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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
prozesse der Einrichtungen und Veranstaltungen, die wir unter diesem Begriffe zusammen-
fassen, dreierlei unterscheiden können: 1. die Markt- und Verkehrserscheinungen und deren
Organisation, wie sie zwischen der Stadt und ihrer ländlichen und weiteren Umgebung
sich ausbilden, einerlei ob beide ein politisches Gemeinwesen ausmachen, unter derselben
Administration stehen oder nicht, die Stadtgebietswirtschaft oder Stadt-
wirtschaft
im weiteren Sinne, 2. die gesamte wirtschaftliche Organisation der Stadt
an sich auf dem geographischen Boden der Stadtmarkung und auf dem rechtlichen der
städtischen Korporations- und Verfassungsbildung, die Stadtwirtschaft im engeren
Sinne, und 3. innerhalb dieses gesellschaftlichen Körpers den Stadthaushalt, die
wirtschaftlich-finanzielle Seite des Stadtregiments. Ist dieser dritte, engste Begriff der
Stadtwirtschaft das, was uns hier am meisten interessiert, so ist er doch ohne einen
Blick auf die beiden anderen auch nicht verständlich.

Die Stadt erwächst lokal auf einer meist die des Dorfes wesentlich übertreffenden
Gemarkung. Die rasch wachsende, in den Stadtmauern eingeschlossene Einwohnerschaft
erhält durch gerichtliche und administrative Einrichtungen des Stadtherrn, durch Aus-
bildung ihrer älteren genossenschaftlichen Gemeindeverfassung, durch das engere Zusammen-
wohnen und die lebendigen neuen gemeinsamen Wirtschaftsinteressen des Marktes, der
Gewerbe und des Handels den Charakter einer komplizierten, aber doch sehr eng ver-
bundenen Genossenschaft. Aus einer oder mehreren Bauerschaften, einer oder mehreren
bischöflichen, königlichen oder klösterlichen Grundherrschaften, aus zugewanderten Kauf-
leuten und Handwerkern von weiterher, aus Ackerbauern und Tagelöhnern aus der
Umgegend wurde bald die einheitliche Bürgerschaft, die auf engem Raume unter dem-
selben Stadtherrn, unter demselben Stadtrechte, später unter dem aus ihrer Mitte
hervorgehenden Ausschusse, dem Stadtrate, in ihrer mäßigen Größe, in ihrer Ab-
geschlossenheit, in ihrem Lokalegoismus, aber auch mit ihrem sehr starken Lokal-
patriotismus von einheitlichen Gefühlen, von unschwer zu erkennenden städtischen
Gesamtinteressen beherrscht ist.

Der Rat führte den Kampf um die Abschüttelung der Vormundschaft des Bischofs,
des Stadtherrn, ihrer Ministerialen, um die Beseitigung ihrer grundherrlichen und
territorialfürstlichen Tendenzen; er stellte die Einheit der verschiedenen Genossenschaften
und Gruppen, der freien und unfreien Elemente in der Stadt her. Er nahm dem
Stadtherrn und seinen Beamten die Thätigkeit für Markt und Münze, für gewerbliche
Hebung, für Handelseinrichtungen aus der Hand und reinigte die städtische Verwaltung
von den fiskalischen, fürstlichen und sonstigen Nebenzwecken und Mißbräuchen, welche die
selbständige wirtschaftliche Blüte der Stadt hinderten. Der Rat wußte über die Stadt
hinaus durch Meilenrecht, Straßenzwang, Verbot des Landhandwerkes, durch Abmachungen
mit den umliegenden Grundherren und Dörfern über Marktbesuch die Stadt zum wirt-
schaftlichen Centrum eines Gebietes zu machen. Diese wirtschaftliche Politik macht ihn
trotz aller Kämpfe zwischen Patriciat und Zünften, Groß- und Kleinbürgern zum un-
bedingten Herrn in der Stadt, zum Repräsentanten der Bürgerschaft und des Stadt-
gebietes, giebt der Stadt gegen König und Fürsten die durch Kämpfe aller Art, durch
Friedensschlüsse und teuere Privilegien erstrittene "Autonomie". Durch ihn erhält die
Stadt die handlungsfähige Spitze, welche dem Dorfe gefehlt hatte, welche die Genossen-
schaft nur um den Preis der Unfreiheit erhalten hatte; seine Thätigkeit erhebt die Stadt
zur öffentlichrechtlichen Korporation, welche im Stadtsiegel das Symbol ihrer rechtlichen
Persönlichkeit, in der Stadtkasse den Ausdruck des selbständigen Korporationshaushaltes
bekommt.

