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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Das Volkstum, die kirchlichen und wirtschaftlichen Bewußtseinskreise.
Individuen mit abweichender Stimmung, viele kleinere Bewußtseinskreise mit unter sich
verschiedenen und teilweise dem einheitlichen Volksgeist abgewendeten oder gar feindlichen
geistigen Strömungen vorhanden seien. Jedes Dorf, jede Stadt, jede Provinz hat ihren
besonderen Lokalgeist, die socialen Klassen fühlen sich bald in stärkerem, bald in
schwächerem Gegensatz zum nationalen Geist; bestimmte, sich aussondernde Bewußtseins-
kreise beginnen in der Gegenwart in steigendem Maße mit den entsprechenden Kreisen
des Auslandes Fühlung zu suchen und zu erhalten: so die Aristokratie des Grundbesitzes
und des Geldes, die Wissenschaft, die Arbeiterkreise. Jeder Verein, jede Genossenschaft
wird durch einheitliche Interessen und Überzeugungen zusammengehalten, welche nach
innen sympathisch, nach außen abgrenzend oder antipathisch wirken; jede Compagnie
Soldaten, jedes Regiment hat durch den Corpsgeist einen festen Kitt und eine bestimmte
psycho-moralische Färbung. Keine Familie, keine Werkstatt, keine große Unter-
nehmung, kein Markt kann existieren, ohne auf einem eigentümlichen, einheitlichen
Bewußtseinskreis, auf gewissen Gefühlen der Sympathie, des Gemeininteresses, der Ver-
träglichkeit und Übereinstimmung zu ruhen.

Unter den besonderen Bewußtseinskreisen zeichnen sich die religiös-kirchlichen
durch ungewöhnliche Stärke zumal in den älteren Epochen der Geschichte aus; die religiösen
Gefühle erfassen das Gemüt leicht in so tiefer Weise, weil der einfache, natürliche
Mensch gegenüber den unverstandenen Naturgewalten und dem scheinbar blind über ihm
waltenden, Schmerz und Tod bringenden Schicksal meist nur im Glauben an eine höhere
göttliche Macht Ruhe und inneres Glück findet, und ein solcher Glaube nur in der
Gemeinsamkeit großer Kreise seine volle Kraft gewinnt. Die älteste Religion ist Ahnen-
kultus, die ältere Gottesverehrung ist stets an das Stammesleben geknüpft, verstärkt den
Stammesgeist, das nationale Sonderdasein. Nachdem die großen Weltreligionen diese
Begrenzung beseitigt, mit ihren Glaubenswahrheiten an alle Menschen und Rassen sich
gewandt hatten, wurde die Glaubens- und Religionsgemeinschaft neben Rasse, Sprache
und Volkstum eines der wichtigsten Bindemittel, um verschiedene Elemente zusammen-
zufassen, große einheitliche Bewußtseins- und Gesittungskreise zu erzeugen. Ganze
Staaten und Staatenwelten bauten sich auf dieser Grundlage auf, und alle anderen
Lebensgebiete wurden von den Gefühlen und Vorstellungen dieser Kreise mehr oder
weniger berührt und beeinflußt. Erst die neuere Geschichte hat mit dem Zurücktreten
des religiösen Geistes Staaten entstehen lassen, die verschiedene Religionen nebeneinander
dulden. Es können in freien Staaten nur solche sein, die in den Grundzügen des
Glaubens und der Sittenlehre sich sehr nahe stehen, sonst zerreißt der verschiedene Glaube
die unentbehrliche Einheitlichkeit des Volkstums, ähnlich wie große Rassen- und Natio-
nalitätsgegensätze, sowie verschärfte Klassenunterschiede unter Umständen das Leben einer
Nation, eines Staates, einer Volkswirtschaft tödlich bedrohen.

