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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Würdigung der Grundherrschaft; ihre Auflösung.
gewährten Schutzes, der unzweifelhaften Überlegenheit folgen; auf der anderen Seite
kräftigstes Selbstgefühl, Glauben an den eigenen Herrscherberuf, aber auch menschliche
Rücksicht, Anerkennung des ärmsten Grundholden als Glied der sogenannten "familia",
Schutz in Not, Beistand im Unglück; auch der gedrückte Hinterfasse hat seine Kate, sein
Ackerland, sein Familienleben, seine rechtlich fixierte Stelle in dem grund- und guts-
herrschaftlichen Verbande.

Gewiß war dabei die Organisation eine rohe und eine enge, stets mit einer
gewissen Härte für die Untergebenen verbunden; die herrschaftliche Spitze vertrat, was
heute Staat, Provinz, Kreis, Gemeinde, Kirche und Schule, Armee, Gericht, Polizei,
Unternehmung, Arbeitgeber, Armenhaus, Unterstützungsgenossenschaft als getrennte Or-
gane verfolgen. Viele, vielleicht die meisten Individuen wurden in engstem Kreise für
die herrschaftlichen Zwecke gebraucht, eine Anzahl verbraucht; höhere technische und
geistige Kultur war so nur für die an der Spitze Stehenden möglich. Aber immer war
die Grundherrschaft und die Gutsherrschaft für Millionen und Milliarden einfacher
Menschen eine in gewisser Beziehung erziehende und sie befriedigende sociale Lebensform,
ein Ring in der Kette zu größeren und vollendeteren gesellschaftlichen Formen, in mancher
Beziehung teilweise vollkommener als ein Teil unserer heutigen Großunternehmungen
mit ihren freien, aber proletarischen Arbeitern.

Die sich vom 16.--19. Jahrhundert ausbildende Gutsherrschaft hat ihre unteren
Glieder noch stärker gedrückt als die ältere Grundherrschaft, weil sie die Eigenwirtschaft
der Leute beschnitt, dieselbe mehr und mehr zu einer gesteigerten Marktproduktion ver-
wendete; freilich blieben stets gewisse Schranken des Rechtes und des Herkommens, zu
denen dann die neuen der fürstlichen Gewalt kamen; diese wollte im hörigen Bauern
den Soldaten, den Steuerzahler, den Unterthan schützen. Auch die Gutsherrschaft wurde
nicht reine Unternehmung, sondern blieb ein Mittelding zwischen ihr und patriarchalischer
Lokalverwaltung. Das hinderte aber nicht, daß die Mißstimmung und gegenseitige
Erbitterung zwischen Gutsherrschaft und halbfreien Bauern von 1700--1800 so wuchs,
daß sie auch die vorhandenen technisch-wirtschaftlichen Fortschritte der Gutswirtschaften
so hemmte, daß die Auflösung dieses Verhältnisses von 1789--1860 in ganz Europa
zu der wichtigsten volkswirtschaftlichen Reformfrage wurde.

Seit dem 13., noch mehr seit dem 15. Jahrhundert hatte an begünstigten Stellen
dieser Auflösungsprozeß begonnen; in den meisten Staaten ist er erst durch große
staatliche Reformmaßregeln 1750--1870 durchgeführt worden: das Eigentum und die
Personen wurden frei, Gutsbesitzer und Bauern mußten lernen, mit freiem Gesinde und
freien Arbeitern zu wirtschaften, sich im freien Getriebe der Volkswirtschaft zu Groß-
und Kleinunternehmern umzubilden. Der ältere agrarische Verfassungszustand war seit
Jahrhunderten um so schlimmer geworden, je mehr die Geldwirtschaft vordrang, die
patriarchalischen Gefühle schwanden, der individualistische Erwerbstrieb bei Gutsherren
und Hintersassen zunahm, die vor Jahrhunderten ausgebildeten Rechtsformen starr und
unbildsam geworden, für die intensivere Landwirtschaft, für die Marktproduktion und
den neuen Verkehr sich nicht mehr eigneten; der sociale Druck hatte für die unteren
Klassen außerordentlich zugenommen, ohne den oberen entsprechende Vorteile zu gewähren.
Freilich klammerte sich die ländliche Aristokratie noch immer an ihre alten Vorrechte
an, obwohl sie längst den Kriegsdienst und die Lokalverwaltung nicht mehr besorgte,
ihre social-patriarchalischen Pflichten nicht mehr wie früher erfüllte, weil sie vom Geiste
des Erwerbstriebes ergriffen war. --

