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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
mehr zu belasten oder zu abhängigen Arbeitskräften herabzudrücken gesucht. Es ist ihnen
das in sehr verschiedener Weise gelungen. In umfassendem Maße hauptsächlich da, wo
auf herrschaftlichen Höfen häufig durch Einverleibung von Bauernhöfen ein größerer
Gutsbetrieb eingerichtet wurde mit der Tendenz, Getreide, Wolle, Bier, Holz, Häute
und andere Produkte auf den Markt zu bringen, wo die sich ausdehnenden Herren- und
Rittergüter mehr und mehr wirtschaftliche Geschäftsunternehmungen wurden, wie das
besonders in England, im Nordosten Deutschlands, in Polen und Rußland vom 16. bis
18. Jahrhundert geschah. Die hier entstandene Form der Grundherrschaft hat man
neuerdings als Gutsherrschaft bezeichnet, um damit anzudeuten, daß der gutsherrschaft-
liche Betrieb, eine der Übergangsformen zur modernen, für den Markt produzierenden
Unternehmung, hier zur Hauptsache geworden sei.

Die ältere Grundherrschaft war eine patriarchalische Großfamilie, teils mit Dutzenden,
teils mit Tausenden dienender Familien; sie war gewissermaßen ein Großbetrieb, aber
nicht für den Verkauf, sondern für die Konsumtion, für den Unterhalt des Grundherrn,
des Fürsten, des Stiftes, und für die politische, gerichtliche, militärische Verwaltung des
Gebietes; so lange die Verwaltung eine durch feste Rechtsnormen gebundene, streng
disciplinierte, von guten Traditionen beherrschte war, konnte sie Großes leisten; wo sie
milde gegen die Hinterfassen war, wie man es von den Krummstabsgebieten pries,
konnte der Wohlstand gedeihen. Aber die Disciplin lockerte sich früh, die Mißbräuche
einer großen Naturalverwaltung konnten rasch sich steigern; es fehlte leicht in dem großen
Getriebe die rechte Kontrolle. In den festen Geleisen der Gewohnheit und des Rechtes
wurden Änderungen und technische Fortschritte bald schwierig. Die Klosterwirtschaften
hörten auf, Musterwirtschaften zu sein; auf den weltlichen Herrenhöfen fehlte gar mannig-
fach der Sinn für wirtschaftlichen Erwerb, für Sparsamkeit; man begann im 12. und
13. Jahrhundert schon, die Höfe oder die Meiereien zu verpachten; später versuchte man
da und dort, wie erwähnt, einen großen landwirtschaftlichen Eigenbetrieb zum Verkaufe
zu beginnen. Die alte Grundherrschaft ist so vom 13.--16. Jahrhundert in einer
gewissen Auflösung oder Umbildung begriffen; wo aus ihr die Gutsherrschaft sich ent-
wickelt, erzeugt sie technisch-wirtschaftlichen Fortschritt neben bäuerlichem Drucke und
socialer Mißbildung. Einzelne der großen Grundherrschaften werden in Deutschland
und anderwärts zu Kleinstaaten und erhalten damit einen anderen Charakter. Die
übrigen und die Gutsherrschaften kommen unter die territoriale und nationale Staats-
gewalt. Wo die herrschenden feudalen Klassen diese in Abhängigkeit von sich bringen,
ist der Bauernstand bedroht, verschlechtert sich seine Lage bis ins 19. Jahrhundert.
Wo eine starke fürstliche Gewalt mit großem eigenen Grundbesitze die Grund- und
Gutsherren an Macht und Einfluß überragt, erhält sie den Bauernstand, befreit ihn
persönlich, verleiht ihm freies Grundeigentum, löst seine Lasten ab. Das einzelne dieses
Umbildungsprozesses gehört nicht hieher. Er hat sich erst im Laufe der letzten sechs
Generationen im größeren Teile Europas vollzogen; bis vor 30--90 Jahren lebten
60--90 % der europäischen Landbevölkerung noch in grund- und gutsherrlichen, halb
naturalwirtschaftlichen, gebundenen Zuständen.