Im Stadtrate sitzen die Spitzen des städtischen Patriciats, die ersten Kauf- und
Geschäftsleute, bald auch die angesehensten Zunftmeister; die persönliche Verknüpfung
ihrer Geschäftsinteressen und Geschäftskenntnisse und ihrer politisch-administrativen
Schulung mit ihrem starken Stadtpatriotismus und ihrer vielfach vorhandenen Ehren-
haftigkeit ist die psychologische Grundlage der Blüte der italienischen, deutschen, fran-
zösischen, niederländischen großen Städte vom 12.--16. Jahrhundert. In Venedig
und Genua, in Köln und Lübeck ist das so wie im Amsterdam des 17. Jahrhunderts.

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
prozeſſe der Einrichtungen und Veranſtaltungen, die wir unter dieſem Begriffe zuſammen-
faſſen, dreierlei unterſcheiden können: 1. die Markt- und Verkehrserſcheinungen und deren
Organiſation, wie ſie zwiſchen der Stadt und ihrer ländlichen und weiteren Umgebung
ſich ausbilden, einerlei ob beide ein politiſches Gemeinweſen ausmachen, unter derſelben
Adminiſtration ſtehen oder nicht, die Stadtgebietswirtſchaft oder Stadt-
wirtſchaft
im weiteren Sinne, 2. die geſamte wirtſchaftliche Organiſation der Stadt
an ſich auf dem geographiſchen Boden der Stadtmarkung und auf dem rechtlichen der
ſtädtiſchen Korporations- und Verfaſſungsbildung, die Stadtwirtſchaft im engeren
Sinne, und 3. innerhalb dieſes geſellſchaftlichen Körpers den Stadthaushalt, die
wirtſchaftlich-finanzielle Seite des Stadtregiments. Iſt dieſer dritte, engſte Begriff der
Stadtwirtſchaft das, was uns hier am meiſten intereſſiert, ſo iſt er doch ohne einen
Blick auf die beiden anderen auch nicht verſtändlich.

Die Stadt erwächſt lokal auf einer meiſt die des Dorfes weſentlich übertreffenden
Gemarkung. Die raſch wachſende, in den Stadtmauern eingeſchloſſene Einwohnerſchaft
erhält durch gerichtliche und adminiſtrative Einrichtungen des Stadtherrn, durch Aus-
bildung ihrer älteren genoſſenſchaftlichen Gemeindeverfaſſung, durch das engere Zuſammen-
wohnen und die lebendigen neuen gemeinſamen Wirtſchaftsintereſſen des Marktes, der
Gewerbe und des Handels den Charakter einer komplizierten, aber doch ſehr eng ver-
bundenen Genoſſenſchaft. Aus einer oder mehreren Bauerſchaften, einer oder mehreren
biſchöflichen, königlichen oder klöſterlichen Grundherrſchaften, aus zugewanderten Kauf-
leuten und Handwerkern von weiterher, aus Ackerbauern und Tagelöhnern aus der
Umgegend wurde bald die einheitliche Bürgerſchaft, die auf engem Raume unter dem-
ſelben Stadtherrn, unter demſelben Stadtrechte, ſpäter unter dem aus ihrer Mitte
hervorgehenden Ausſchuſſe, dem Stadtrate, in ihrer mäßigen Größe, in ihrer Ab-
geſchloſſenheit, in ihrem Lokalegoismus, aber auch mit ihrem ſehr ſtarken Lokal-
patriotismus von einheitlichen Gefühlen, von unſchwer zu erkennenden ſtädtiſchen
Geſamtintereſſen beherrſcht iſt.

