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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Der psychologische Ausgangspunkt der Klassenbildung und Klassenhierarchie.

Eine große beschreibende und untersuchende Litteratur hat seit hundert Jahren die
Grundlage zu einer empirischen Klassenlehre gelegt, hat uns über die Einwirkung der
Arbeitsteilung, des Berufes, der Erziehung, der Besitzverteilung auf die Klassenbildung
große Materialien geliefert, hat uns jedenfalls gezeigt, daß, was auch die wesentlichen
Ursachen der Entstehung sein mögen, innerhalb jedes größeren Volkes die Klassenbildung
gleichsam Spielarten des Volkscharakters, verschiedene Typen der körperlichen und
geistigen Konstitution schaffe, die durch Generationen hindurch sich erhalten, trotz des
Wechsels der einzelnen Glieder durch Leben und Tod, durch Eintritt und Austritt.

Wir können vor allem heute eines klar übersehen, nämlich, daß psychologische
Ursachen einfacher Art eine solche sociale Gruppenbildung erzeugen, sobald in einer
größeren Gesellschaft die einzelnen Glieder eine erhebliche Verschiedenheit erreicht haben.
Sei die Ursache der Verschiedenheit nun, welche sie wolle, die Verschiedenheit trennt, die
Gleichheit verbindet. Die gleichen oder nahestehenden Interessen, Gefühle, Vorstellungen
und Ideen erzeugen eine Gruppenbildung; gewisse Gedanken treten über die gemeinsame
Schwelle des Bewußtseins und geben den Kitt. Die gleichen Autoritäten beherrschen
die Gleichen. Das Bedürfnis nach Anerkennung läßt sich in einem solchen Stadium der
gesellschaftlichen Entwickelung für die Mehrzahl am leichtesten im Kreise der Berufs-
genossen befriedigen: es entsteht die Standes- und Berufsehre, die wichtigste Wurzel
aller Klassenbildung. Indem der einzelne in seinem Selbstgefühl von der Achtung der
Standesgenossen abhängig wird, steigert sich das Gefühl der Zugehörigkeit zur socialen
Gruppe. Derartige Anlehnung wird dem einzelnen um so mehr Bedürfnis, je größer
die Volksgemeinschaft geworden, je mehr in ihr die älteren kleineren Unterabteilungen,
die Geschlechts- und Ortsverbände, dem Individuum nicht mehr die erwünschte psychische
Anlehnung und materielle Hülfe in mancherlei Lebenslagen bieten. Es handelt sich um
psychologisch-sociale Bande, welche die einzelnen erst lokal, dann in immer weiterem
Umfange, ursprünglich nur mit einem dunkeln, halb unbewußten Gemeinschaftsgefühl
umschlingen, die bei höherer Kultur je nach dem Maße der Verständigung, des wachsenden
Bewußtseins, des Gegendruckes von außen, des Kampfes um die speciellen Interessen
und der sich vollziehenden äußeren bündischen oder Vereinsorganisation bis zum
schroffsten, exklusivsten, härtesten Klassen- und Standesgeiste sich steigern können.

Ebenso notwendig aber wie die Klassenbildung scheint die Herausbildung einer Klassen-
ordnung, einer Hierarchie der Klassen zu sein. Und zwar nicht bloß, weil bei den meisten
großen Fortschritten der Klassenbildung die eine Gruppe emporsteigt, die andere in ihrer Lage
bleibt oder sinkt, nicht bloß, weil Klassenbildung stets Machtverteilung ist, meist herrschende
und beherrschte Klassen erzeugt. Das wirkt ja mit und spielt zeitweise eine große Rolle,
aber die Erscheinung wird noch durch eine allgemeinere psychologische Thatsache erklärt,
die selbst eine Hauptursache der verschiedenen Macht-, Vermögens- und Einkommens-
verteilung und der daran sich schließenden Rechtsbildungen ist. Wir meinen die Not-
wendigkeit für das menschliche Denken und Fühlen, alle zusammengehörigen Erscheinungen
irgend einer Art in eine Reihe zu bringen und nach ihrem Werte zu schätzen und zu
ordnen. Wie jeder Mensch in seiner Familie, in seinem nächsten Kreise geschätzt wird
nach dem, was er durch seine Persönlichkeit, seinen Besitz, seine Leistungen diesem Kreise
ist, so hat zu allen Zeiten die öffentliche Meinung die arbeitsteiligen Berufsgruppen
und -klassen des ganzen Volkes nach dem gewertet und in ein Rangverhältnis gebracht,
was sie dem Ganzen der Gesellschaft waren oder sind. Natürlich je nach den Zeit-
vorstellungen über das, was in sittlicher, politischer, praktisch-wirtschaftlicher Beziehung
das für die Gesellschaft Wertvollere sei. Die Maßstäbe können die allerverschiedensten,
berechtigten und unberechtigten, rein äußerlichen oder tief in das Wesen dringenden sein.
Nesfield hat uns gezeigt, daß der Rang der indischen Kasten vor allem auf dem Alter
der Beschäftigungen beruht; alle später entstandenen Berufe pflegen höher zu stehen.
G. Simmel hat nachzuweisen gesucht, daß die unteren Klassen überall mehr eine ältere
Zeit mit unentwickelterer Individualität, mit minderwerten Eigenschaften repräsentieren,
daß die höheren Eigenschaften und die größere Leistungsfähigkeit der oberen Gesellschafts-
schicht mit ihrer Specialisierung und Individualisierung zu danken sei. Wie dem aber