Die wirtschaftlichen Bewußtseinskreise sind ursprünglich mit denen der
Blutsverwandtschaft, der Nachbarschaft, des Stammes identisch. Die gemeinsamen
gleichen Bedürfnisse, die gleichen technischen Kenntnisse und Fertigkeiten bilden den
Grundstock des Gemeinbewußtseins; daneben aber auch die auf sympathischen Gefühlen
beruhenden Familien-, Sippen- und Stammeseinrichtungen wirtschaftlicher Art. Alle
weitere genossenschaftliche oder herrschaftliche Ordnung des Wirtschaftslebens kann nur
Hand in Hand mit der Ausbildung ähnlicher Gefühle und Interessen Leben und Gestalt
gewinnen, muß stets auf gemeinsamen Bewußtseinskreisen sich aufbauen oder solche er-
zeugen. Im Gegensatz hiezu entwickelt sich der Tausch, der Handel, der Geldverkehr
und alles hiemit in der modernen Volkswirtschaft Zusammenhängende an der Hand
individualistischer und egoistischer Triebe, aber doch stets so, daß die Tauschenden, ihren
Sondergewinn suchenden Personen in stärkerer oder schwächerer Weise einen Bewußtseins-
kreis bilden. Gewisse Vorstellungen über die Bedürfnisse, die Brauchbarkeit des zu
Tauschenden, den Wert der Waren und Leistungen, gewisse Regeln, wie man tauscht,
bezahlt, sich während der Geschäfte der Gewaltthaten enthält, müssen ein gemeinsames
Band geschlungen haben, ehe der Verkehr sich entwickeln kann. Wir werden öfter darauf
zurückzukommen haben, wie in dieser Weise die Tauschgesellschaft zwar die Individuen

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Das Volkstum, die kirchlichen und wirtſchaftlichen Bewußtſeinskreiſe.
Individuen mit abweichender Stimmung, viele kleinere Bewußtſeinskreiſe mit unter ſich
verſchiedenen und teilweiſe dem einheitlichen Volksgeiſt abgewendeten oder gar feindlichen
geiſtigen Strömungen vorhanden ſeien. Jedes Dorf, jede Stadt, jede Provinz hat ihren
beſonderen Lokalgeiſt, die ſocialen Klaſſen fühlen ſich bald in ſtärkerem, bald in
ſchwächerem Gegenſatz zum nationalen Geiſt; beſtimmte, ſich ausſondernde Bewußtſeins-
kreiſe beginnen in der Gegenwart in ſteigendem Maße mit den entſprechenden Kreiſen
des Auslandes Fühlung zu ſuchen und zu erhalten: ſo die Ariſtokratie des Grundbeſitzes
und des Geldes, die Wiſſenſchaft, die Arbeiterkreiſe. Jeder Verein, jede Genoſſenſchaft
wird durch einheitliche Intereſſen und Überzeugungen zuſammengehalten, welche nach
innen ſympathiſch, nach außen abgrenzend oder antipathiſch wirken; jede Compagnie
Soldaten, jedes Regiment hat durch den Corpsgeiſt einen feſten Kitt und eine beſtimmte
pſycho-moraliſche Färbung. Keine Familie, keine Werkſtatt, keine große Unter-
nehmung, kein Markt kann exiſtieren, ohne auf einem eigentümlichen, einheitlichen
Bewußtſeinskreis, auf gewiſſen Gefühlen der Sympathie, des Gemeinintereſſes, der Ver-
träglichkeit und Übereinſtimmung zu ruhen.

Unter den beſonderen Bewußtſeinskreiſen zeichnen ſich die religiös-kirchlichen
durch ungewöhnliche Stärke zumal in den älteren Epochen der Geſchichte aus; die religiöſen
Gefühle erfaſſen das Gemüt leicht in ſo tiefer Weiſe, weil der einfache, natürliche
Menſch gegenüber den unverſtandenen Naturgewalten und dem ſcheinbar blind über ihm
waltenden, Schmerz und Tod bringenden Schickſal meiſt nur im Glauben an eine höhere
göttliche Macht Ruhe und inneres Glück findet, und ein ſolcher Glaube nur in der
Gemeinſamkeit großer Kreiſe ſeine volle Kraft gewinnt. Die älteſte Religion iſt Ahnen-
kultus, die ältere Gottesverehrung iſt ſtets an das Stammesleben geknüpft, verſtärkt den
Stammesgeiſt, das nationale Sonderdaſein. Nachdem die großen Weltreligionen dieſe
Begrenzung beſeitigt, mit ihren Glaubenswahrheiten an alle Menſchen und Raſſen ſich
gewandt hatten, wurde die Glaubens- und Religionsgemeinſchaft neben Raſſe, Sprache
und Volkstum eines der wichtigſten Bindemittel, um verſchiedene Elemente zuſammen-
zufaſſen, große einheitliche Bewußtſeins- und Geſittungskreiſe zu erzeugen. Ganze
Staaten und Staatenwelten bauten ſich auf dieſer Grundlage auf, und alle anderen
Lebensgebiete wurden von den Gefühlen und Vorſtellungen dieſer Kreiſe mehr oder
weniger berührt und beeinflußt. Erſt die neuere Geſchichte hat mit dem Zurücktreten
des religiöſen Geiſtes Staaten entſtehen laſſen, die verſchiedene Religionen nebeneinander
dulden. Es können in freien Staaten nur ſolche ſein, die in den Grundzügen des
Glaubens und der Sittenlehre ſich ſehr nahe ſtehen, ſonſt zerreißt der verſchiedene Glaube
die unentbehrliche Einheitlichkeit des Volkstums, ähnlich wie große Raſſen- und Natio-
nalitätsgegenſätze, ſowie verſchärfte Klaſſenunterſchiede unter Umſtänden das Leben einer
Nation, eines Staates, einer Volkswirtſchaft tödlich bedrohen.