Der Rat führte den Kampf um die Abſchüttelung der Vormundſchaft des Biſchofs,
des Stadtherrn, ihrer Miniſterialen, um die Beſeitigung ihrer grundherrlichen und
territorialfürſtlichen Tendenzen; er ſtellte die Einheit der verſchiedenen Genoſſenſchaften
und Gruppen, der freien und unfreien Elemente in der Stadt her. Er nahm dem
Stadtherrn und ſeinen Beamten die Thätigkeit für Markt und Münze, für gewerbliche
Hebung, für Handelseinrichtungen aus der Hand und reinigte die ſtädtiſche Verwaltung
von den fiskaliſchen, fürſtlichen und ſonſtigen Nebenzwecken und Mißbräuchen, welche die
ſelbſtändige wirtſchaftliche Blüte der Stadt hinderten. Der Rat wußte über die Stadt
hinaus durch Meilenrecht, Straßenzwang, Verbot des Landhandwerkes, durch Abmachungen
mit den umliegenden Grundherren und Dörfern über Marktbeſuch die Stadt zum wirt-
ſchaftlichen Centrum eines Gebietes zu machen. Dieſe wirtſchaftliche Politik macht ihn
trotz aller Kämpfe zwiſchen Patriciat und Zünften, Groß- und Kleinbürgern zum un-
bedingten Herrn in der Stadt, zum Repräſentanten der Bürgerſchaft und des Stadt-
gebietes, giebt der Stadt gegen König und Fürſten die durch Kämpfe aller Art, durch
Friedensſchlüſſe und teuere Privilegien erſtrittene „Autonomie“. Durch ihn erhält die
Stadt die handlungsfähige Spitze, welche dem Dorfe gefehlt hatte, welche die Genoſſen-
ſchaft nur um den Preis der Unfreiheit erhalten hatte; ſeine Thätigkeit erhebt die Stadt
zur öffentlichrechtlichen Korporation, welche im Stadtſiegel das Symbol ihrer rechtlichen
Perſönlichkeit, in der Stadtkaſſe den Ausdruck des ſelbſtändigen Korporationshaushaltes
bekommt.

Im Stadtrate ſitzen die Spitzen des ſtädtiſchen Patriciats, die erſten Kauf- und
Geſchäftsleute, bald auch die angeſehenſten Zunftmeiſter; die perſönliche Verknüpfung
ihrer Geſchäftsintereſſen und Geſchäftskenntniſſe und ihrer politiſch-adminiſtrativen
Schulung mit ihrem ſtarken Stadtpatriotismus und ihrer vielfach vorhandenen Ehren-
haftigkeit iſt die pſychologiſche Grundlage der Blüte der italieniſchen, deutſchen, fran-
zöſiſchen, niederländiſchen großen Städte vom 12.—16. Jahrhundert. In Venedig
und Genua, in Köln und Lübeck iſt das ſo wie im Amſterdam des 17. Jahrhunderts.