Der pſychologiſche Ausgangspunkt der Klaſſenbildung und Klaſſenhierarchie.

Eine große beſchreibende und unterſuchende Litteratur hat ſeit hundert Jahren die
Grundlage zu einer empiriſchen Klaſſenlehre gelegt, hat uns über die Einwirkung der
Arbeitsteilung, des Berufes, der Erziehung, der Beſitzverteilung auf die Klaſſenbildung
große Materialien geliefert, hat uns jedenfalls gezeigt, daß, was auch die weſentlichen
Urſachen der Entſtehung ſein mögen, innerhalb jedes größeren Volkes die Klaſſenbildung
gleichſam Spielarten des Volkscharakters, verſchiedene Typen der körperlichen und
geiſtigen Konſtitution ſchaffe, die durch Generationen hindurch ſich erhalten, trotz des
Wechſels der einzelnen Glieder durch Leben und Tod, durch Eintritt und Austritt.

Wir können vor allem heute eines klar überſehen, nämlich, daß pſychologiſche
Urſachen einfacher Art eine ſolche ſociale Gruppenbildung erzeugen, ſobald in einer
größeren Geſellſchaft die einzelnen Glieder eine erhebliche Verſchiedenheit erreicht haben.
Sei die Urſache der Verſchiedenheit nun, welche ſie wolle, die Verſchiedenheit trennt, die
Gleichheit verbindet. Die gleichen oder naheſtehenden Intereſſen, Gefühle, Vorſtellungen
und Ideen erzeugen eine Gruppenbildung; gewiſſe Gedanken treten über die gemeinſame
Schwelle des Bewußtſeins und geben den Kitt. Die gleichen Autoritäten beherrſchen
die Gleichen. Das Bedürfnis nach Anerkennung läßt ſich in einem ſolchen Stadium der
geſellſchaftlichen Entwickelung für die Mehrzahl am leichteſten im Kreiſe der Berufs-
genoſſen befriedigen: es entſteht die Standes- und Berufsehre, die wichtigſte Wurzel
aller Klaſſenbildung. Indem der einzelne in ſeinem Selbſtgefühl von der Achtung der
Standesgenoſſen abhängig wird, ſteigert ſich das Gefühl der Zugehörigkeit zur ſocialen
Gruppe. Derartige Anlehnung wird dem einzelnen um ſo mehr Bedürfnis, je größer
die Volksgemeinſchaft geworden, je mehr in ihr die älteren kleineren Unterabteilungen,
die Geſchlechts- und Ortsverbände, dem Individuum nicht mehr die erwünſchte pſychiſche
Anlehnung und materielle Hülfe in mancherlei Lebenslagen bieten. Es handelt ſich um
pſychologiſch-ſociale Bande, welche die einzelnen erſt lokal, dann in immer weiterem
Umfange, urſprünglich nur mit einem dunkeln, halb unbewußten Gemeinſchaftsgefühl
umſchlingen, die bei höherer Kultur je nach dem Maße der Verſtändigung, des wachſenden
Bewußtſeins, des Gegendruckes von außen, des Kampfes um die ſpeciellen Intereſſen
und der ſich vollziehenden äußeren bündiſchen oder Vereinsorganiſation bis zum
ſchroffſten, exkluſivſten, härteſten Klaſſen- und Standesgeiſte ſich ſteigern können.