Die wirtſchaftlichen Bewußtſeinskreiſe ſind urſprünglich mit denen der
Blutsverwandtſchaft, der Nachbarſchaft, des Stammes identiſch. Die gemeinſamen
gleichen Bedürfniſſe, die gleichen techniſchen Kenntniſſe und Fertigkeiten bilden den
Grundſtock des Gemeinbewußtſeins; daneben aber auch die auf ſympathiſchen Gefühlen
beruhenden Familien-, Sippen- und Stammeseinrichtungen wirtſchaftlicher Art. Alle
weitere genoſſenſchaftliche oder herrſchaftliche Ordnung des Wirtſchaftslebens kann nur
Hand in Hand mit der Ausbildung ähnlicher Gefühle und Intereſſen Leben und Geſtalt
gewinnen, muß ſtets auf gemeinſamen Bewußtſeinskreiſen ſich aufbauen oder ſolche er-
zeugen. Im Gegenſatz hiezu entwickelt ſich der Tauſch, der Handel, der Geldverkehr
und alles hiemit in der modernen Volkswirtſchaft Zuſammenhängende an der Hand
individualiſtiſcher und egoiſtiſcher Triebe, aber doch ſtets ſo, daß die Tauſchenden, ihren
Sondergewinn ſuchenden Perſonen in ſtärkerer oder ſchwächerer Weiſe einen Bewußtſeins-
kreis bilden. Gewiſſe Vorſtellungen über die Bedürfniſſe, die Brauchbarkeit des zu
Tauſchenden, den Wert der Waren und Leiſtungen, gewiſſe Regeln, wie man tauſcht,
bezahlt, ſich während der Geſchäfte der Gewaltthaten enthält, müſſen ein gemeinſames
Band geſchlungen haben, ehe der Verkehr ſich entwickeln kann. Wir werden öfter darauf
zurückzukommen haben, wie in dieſer Weiſe die Tauſchgeſellſchaft zwar die Individuen