105. Die ältere Stadtwirtschaft. Die Wirtschaft des Dorfes ruhte auf
einer genossenschaftlichen, die der Grundherrschaft auf einer herrschaftlichen Gebietsorgani-
sation, beide hatten es zu gemeinsamen Wirtschaftseinrichtungen, aber nicht zu einer
über den Einzelwirtschaften stehenden selbständigen, aktiv führenden Korporationswirtschaft
gebracht. Das gelang nun der komplizierteren Stadtwirtschaft.

Die Entstehung der Städte im Altertume und Mittelalter haben wir im vorigen
Kapitel (S. 257 u. 263) erörtert. Hier haben wir uns auf die Ausbildung der Stadt-
wirtschaft in der zweitgenannten Epoche zu beschränken. Man wird an dem Ausbildungs-

Würdigung der Grundherrſchaft; ihre Auflöſung.
gewährten Schutzes, der unzweifelhaften Überlegenheit folgen; auf der anderen Seite
kräftigſtes Selbſtgefühl, Glauben an den eigenen Herrſcherberuf, aber auch menſchliche
Rückſicht, Anerkennung des ärmſten Grundholden als Glied der ſogenannten „familia“,
Schutz in Not, Beiſtand im Unglück; auch der gedrückte Hinterfaſſe hat ſeine Kate, ſein
Ackerland, ſein Familienleben, ſeine rechtlich fixierte Stelle in dem grund- und guts-
herrſchaftlichen Verbande.

Gewiß war dabei die Organiſation eine rohe und eine enge, ſtets mit einer
gewiſſen Härte für die Untergebenen verbunden; die herrſchaftliche Spitze vertrat, was
heute Staat, Provinz, Kreis, Gemeinde, Kirche und Schule, Armee, Gericht, Polizei,
Unternehmung, Arbeitgeber, Armenhaus, Unterſtützungsgenoſſenſchaft als getrennte Or-
gane verfolgen. Viele, vielleicht die meiſten Individuen wurden in engſtem Kreiſe für
die herrſchaftlichen Zwecke gebraucht, eine Anzahl verbraucht; höhere techniſche und
geiſtige Kultur war ſo nur für die an der Spitze Stehenden möglich. Aber immer war
die Grundherrſchaft und die Gutsherrſchaft für Millionen und Milliarden einfacher
Menſchen eine in gewiſſer Beziehung erziehende und ſie befriedigende ſociale Lebensform,
ein Ring in der Kette zu größeren und vollendeteren geſellſchaftlichen Formen, in mancher
Beziehung teilweiſe vollkommener als ein Teil unſerer heutigen Großunternehmungen
mit ihren freien, aber proletariſchen Arbeitern.

Die ſich vom 16.—19. Jahrhundert ausbildende Gutsherrſchaft hat ihre unteren
Glieder noch ſtärker gedrückt als die ältere Grundherrſchaft, weil ſie die Eigenwirtſchaft
der Leute beſchnitt, dieſelbe mehr und mehr zu einer geſteigerten Marktproduktion ver-
wendete; freilich blieben ſtets gewiſſe Schranken des Rechtes und des Herkommens, zu
denen dann die neuen der fürſtlichen Gewalt kamen; dieſe wollte im hörigen Bauern
den Soldaten, den Steuerzahler, den Unterthan ſchützen. Auch die Gutsherrſchaft wurde
nicht reine Unternehmung, ſondern blieb ein Mittelding zwiſchen ihr und patriarchaliſcher
Lokalverwaltung. Das hinderte aber nicht, daß die Mißſtimmung und gegenſeitige
Erbitterung zwiſchen Gutsherrſchaft und halbfreien Bauern von 1700—1800 ſo wuchs,
daß ſie auch die vorhandenen techniſch-wirtſchaftlichen Fortſchritte der Gutswirtſchaften
ſo hemmte, daß die Auflöſung dieſes Verhältniſſes von 1789—1860 in ganz Europa
zu der wichtigſten volkswirtſchaftlichen Reformfrage wurde.

