache.

6. Die Schrift iſt es, welche gleichſam als potenzierte Sprache erſt alle die
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[11/0027] Die Sprache als Vergeſellſchaftungsmittel. giebt es, und deſto raſcher bilden ſie ſich ſelbſt um. Die unſtete Lebensweiſe wandernder Jägerſtämme erlaubt nicht das ſtete und ſcharfe Feſthalten derſelben Lautzeichen. Die Urenkel verſtehen die Urgroßväter nicht mehr; jeder ſich abſplitternde Teil hat bald eine eigene Sprache. Wenn es jetzt gegen 3000 Sprachen auf der Erde geben ſoll, ſo kommen davon auf das kultivierte Europa nur 53. Je größer die Gemeinweſen werden, deſto größere Sprachgebiete mit um ſo ausgebildeterer Sprache entſtehen. Der begabtere Stamm hält das Werkzeug der Gedanken feſter; die komplizierteren Kulturvorgänge, die feſtere Gliederung der Geſellſchaft, die Vergrößerung des Stammes und Staates befeſtigen die Sprache und breiten ſie aus. Das Bedürfnis, durch deut- liche, klare Sprache ſich einem immer größeren Kreis Verſchiedenartiger deutlich zu machen, wird von den Herrſchenden, wie von den Tauſchenden empfunden. Einzelne größere Sprachen ſind weſentlich mit durch den Verkehr in den Grenzgebieten, wo aus- gleichender Güteraustauſch herrſchte, entſtanden. Die Ausbildung der Sprache iſt ein ſtündlich und täglich ſich erneuernder Vertrag aller mit allen, welche ſie reden. Im Sprachſchatz ſammelt ſich das Anſchauen, Vorſtellen und Denken aller vorangegangenen Geſchlechter. Sie iſt die ſymboliſche Kapitaliſierung der geiſtigen Arbeit eines Volkes. Sie iſt das Inſtrument der geiſtigen Erziehung für die heranwachſende Generation. Die Sprache — ſagt Herbart — iſt es, welche das eigentliche Band der menſch- lichen Geſellſchaft knüpft. „Denn vermittelſt des Wortes, der Rede geht der Gedanke und das Gefühl hinüber in den Geiſt des anderen. Dort wirkt er neue Gefühle und Gedanken, welche ſogleich über die nämliche Brücke wandern, um die Vorſtellungen des erſteren zu bereichern. Auf dieſe Weiſe geſchieht es, daß der allermindeſte Teil unſerer Gedanken aus uns entſpringt, vielmehr wir alle gleichſam aus einem öffentlichen Vorrat ſchöpfen und an einer allgemeinen Gedankenerzeugung teilnehmen, zu welcher jeder einzelne nur einen verhältnismäßig geringen Beitrag liefern kann. Aber nicht bloß die Summe des geiſtigen Lebens, ſofern ſie im Denken beſteht, iſt urſprünglich Gemeingut, ſondern auch der Wille des Menſchen, der ſich nach Gedanken richtet. Die Ent- ſchließungen, die wir faſſen, indem wir auf das, was andere wollen, Rückſicht nehmen, geben deutlich zu erkennen, daß unſere geiſtige Exiſtenz urſprünglich geſellſchaftlicher Natur iſt. Unſer Privatleben iſt nur aus dem allgemeinen Leben abgeſondert, in welchem es ſeine Entſtehung, ſeine Hülfsmittel, ſeine Bedingungen, ſeine Richtſchnur findet und immer wieder finden wird.“ Die hiſtoriſche Ausbildung der großen Kulturſprachen, ihre Fixierung durch die Schrift, die ſiegreiche Herrſchaft eines Dialekts über die anderen, die räumliche Aus- breitung der großen Sprachen ſtellt den Prozeß des geiſtigen Werdens der Volksſeele, des Volkscharakters dar. Wie man das germaniſche Accentgeſetz, nach welchem im ein- fachen Wort die Wurzelſilbe den Hauptton trägt, in Zuſammenhang brachte mit den Charakterzügen unſeres Volkes, aus welchen auch ſein Heldengeſang, ſeine Heldenideale, ſein geiſtiges Weſen bis auf unſere Tage entſprang, wie man aus den geſamten Sprach- denkmälern unſeres Volkes ein Syſtem der nationalen Ethik hat aufbauen wollen (W. Scherer), ſo giebt es auch für die anderen Kulturvölker und ihr innerſtes Weſen keine anderen, beſſeren Schlüſſel der Erkenntnis als ihre Sprache und ihre Sprach- denkmäler. Die Berührung der Stämme und Völker untereinander aber von den erſten An- fängen des Tauſchverkehrs bis zum heutigen Welthandelsſyſtem beruht auf der Mehr- ſprachigkeit der Händler, der Gebildeten, der Regierenden, auf der Herrſchaft von Welt- ſprachen, wie ſie einſt das Griechiſche und Lateiniſche waren, dann das Franzöſiſche und Engliſche wurden. Die Wirkung der nationalen Kulturen aufeinander, die Überlieferung der geiſtigen Schätze vergangener Völker auf die ſpäteren, die zunehmende Übereinſtimmung aller geſellſchaftlichen Einrichtungen der verſchiedenen Völker ruhen auf derſelben Grund- lage. Das Ideal einer letzten fernen Zukunft wäre die einheitliche Weltſprache. 6. Die Schrift iſt es, welche gleichſam als potenzierte Sprache erſt alle die tiefergreifenden Wirkungen derſelben erzeugt hat.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/27>, abgerufen am 29.03.2024.