Ebenſo notwendig aber wie die Klaſſenbildung ſcheint die Herausbildung einer Klaſſen-
ordnung, einer Hierarchie der Klaſſen zu ſein. Und zwar nicht bloß, weil bei den meiſten
großen Fortſchritten der Klaſſenbildung die eine Gruppe emporſteigt, die andere in ihrer Lage
bleibt oder ſinkt, nicht bloß, weil Klaſſenbildung ſtets Machtverteilung iſt, meiſt herrſchende
und beherrſchte Klaſſen erzeugt. Das wirkt ja mit und ſpielt zeitweiſe eine große Rolle,
aber die Erſcheinung wird noch durch eine allgemeinere pſychologiſche Thatſache erklärt,
die ſelbſt eine Haupturſache der verſchiedenen Macht-, Vermögens- und Einkommens-
verteilung und der daran ſich ſchließenden Rechtsbildungen iſt. Wir meinen die Not-
wendigkeit für das menſchliche Denken und Fühlen, alle zuſammengehörigen Erſcheinungen
irgend einer Art in eine Reihe zu bringen und nach ihrem Werte zu ſchätzen und zu
ordnen. Wie jeder Menſch in ſeiner Familie, in ſeinem nächſten Kreiſe geſchätzt wird
nach dem, was er durch ſeine Perſönlichkeit, ſeinen Beſitz, ſeine Leiſtungen dieſem Kreiſe
iſt, ſo hat zu allen Zeiten die öffentliche Meinung die arbeitsteiligen Berufsgruppen
und -klaſſen des ganzen Volkes nach dem gewertet und in ein Rangverhältnis gebracht,
was ſie dem Ganzen der Geſellſchaft waren oder ſind. Natürlich je nach den Zeit-
vorſtellungen über das, was in ſittlicher, politiſcher, praktiſch-wirtſchaftlicher Beziehung
das für die Geſellſchaft Wertvollere ſei. Die Maßſtäbe können die allerverſchiedenſten,
berechtigten und unberechtigten, rein äußerlichen oder tief in das Weſen dringenden ſein.
Nesfield hat uns gezeigt, daß der Rang der indiſchen Kaſten vor allem auf dem Alter
der Beſchäftigungen beruht; alle ſpäter entſtandenen Berufe pflegen höher zu ſtehen.
G. Simmel hat nachzuweiſen geſucht, daß die unteren Klaſſen überall mehr eine ältere
Zeit mit unentwickelterer Individualität, mit minderwerten Eigenſchaften repräſentieren,
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ſchicht mit ihrer Specialiſierung und Individualiſierung zu danken ſei. Wie dem aber