Seit dem 13., noch mehr ſeit dem 15. Jahrhundert hatte an begünſtigten Stellen
dieſer Auflöſungsprozeß begonnen; in den meiſten Staaten iſt er erſt durch große
ſtaatliche Reformmaßregeln 1750—1870 durchgeführt worden: das Eigentum und die
Perſonen wurden frei, Gutsbeſitzer und Bauern mußten lernen, mit freiem Geſinde und
freien Arbeitern zu wirtſchaften, ſich im freien Getriebe der Volkswirtſchaft zu Groß-
und Kleinunternehmern umzubilden. Der ältere agrariſche Verfaſſungszuſtand war ſeit
Jahrhunderten um ſo ſchlimmer geworden, je mehr die Geldwirtſchaft vordrang, die
patriarchaliſchen Gefühle ſchwanden, der individualiſtiſche Erwerbstrieb bei Gutsherren
und Hinterſaſſen zunahm, die vor Jahrhunderten ausgebildeten Rechtsformen ſtarr und
unbildſam geworden, für die intenſivere Landwirtſchaft, für die Marktproduktion und
den neuen Verkehr ſich nicht mehr eigneten; der ſociale Druck hatte für die unteren
Klaſſen außerordentlich zugenommen, ohne den oberen entſprechende Vorteile zu gewähren.
Freilich klammerte ſich die ländliche Ariſtokratie noch immer an ihre alten Vorrechte
an, obwohl ſie längſt den Kriegsdienſt und die Lokalverwaltung nicht mehr beſorgte,
ihre ſocial-patriarchaliſchen Pflichten nicht mehr wie früher erfüllte, weil ſie vom Geiſte
des Erwerbstriebes ergriffen war. —

105. Die ältere Stadtwirtſchaft. Die Wirtſchaft des Dorfes ruhte auf
einer genoſſenſchaftlichen, die der Grundherrſchaft auf einer herrſchaftlichen Gebietsorgani-
ſation, beide hatten es zu gemeinſamen Wirtſchaftseinrichtungen, aber nicht zu einer
über den Einzelwirtſchaften ſtehenden ſelbſtändigen, aktiv führenden Korporationswirtſchaft
gebracht. Das gelang nun der komplizierteren Stadtwirtſchaft.

Die Entſtehung der Städte im Altertume und Mittelalter haben wir im vorigen
Kapitel (S. 257 u. 263) erörtert. Hier haben wir uns auf die Ausbildung der Stadt-
wirtſchaft in der zweitgenannten Epoche zu beſchränken. Man wird an dem Ausbildungs-