Die Grundherrschaften waren in ihrer ersten aufwärts gehenden Entwickelung
einstens die Träger des wirtschaftlichen Fortschrittes, die normalen Gefäße der lokalen
Administration wie teilweise auch der Staatsverwaltung, die Keime und Gefäße für alle
möglichen höheren Bildungen -- für Städte, Landesherrschaften, Großgutswirtschaften,
Bistümer, Klöster, Schulen etc. -- gewesen. Die Voraussetzungen für diese ältere nor-
male Wirksamkeit waren klare und einfache: stabile naturalwirtschaftliche Verhältnisse
ohne erheblichen Geld- und sonstigen Verkehr, einfache agrarische Technik, Menschen ohne
ausgebildeten Individualismus, ohne starken Erwerbstrieb, mit regen Gemeingefühlen,
in der Zucht der Familie und der Genossenschaft aufgehend; daneben schon eine
bedeutende Klassendifferenzierung, eine zum Herrschen und Lenken fähige Aristokratie;
patriarchalische Beziehungen zwischen ihr und den Hintersassen, wie sie in einfachen
Verhältnissen unter täglicher Berührung der Beteiligten entstehen; Treue, Gehorsam,
Hingebung auf der einen Seite, wie sie aus dem Gefühle der berechtigten Lenkung, des

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
mehr zu belaſten oder zu abhängigen Arbeitskräften herabzudrücken geſucht. Es iſt ihnen
das in ſehr verſchiedener Weiſe gelungen. In umfaſſendem Maße hauptſächlich da, wo
auf herrſchaftlichen Höfen häufig durch Einverleibung von Bauernhöfen ein größerer
Gutsbetrieb eingerichtet wurde mit der Tendenz, Getreide, Wolle, Bier, Holz, Häute
und andere Produkte auf den Markt zu bringen, wo die ſich ausdehnenden Herren- und
Rittergüter mehr und mehr wirtſchaftliche Geſchäftsunternehmungen wurden, wie das
beſonders in England, im Nordoſten Deutſchlands, in Polen und Rußland vom 16. bis
18. Jahrhundert geſchah. Die hier entſtandene Form der Grundherrſchaft hat man
neuerdings als Gutsherrſchaft bezeichnet, um damit anzudeuten, daß der gutsherrſchaft-
liche Betrieb, eine der Übergangsformen zur modernen, für den Markt produzierenden
Unternehmung, hier zur Hauptſache geworden ſei.

Die ältere Grundherrſchaft war eine patriarchaliſche Großfamilie, teils mit Dutzenden,
teils mit Tauſenden dienender Familien; ſie war gewiſſermaßen ein Großbetrieb, aber
nicht für den Verkauf, ſondern für die Konſumtion, für den Unterhalt des Grundherrn,
des Fürſten, des Stiftes, und für die politiſche, gerichtliche, militäriſche Verwaltung des
Gebietes; ſo lange die Verwaltung eine durch feſte Rechtsnormen gebundene, ſtreng
disciplinierte, von guten Traditionen beherrſchte war, konnte ſie Großes leiſten; wo ſie
milde gegen die Hinterfaſſen war, wie man es von den Krummſtabsgebieten pries,
konnte der Wohlſtand gedeihen. Aber die Disciplin lockerte ſich früh, die Mißbräuche
einer großen Naturalverwaltung konnten raſch ſich ſteigern; es fehlte leicht in dem großen
Getriebe die rechte Kontrolle. In den feſten Geleiſen der Gewohnheit und des Rechtes
wurden Änderungen und techniſche Fortſchritte bald ſchwierig. Die Kloſterwirtſchaften
hörten auf, Muſterwirtſchaften zu ſein; auf den weltlichen Herrenhöfen fehlte gar mannig-
fach der Sinn für wirtſchaftlichen Erwerb, für Sparſamkeit; man begann im 12. und
13. Jahrhundert ſchon, die Höfe oder die Meiereien zu verpachten; ſpäter verſuchte man
da und dort, wie erwähnt, einen großen landwirtſchaftlichen Eigenbetrieb zum Verkaufe
zu beginnen. Die alte Grundherrſchaft iſt ſo vom 13.—16. Jahrhundert in einer
gewiſſen Auflöſung oder Umbildung begriffen; wo aus ihr die Gutsherrſchaft ſich ent-
wickelt, erzeugt ſie techniſch-wirtſchaftlichen Fortſchritt neben bäuerlichem Drucke und
ſocialer Mißbildung. Einzelne der großen Grundherrſchaften werden in Deutſchland
und anderwärts zu Kleinſtaaten und erhalten damit einen anderen Charakter. Die
übrigen und die Gutsherrſchaften kommen unter die territoriale und nationale Staats-
gewalt. Wo die herrſchenden feudalen Klaſſen dieſe in Abhängigkeit von ſich bringen,
iſt der Bauernſtand bedroht, verſchlechtert ſich ſeine Lage bis ins 19. Jahrhundert.
Wo eine ſtarke fürſtliche Gewalt mit großem eigenen Grundbeſitze die Grund- und
Gutsherren an Macht und Einfluß überragt, erhält ſie den Bauernſtand, befreit ihn
perſönlich, verleiht ihm freies Grundeigentum, löſt ſeine Laſten ab. Das einzelne dieſes
Umbildungsprozeſſes gehört nicht hieher. Er hat ſich erſt im Laufe der letzten ſechs
Generationen im größeren Teile Europas vollzogen; bis vor 30—90 Jahren lebten
60—90 % der europäiſchen Landbevölkerung noch in grund- und gutsherrlichen, halb
naturalwirtſchaftlichen, gebundenen Zuſtänden.