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[294/0310] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. prozeſſe der Einrichtungen und Veranſtaltungen, die wir unter dieſem Begriffe zuſammen- faſſen, dreierlei unterſcheiden können: 1. die Markt- und Verkehrserſcheinungen und deren Organiſation, wie ſie zwiſchen der Stadt und ihrer ländlichen und weiteren Umgebung ſich ausbilden, einerlei ob beide ein politiſches Gemeinweſen ausmachen, unter derſelben Adminiſtration ſtehen oder nicht, die Stadtgebietswirtſchaft oder Stadt- wirtſchaft im weiteren Sinne, 2. die geſamte wirtſchaftliche Organiſation der Stadt an ſich auf dem geographiſchen Boden der Stadtmarkung und auf dem rechtlichen der ſtädtiſchen Korporations- und Verfaſſungsbildung, die Stadtwirtſchaft im engeren Sinne, und 3. innerhalb dieſes geſellſchaftlichen Körpers den Stadthaushalt, die wirtſchaftlich-finanzielle Seite des Stadtregiments. Iſt dieſer dritte, engſte Begriff der Stadtwirtſchaft das, was uns hier am meiſten intereſſiert, ſo iſt er doch ohne einen Blick auf die beiden anderen auch nicht verſtändlich. Die Stadt erwächſt lokal auf einer meiſt die des Dorfes weſentlich übertreffenden Gemarkung. Die raſch wachſende, in den Stadtmauern eingeſchloſſene Einwohnerſchaft erhält durch gerichtliche und adminiſtrative Einrichtungen des Stadtherrn, durch Aus- bildung ihrer älteren genoſſenſchaftlichen Gemeindeverfaſſung, durch das engere Zuſammen- wohnen und die lebendigen neuen gemeinſamen Wirtſchaftsintereſſen des Marktes, der Gewerbe und des Handels den Charakter einer komplizierten, aber doch ſehr eng ver- bundenen Genoſſenſchaft. Aus einer oder mehreren Bauerſchaften, einer oder mehreren biſchöflichen, königlichen oder klöſterlichen Grundherrſchaften, aus zugewanderten Kauf- leuten und Handwerkern von weiterher, aus Ackerbauern und Tagelöhnern aus der Umgegend wurde bald die einheitliche Bürgerſchaft, die auf engem Raume unter dem- ſelben Stadtherrn, unter demſelben Stadtrechte, ſpäter unter dem aus ihrer Mitte hervorgehenden Ausſchuſſe, dem Stadtrate, in ihrer mäßigen Größe, in ihrer Ab- geſchloſſenheit, in ihrem Lokalegoismus, aber auch mit ihrem ſehr ſtarken Lokal- patriotismus von einheitlichen Gefühlen, von unſchwer zu erkennenden ſtädtiſchen Geſamtintereſſen beherrſcht iſt. Der Rat führte den Kampf um die Abſchüttelung der Vormundſchaft des Biſchofs, des Stadtherrn, ihrer Miniſterialen, um die Beſeitigung ihrer grundherrlichen und territorialfürſtlichen Tendenzen; er ſtellte die Einheit der verſchiedenen Genoſſenſchaften und Gruppen, der freien und unfreien Elemente in der Stadt her. Er nahm dem Stadtherrn und ſeinen Beamten die Thätigkeit für Markt und Münze, für gewerbliche Hebung, für Handelseinrichtungen aus der Hand und reinigte die ſtädtiſche Verwaltung von den fiskaliſchen, fürſtlichen und ſonſtigen Nebenzwecken und Mißbräuchen, welche die ſelbſtändige wirtſchaftliche Blüte der Stadt hinderten. Der Rat wußte über die Stadt hinaus durch Meilenrecht, Straßenzwang, Verbot des Landhandwerkes, durch Abmachungen mit den umliegenden Grundherren und Dörfern über Marktbeſuch die Stadt zum wirt- ſchaftlichen Centrum eines Gebietes zu machen. Dieſe wirtſchaftliche Politik macht ihn trotz aller Kämpfe zwiſchen Patriciat und Zünften, Groß- und Kleinbürgern zum un- bedingten Herrn in der Stadt, zum Repräſentanten der Bürgerſchaft und des Stadt- gebietes, giebt der Stadt gegen König und Fürſten die durch Kämpfe aller Art, durch Friedensſchlüſſe und teuere Privilegien erſtrittene „Autonomie“. Durch ihn erhält die Stadt die handlungsfähige Spitze, welche dem Dorfe gefehlt hatte, welche die Genoſſen- ſchaft nur um den Preis der Unfreiheit erhalten hatte; ſeine Thätigkeit erhebt die Stadt zur öffentlichrechtlichen Korporation, welche im Stadtſiegel das Symbol ihrer rechtlichen Perſönlichkeit, in der Stadtkaſſe den Ausdruck des ſelbſtändigen Korporationshaushaltes bekommt. Im Stadtrate ſitzen die Spitzen des ſtädtiſchen Patriciats, die erſten Kauf- und Geſchäftsleute, bald auch die angeſehenſten Zunftmeiſter; die perſönliche Verknüpfung ihrer Geſchäftsintereſſen und Geſchäftskenntniſſe und ihrer politiſch-adminiſtrativen Schulung mit ihrem ſtarken Stadtpatriotismus und ihrer vielfach vorhandenen Ehren- haftigkeit iſt die pſychologiſche Grundlage der Blüte der italieniſchen, deutſchen, fran- zöſiſchen, niederländiſchen großen Städte vom 12.—16. Jahrhundert. In Venedig und Genua, in Köln und Lübeck iſt das ſo wie im Amſterdam des 17. Jahrhunderts.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/310>, abgerufen am 25.04.2024.