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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.

Die Erblichkeit der Berufe und Beschäftigungen ist so in primitiver Zeit überall
vorhanden, und sie erscheint als Gebot der Erhaltung jeder höheren Fertigkeit. Spencer
sagt, Nachfolge durch Vererbung der Stellungen und Funktionen sei das Princip der
socialen Dauerhaftigkeit; er meint damit, wo die Befestigung des Bestehenden die Haupt-
sache sei, werde sie sich einstellen und erhalten, sei sie berechtigt.

Haben wir so eine thatsächliche Erblichkeit der ersten arbeitsteiligen Berufe aller-
wärts anzunehmen, so ist die Frage damit noch nicht entschieden, wie wir uns das
sogenannte ägyptische und indische ältere Kastenwesen zu denken haben. Nach den neueren
Forschungen hat in Ägypten wohl auch nur die thatsächliche Regel geherrscht, daß der
Sohn das Gewerbe des Vaters ergriff; es bestand aber kein absoluter Berufszwang
und ebensowenig ein ausschließliches gegenseitiges Eheverbot für alle Kasten, jedenfalls
nicht in der älteren Zeit.

In Indien haben seit den Eroberungen der Arias im Gangesthal (von 1400 bis
gegen 600 v. Chr.) gewisse sich zusammenschließende Priestergeschlechter es verstanden,
sich weit über die Krieger und die Masse des Volkes zu erheben und im Hinblick auf
eine degenerierende Rassenmischung mit den schwarzen Eingeborenen die religiöse Lehre zu
verbreiten, daß eine göttliche Ordnung die Klassen der Priester und Krieger vom übrigen
Volke getrennt habe, daß Blutsmischung mit den schwarzen Sudras strafwürdig, daß die
Auflehnung gegen die strenge Kastenscheidung Auflehnung gegen die göttliche Ordnung
der Dinge sei. Als Vorsitzende der Totenmahle der Geschlechtsverbände beherrschten sie
von da bis heute alle Ehen, wie alles Leben der Inder. Jeder Brahmane, der sich
in einem Dorfe von dunkelfarbigen Eingeborenen festsetzt, bringt heute noch die Kasten-
anschauungen mit sich und zur Geltung. Aber die Ehegemeinschaft zwischen den drei
ersten Klassen, die derselben Rasse angehören, hat bestanden, bis die Priester auf dem
Höhepunkt ihrer Macht angelangt waren, und auch später galt nur der Satz, daß jeder
seine erste Frau aus seiner Kaste nehmen solle, daß die Kinder von Frauen niederer
Kaste in die niedrigsten unter den Sudras stehenden Kasten fallen. Der Sohn des
Brahmanen wurde Priester nur, wenn er die priesterlichen Schulen durchgemacht hatte,
er konnte stets andere Berufe ergreifen; nur gewisse Thätigkeiten waren als unehrliche
oder unanständige für ihn ausgeschlossen. Die Krieger haben nie in demselben Maße
wie die Priester sich abgeschlossen, haben stets neue Elemente in sich aufgenommen,
haben daneben als Bauern gelebt, andere Berufe ergriffen, ohne freilich damit ihr
Standesgefühl, ihr Standesrecht ganz aufzugeben. Die übrigen Klassen der arisch-
indischen Bevölkerung haben in ältester Zeit wohl nur im Gesetzbuch Menus, nicht
in Wirklichkeit, sich als Kaste gefühlt und entsprechende Sitten und Rechtssatzungen
gehabt.