Die Grundherrſchaften waren in ihrer erſten aufwärts gehenden Entwickelung
einſtens die Träger des wirtſchaftlichen Fortſchrittes, die normalen Gefäße der lokalen
Adminiſtration wie teilweiſe auch der Staatsverwaltung, die Keime und Gefäße für alle
möglichen höheren Bildungen — für Städte, Landesherrſchaften, Großgutswirtſchaften,
Bistümer, Klöſter, Schulen ꝛc. — geweſen. Die Vorausſetzungen für dieſe ältere nor-
male Wirkſamkeit waren klare und einfache: ſtabile naturalwirtſchaftliche Verhältniſſe
ohne erheblichen Geld- und ſonſtigen Verkehr, einfache agrariſche Technik, Menſchen ohne
ausgebildeten Individualismus, ohne ſtarken Erwerbstrieb, mit regen Gemeingefühlen,
in der Zucht der Familie und der Genoſſenſchaft aufgehend; daneben ſchon eine
bedeutende Klaſſendifferenzierung, eine zum Herrſchen und Lenken fähige Ariſtokratie;
patriarchaliſche Beziehungen zwiſchen ihr und den Hinterſaſſen, wie ſie in einfachen
Verhältniſſen unter täglicher Berührung der Beteiligten entſtehen; Treue, Gehorſam,
Hingebung auf der einen Seite, wie ſie aus dem Gefühle der berechtigten Lenkung, des