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[293/0309] Würdigung der Grundherrſchaft; ihre Auflöſung. gewährten Schutzes, der unzweifelhaften Überlegenheit folgen; auf der anderen Seite kräftigſtes Selbſtgefühl, Glauben an den eigenen Herrſcherberuf, aber auch menſchliche Rückſicht, Anerkennung des ärmſten Grundholden als Glied der ſogenannten „familia“, Schutz in Not, Beiſtand im Unglück; auch der gedrückte Hinterfaſſe hat ſeine Kate, ſein Ackerland, ſein Familienleben, ſeine rechtlich fixierte Stelle in dem grund- und guts- herrſchaftlichen Verbande. Gewiß war dabei die Organiſation eine rohe und eine enge, ſtets mit einer gewiſſen Härte für die Untergebenen verbunden; die herrſchaftliche Spitze vertrat, was heute Staat, Provinz, Kreis, Gemeinde, Kirche und Schule, Armee, Gericht, Polizei, Unternehmung, Arbeitgeber, Armenhaus, Unterſtützungsgenoſſenſchaft als getrennte Or- gane verfolgen. Viele, vielleicht die meiſten Individuen wurden in engſtem Kreiſe für die herrſchaftlichen Zwecke gebraucht, eine Anzahl verbraucht; höhere techniſche und geiſtige Kultur war ſo nur für die an der Spitze Stehenden möglich. Aber immer war die Grundherrſchaft und die Gutsherrſchaft für Millionen und Milliarden einfacher Menſchen eine in gewiſſer Beziehung erziehende und ſie befriedigende ſociale Lebensform, ein Ring in der Kette zu größeren und vollendeteren geſellſchaftlichen Formen, in mancher Beziehung teilweiſe vollkommener als ein Teil unſerer heutigen Großunternehmungen mit ihren freien, aber proletariſchen Arbeitern. Die ſich vom 16.—19. Jahrhundert ausbildende Gutsherrſchaft hat ihre unteren Glieder noch ſtärker gedrückt als die ältere Grundherrſchaft, weil ſie die Eigenwirtſchaft der Leute beſchnitt, dieſelbe mehr und mehr zu einer geſteigerten Marktproduktion ver- wendete; freilich blieben ſtets gewiſſe Schranken des Rechtes und des Herkommens, zu denen dann die neuen der fürſtlichen Gewalt kamen; dieſe wollte im hörigen Bauern den Soldaten, den Steuerzahler, den Unterthan ſchützen. Auch die Gutsherrſchaft wurde nicht reine Unternehmung, ſondern blieb ein Mittelding zwiſchen ihr und patriarchaliſcher Lokalverwaltung. Das hinderte aber nicht, daß die Mißſtimmung und gegenſeitige Erbitterung zwiſchen Gutsherrſchaft und halbfreien Bauern von 1700—1800 ſo wuchs, daß ſie auch die vorhandenen techniſch-wirtſchaftlichen Fortſchritte der Gutswirtſchaften ſo hemmte, daß die Auflöſung dieſes Verhältniſſes von 1789—1860 in ganz Europa zu der wichtigſten volkswirtſchaftlichen Reformfrage wurde. Seit dem 13., noch mehr ſeit dem 15. Jahrhundert hatte an begünſtigten Stellen dieſer Auflöſungsprozeß begonnen; in den meiſten Staaten iſt er erſt durch große ſtaatliche Reformmaßregeln 1750—1870 durchgeführt worden: das Eigentum und die Perſonen wurden frei, Gutsbeſitzer und Bauern mußten lernen, mit freiem Geſinde und freien Arbeitern zu wirtſchaften, ſich im freien Getriebe der Volkswirtſchaft zu Groß- und Kleinunternehmern umzubilden. Der ältere agrariſche Verfaſſungszuſtand war ſeit Jahrhunderten um ſo ſchlimmer geworden, je mehr die Geldwirtſchaft vordrang, die patriarchaliſchen Gefühle ſchwanden, der individualiſtiſche Erwerbstrieb bei Gutsherren und Hinterſaſſen zunahm, die vor Jahrhunderten ausgebildeten Rechtsformen ſtarr und unbildſam geworden, für die intenſivere Landwirtſchaft, für die Marktproduktion und den neuen Verkehr ſich nicht mehr eigneten; der ſociale Druck hatte für die unteren Klaſſen außerordentlich zugenommen, ohne den oberen entſprechende Vorteile zu gewähren. Freilich klammerte ſich die ländliche Ariſtokratie noch immer an ihre alten Vorrechte an, obwohl ſie längſt den Kriegsdienſt und die Lokalverwaltung nicht mehr beſorgte, ihre ſocial-patriarchaliſchen Pflichten nicht mehr wie früher erfüllte, weil ſie vom Geiſte des Erwerbstriebes ergriffen war. — 105. Die ältere Stadtwirtſchaft. Die Wirtſchaft des Dorfes ruhte auf einer genoſſenſchaftlichen, die der Grundherrſchaft auf einer herrſchaftlichen Gebietsorgani- ſation, beide hatten es zu gemeinſamen Wirtſchaftseinrichtungen, aber nicht zu einer über den Einzelwirtſchaften ſtehenden ſelbſtändigen, aktiv führenden Korporationswirtſchaft gebracht. Das gelang nun der komplizierteren Stadtwirtſchaft. Die Entſtehung der Städte im Altertume und Mittelalter haben wir im vorigen Kapitel (S. 257 u. 263) erörtert. Hier haben wir uns auf die Ausbildung der Stadt- wirtſchaft in der zweitgenannten Epoche zu beſchränken. Man wird an dem Ausbildungs-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/309>, abgerufen am 29.03.2024.