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[19/0035] Das Volkstum, die kirchlichen und wirtſchaftlichen Bewußtſeinskreiſe. Individuen mit abweichender Stimmung, viele kleinere Bewußtſeinskreiſe mit unter ſich verſchiedenen und teilweiſe dem einheitlichen Volksgeiſt abgewendeten oder gar feindlichen geiſtigen Strömungen vorhanden ſeien. Jedes Dorf, jede Stadt, jede Provinz hat ihren beſonderen Lokalgeiſt, die ſocialen Klaſſen fühlen ſich bald in ſtärkerem, bald in ſchwächerem Gegenſatz zum nationalen Geiſt; beſtimmte, ſich ausſondernde Bewußtſeins- kreiſe beginnen in der Gegenwart in ſteigendem Maße mit den entſprechenden Kreiſen des Auslandes Fühlung zu ſuchen und zu erhalten: ſo die Ariſtokratie des Grundbeſitzes und des Geldes, die Wiſſenſchaft, die Arbeiterkreiſe. Jeder Verein, jede Genoſſenſchaft wird durch einheitliche Intereſſen und Überzeugungen zuſammengehalten, welche nach innen ſympathiſch, nach außen abgrenzend oder antipathiſch wirken; jede Compagnie Soldaten, jedes Regiment hat durch den Corpsgeiſt einen feſten Kitt und eine beſtimmte pſycho-moraliſche Färbung. Keine Familie, keine Werkſtatt, keine große Unter- nehmung, kein Markt kann exiſtieren, ohne auf einem eigentümlichen, einheitlichen Bewußtſeinskreis, auf gewiſſen Gefühlen der Sympathie, des Gemeinintereſſes, der Ver- träglichkeit und Übereinſtimmung zu ruhen. Unter den beſonderen Bewußtſeinskreiſen zeichnen ſich die religiös-kirchlichen durch ungewöhnliche Stärke zumal in den älteren Epochen der Geſchichte aus; die religiöſen Gefühle erfaſſen das Gemüt leicht in ſo tiefer Weiſe, weil der einfache, natürliche Menſch gegenüber den unverſtandenen Naturgewalten und dem ſcheinbar blind über ihm waltenden, Schmerz und Tod bringenden Schickſal meiſt nur im Glauben an eine höhere göttliche Macht Ruhe und inneres Glück findet, und ein ſolcher Glaube nur in der Gemeinſamkeit großer Kreiſe ſeine volle Kraft gewinnt. Die älteſte Religion iſt Ahnen- kultus, die ältere Gottesverehrung iſt ſtets an das Stammesleben geknüpft, verſtärkt den Stammesgeiſt, das nationale Sonderdaſein. Nachdem die großen Weltreligionen dieſe Begrenzung beſeitigt, mit ihren Glaubenswahrheiten an alle Menſchen und Raſſen ſich gewandt hatten, wurde die Glaubens- und Religionsgemeinſchaft neben Raſſe, Sprache und Volkstum eines der wichtigſten Bindemittel, um verſchiedene Elemente zuſammen- zufaſſen, große einheitliche Bewußtſeins- und Geſittungskreiſe zu erzeugen. Ganze Staaten und Staatenwelten bauten ſich auf dieſer Grundlage auf, und alle anderen Lebensgebiete wurden von den Gefühlen und Vorſtellungen dieſer Kreiſe mehr oder weniger berührt und beeinflußt. Erſt die neuere Geſchichte hat mit dem Zurücktreten des religiöſen Geiſtes Staaten entſtehen laſſen, die verſchiedene Religionen nebeneinander dulden. Es können in freien Staaten nur ſolche ſein, die in den Grundzügen des Glaubens und der Sittenlehre ſich ſehr nahe ſtehen, ſonſt zerreißt der verſchiedene Glaube die unentbehrliche Einheitlichkeit des Volkstums, ähnlich wie große Raſſen- und Natio- nalitätsgegenſätze, ſowie verſchärfte Klaſſenunterſchiede unter Umſtänden das Leben einer Nation, eines Staates, einer Volkswirtſchaft tödlich bedrohen. Die wirtſchaftlichen Bewußtſeinskreiſe ſind urſprünglich mit denen der Blutsverwandtſchaft, der Nachbarſchaft, des Stammes identiſch. Die gemeinſamen gleichen Bedürfniſſe, die gleichen techniſchen Kenntniſſe und Fertigkeiten bilden den Grundſtock des Gemeinbewußtſeins; daneben aber auch die auf ſympathiſchen Gefühlen beruhenden Familien-, Sippen- und Stammeseinrichtungen wirtſchaftlicher Art. Alle weitere genoſſenſchaftliche oder herrſchaftliche Ordnung des Wirtſchaftslebens kann nur Hand in Hand mit der Ausbildung ähnlicher Gefühle und Intereſſen Leben und Geſtalt gewinnen, muß ſtets auf gemeinſamen Bewußtſeinskreiſen ſich aufbauen oder ſolche er- zeugen. Im Gegenſatz hiezu entwickelt ſich der Tauſch, der Handel, der Geldverkehr und alles hiemit in der modernen Volkswirtſchaft Zuſammenhängende an der Hand individualiſtiſcher und egoiſtiſcher Triebe, aber doch ſtets ſo, daß die Tauſchenden, ihren Sondergewinn ſuchenden Perſonen in ſtärkerer oder ſchwächerer Weiſe einen Bewußtſeins- kreis bilden. Gewiſſe Vorſtellungen über die Bedürfniſſe, die Brauchbarkeit des zu Tauſchenden, den Wert der Waren und Leiſtungen, gewiſſe Regeln, wie man tauſcht, bezahlt, ſich während der Geſchäfte der Gewaltthaten enthält, müſſen ein gemeinſames Band geſchlungen haben, ehe der Verkehr ſich entwickeln kann. Wir werden öfter darauf zurückzukommen haben, wie in dieſer Weiſe die Tauſchgeſellſchaft zwar die Individuen 2*

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/35>, abgerufen am 29.03.2024.