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[292/0308] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. mehr zu belaſten oder zu abhängigen Arbeitskräften herabzudrücken geſucht. Es iſt ihnen das in ſehr verſchiedener Weiſe gelungen. In umfaſſendem Maße hauptſächlich da, wo auf herrſchaftlichen Höfen häufig durch Einverleibung von Bauernhöfen ein größerer Gutsbetrieb eingerichtet wurde mit der Tendenz, Getreide, Wolle, Bier, Holz, Häute und andere Produkte auf den Markt zu bringen, wo die ſich ausdehnenden Herren- und Rittergüter mehr und mehr wirtſchaftliche Geſchäftsunternehmungen wurden, wie das beſonders in England, im Nordoſten Deutſchlands, in Polen und Rußland vom 16. bis 18. Jahrhundert geſchah. Die hier entſtandene Form der Grundherrſchaft hat man neuerdings als Gutsherrſchaft bezeichnet, um damit anzudeuten, daß der gutsherrſchaft- liche Betrieb, eine der Übergangsformen zur modernen, für den Markt produzierenden Unternehmung, hier zur Hauptſache geworden ſei. Die ältere Grundherrſchaft war eine patriarchaliſche Großfamilie, teils mit Dutzenden, teils mit Tauſenden dienender Familien; ſie war gewiſſermaßen ein Großbetrieb, aber nicht für den Verkauf, ſondern für die Konſumtion, für den Unterhalt des Grundherrn, des Fürſten, des Stiftes, und für die politiſche, gerichtliche, militäriſche Verwaltung des Gebietes; ſo lange die Verwaltung eine durch feſte Rechtsnormen gebundene, ſtreng disciplinierte, von guten Traditionen beherrſchte war, konnte ſie Großes leiſten; wo ſie milde gegen die Hinterfaſſen war, wie man es von den Krummſtabsgebieten pries, konnte der Wohlſtand gedeihen. Aber die Disciplin lockerte ſich früh, die Mißbräuche einer großen Naturalverwaltung konnten raſch ſich ſteigern; es fehlte leicht in dem großen Getriebe die rechte Kontrolle. In den feſten Geleiſen der Gewohnheit und des Rechtes wurden Änderungen und techniſche Fortſchritte bald ſchwierig. Die Kloſterwirtſchaften hörten auf, Muſterwirtſchaften zu ſein; auf den weltlichen Herrenhöfen fehlte gar mannig- fach der Sinn für wirtſchaftlichen Erwerb, für Sparſamkeit; man begann im 12. und 13. Jahrhundert ſchon, die Höfe oder die Meiereien zu verpachten; ſpäter verſuchte man da und dort, wie erwähnt, einen großen landwirtſchaftlichen Eigenbetrieb zum Verkaufe zu beginnen. Die alte Grundherrſchaft iſt ſo vom 13.—16. Jahrhundert in einer gewiſſen Auflöſung oder Umbildung begriffen; wo aus ihr die Gutsherrſchaft ſich ent- wickelt, erzeugt ſie techniſch-wirtſchaftlichen Fortſchritt neben bäuerlichem Drucke und ſocialer Mißbildung. Einzelne der großen Grundherrſchaften werden in Deutſchland und anderwärts zu Kleinſtaaten und erhalten damit einen anderen Charakter. Die übrigen und die Gutsherrſchaften kommen unter die territoriale und nationale Staats- gewalt. Wo die herrſchenden feudalen Klaſſen dieſe in Abhängigkeit von ſich bringen, iſt der Bauernſtand bedroht, verſchlechtert ſich ſeine Lage bis ins 19. Jahrhundert. Wo eine ſtarke fürſtliche Gewalt mit großem eigenen Grundbeſitze die Grund- und Gutsherren an Macht und Einfluß überragt, erhält ſie den Bauernſtand, befreit ihn perſönlich, verleiht ihm freies Grundeigentum, löſt ſeine Laſten ab. Das einzelne dieſes Umbildungsprozeſſes gehört nicht hieher. Er hat ſich erſt im Laufe der letzten ſechs Generationen im größeren Teile Europas vollzogen; bis vor 30—90 Jahren lebten 60—90 % der europäiſchen Landbevölkerung noch in grund- und gutsherrlichen, halb naturalwirtſchaftlichen, gebundenen Zuſtänden. Die Grundherrſchaften waren in ihrer erſten aufwärts gehenden Entwickelung einſtens die Träger des wirtſchaftlichen Fortſchrittes, die normalen Gefäße der lokalen Adminiſtration wie teilweiſe auch der Staatsverwaltung, die Keime und Gefäße für alle möglichen höheren Bildungen — für Städte, Landesherrſchaften, Großgutswirtſchaften, Bistümer, Klöſter, Schulen ꝛc. — geweſen. Die Vorausſetzungen für dieſe ältere nor- male Wirkſamkeit waren klare und einfache: ſtabile naturalwirtſchaftliche Verhältniſſe ohne erheblichen Geld- und ſonſtigen Verkehr, einfache agrariſche Technik, Menſchen ohne ausgebildeten Individualismus, ohne ſtarken Erwerbstrieb, mit regen Gemeingefühlen, in der Zucht der Familie und der Genoſſenſchaft aufgehend; daneben ſchon eine bedeutende Klaſſendifferenzierung, eine zum Herrſchen und Lenken fähige Ariſtokratie; patriarchaliſche Beziehungen zwiſchen ihr und den Hinterſaſſen, wie ſie in einfachen Verhältniſſen unter täglicher Berührung der Beteiligten entſtehen; Treue, Gehorſam, Hingebung auf der einen Seite, wie ſie aus dem Gefühle der berechtigten Lenkung, des

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/308>, abgerufen am 19.04.2024.