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[393/0409] Der pſychologiſche Ausgangspunkt der Klaſſenbildung und Klaſſenhierarchie. Eine große beſchreibende und unterſuchende Litteratur hat ſeit hundert Jahren die Grundlage zu einer empiriſchen Klaſſenlehre gelegt, hat uns über die Einwirkung der Arbeitsteilung, des Berufes, der Erziehung, der Beſitzverteilung auf die Klaſſenbildung große Materialien geliefert, hat uns jedenfalls gezeigt, daß, was auch die weſentlichen Urſachen der Entſtehung ſein mögen, innerhalb jedes größeren Volkes die Klaſſenbildung gleichſam Spielarten des Volkscharakters, verſchiedene Typen der körperlichen und geiſtigen Konſtitution ſchaffe, die durch Generationen hindurch ſich erhalten, trotz des Wechſels der einzelnen Glieder durch Leben und Tod, durch Eintritt und Austritt. Wir können vor allem heute eines klar überſehen, nämlich, daß pſychologiſche Urſachen einfacher Art eine ſolche ſociale Gruppenbildung erzeugen, ſobald in einer größeren Geſellſchaft die einzelnen Glieder eine erhebliche Verſchiedenheit erreicht haben. Sei die Urſache der Verſchiedenheit nun, welche ſie wolle, die Verſchiedenheit trennt, die Gleichheit verbindet. Die gleichen oder naheſtehenden Intereſſen, Gefühle, Vorſtellungen und Ideen erzeugen eine Gruppenbildung; gewiſſe Gedanken treten über die gemeinſame Schwelle des Bewußtſeins und geben den Kitt. Die gleichen Autoritäten beherrſchen die Gleichen. Das Bedürfnis nach Anerkennung läßt ſich in einem ſolchen Stadium der geſellſchaftlichen Entwickelung für die Mehrzahl am leichteſten im Kreiſe der Berufs- genoſſen befriedigen: es entſteht die Standes- und Berufsehre, die wichtigſte Wurzel aller Klaſſenbildung. Indem der einzelne in ſeinem Selbſtgefühl von der Achtung der Standesgenoſſen abhängig wird, ſteigert ſich das Gefühl der Zugehörigkeit zur ſocialen Gruppe. Derartige Anlehnung wird dem einzelnen um ſo mehr Bedürfnis, je größer die Volksgemeinſchaft geworden, je mehr in ihr die älteren kleineren Unterabteilungen, die Geſchlechts- und Ortsverbände, dem Individuum nicht mehr die erwünſchte pſychiſche Anlehnung und materielle Hülfe in mancherlei Lebenslagen bieten. Es handelt ſich um pſychologiſch-ſociale Bande, welche die einzelnen erſt lokal, dann in immer weiterem Umfange, urſprünglich nur mit einem dunkeln, halb unbewußten Gemeinſchaftsgefühl umſchlingen, die bei höherer Kultur je nach dem Maße der Verſtändigung, des wachſenden Bewußtſeins, des Gegendruckes von außen, des Kampfes um die ſpeciellen Intereſſen und der ſich vollziehenden äußeren bündiſchen oder Vereinsorganiſation bis zum ſchroffſten, exkluſivſten, härteſten Klaſſen- und Standesgeiſte ſich ſteigern können. Ebenſo notwendig aber wie die Klaſſenbildung ſcheint die Herausbildung einer Klaſſen- ordnung, einer Hierarchie der Klaſſen zu ſein. Und zwar nicht bloß, weil bei den meiſten großen Fortſchritten der Klaſſenbildung die eine Gruppe emporſteigt, die andere in ihrer Lage bleibt oder ſinkt, nicht bloß, weil Klaſſenbildung ſtets Machtverteilung iſt, meiſt herrſchende und beherrſchte Klaſſen erzeugt. Das wirkt ja mit und ſpielt zeitweiſe eine große Rolle, aber die Erſcheinung wird noch durch eine allgemeinere pſychologiſche Thatſache erklärt, die ſelbſt eine Haupturſache der verſchiedenen Macht-, Vermögens- und Einkommens- verteilung und der daran ſich ſchließenden Rechtsbildungen iſt. Wir meinen die Not- wendigkeit für das menſchliche Denken und Fühlen, alle zuſammengehörigen Erſcheinungen irgend einer Art in eine Reihe zu bringen und nach ihrem Werte zu ſchätzen und zu ordnen. Wie jeder Menſch in ſeiner Familie, in ſeinem nächſten Kreiſe geſchätzt wird nach dem, was er durch ſeine Perſönlichkeit, ſeinen Beſitz, ſeine Leiſtungen dieſem Kreiſe iſt, ſo hat zu allen Zeiten die öffentliche Meinung die arbeitsteiligen Berufsgruppen und -klaſſen des ganzen Volkes nach dem gewertet und in ein Rangverhältnis gebracht, was ſie dem Ganzen der Geſellſchaft waren oder ſind. Natürlich je nach den Zeit- vorſtellungen über das, was in ſittlicher, politiſcher, praktiſch-wirtſchaftlicher Beziehung das für die Geſellſchaft Wertvollere ſei. Die Maßſtäbe können die allerverſchiedenſten, berechtigten und unberechtigten, rein äußerlichen oder tief in das Weſen dringenden ſein. Nesfield hat uns gezeigt, daß der Rang der indiſchen Kaſten vor allem auf dem Alter der Beſchäftigungen beruht; alle ſpäter entſtandenen Berufe pflegen höher zu ſtehen. G. Simmel hat nachzuweiſen geſucht, daß die unteren Klaſſen überall mehr eine ältere Zeit mit unentwickelterer Individualität, mit minderwerten Eigenſchaften repräſentieren, daß die höheren Eigenſchaften und die größere Leiſtungsfähigkeit der oberen Geſellſchafts- ſchicht mit ihrer Specialiſierung und Individualiſierung zu danken ſei. Wie dem aber

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/409>, abgerufen am 25.04.2024.