Wenn trotzdem im Laufe der Jahrhunderte die gesellschaftliche Klassenabsonderung
unter dem von den Brahmanen gegebenen Impuls immer weiter und bis zur schärfsten
rechtlichen und geschlechtlichen Absonderung ging, wenn nach der Volkszählung von
1872 fast überall einige Hundert, in Madras 3900 Kasten, zerfallend in 309 Hauptkasten
gezählt wurden, wenn von den 140 Mill. der Hindubevölkerung die großen 149 Kasten
(mit je über 100 000 Mitgliedern) allein 115 Mill. ausmachten, auch von den 40 Mill.
Muhamedanern 12--13 in Kastenverbänden leben, so scheint das folgende Ursachen zu
haben. Zunächst haben sich wie kaum irgend wo sonst die uralten Stammes- und
Geschlechtsverbände erhalten; die verschiedenen Brahmanenkasten, die untereinander nicht
heiraten, sind heute wesentlich solche Gruppen; aber auch sonst sind Rassen-, Bluts-,
Familienverbände ein Hauptelement des sogenannten Kastenwesens. Dann wuchert in
Indien in üppigster Weise das Sektenwesen mit seiner Ausschließlichkeit; jede Sekte hat
die Neigung, zur Kaste zu verhärten; ausschließliche religiöse Bräuche bilden ein
wichtiges Element des socialen Lebens in Indien. Endlich und das scheint die Haupt-
sache: die gildenartige Berufsgliederung spielt seit uralten Zeiten eine Rolle, ist aber
bis auf den heutigen Tag eher in Zunahme als in Abnahme begriffen; vielfach mit
Rassen- und Blutsgegensätzen zusammenfallend sind die durch gleiche Beschäftigung
gebildeten Kasten in steter Umbildung, Spaltung, Neuerung begriffen. Jede Kaste strebt

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.

Die Erblichkeit der Berufe und Beſchäftigungen iſt ſo in primitiver Zeit überall
vorhanden, und ſie erſcheint als Gebot der Erhaltung jeder höheren Fertigkeit. Spencer
ſagt, Nachfolge durch Vererbung der Stellungen und Funktionen ſei das Princip der
ſocialen Dauerhaftigkeit; er meint damit, wo die Befeſtigung des Beſtehenden die Haupt-
ſache ſei, werde ſie ſich einſtellen und erhalten, ſei ſie berechtigt.

Haben wir ſo eine thatſächliche Erblichkeit der erſten arbeitsteiligen Berufe aller-
wärts anzunehmen, ſo iſt die Frage damit noch nicht entſchieden, wie wir uns das
ſogenannte ägyptiſche und indiſche ältere Kaſtenweſen zu denken haben. Nach den neueren
Forſchungen hat in Ägypten wohl auch nur die thatſächliche Regel geherrſcht, daß der
Sohn das Gewerbe des Vaters ergriff; es beſtand aber kein abſoluter Berufszwang
und ebenſowenig ein ausſchließliches gegenſeitiges Eheverbot für alle Kaſten, jedenfalls
nicht in der älteren Zeit.

In Indien haben ſeit den Eroberungen der Arias im Gangesthal (von 1400 bis
gegen 600 v. Chr.) gewiſſe ſich zuſammenſchließende Prieſtergeſchlechter es verſtanden,
ſich weit über die Krieger und die Maſſe des Volkes zu erheben und im Hinblick auf
eine degenerierende Raſſenmiſchung mit den ſchwarzen Eingeborenen die religiöſe Lehre zu
verbreiten, daß eine göttliche Ordnung die Klaſſen der Prieſter und Krieger vom übrigen
Volke getrennt habe, daß Blutsmiſchung mit den ſchwarzen Sudras ſtrafwürdig, daß die
Auflehnung gegen die ſtrenge Kaſtenſcheidung Auflehnung gegen die göttliche Ordnung
der Dinge ſei. Als Vorſitzende der Totenmahle der Geſchlechtsverbände beherrſchten ſie
von da bis heute alle Ehen, wie alles Leben der Inder. Jeder Brahmane, der ſich
in einem Dorfe von dunkelfarbigen Eingeborenen feſtſetzt, bringt heute noch die Kaſten-
anſchauungen mit ſich und zur Geltung. Aber die Ehegemeinſchaft zwiſchen den drei
erſten Klaſſen, die derſelben Raſſe angehören, hat beſtanden, bis die Prieſter auf dem
Höhepunkt ihrer Macht angelangt waren, und auch ſpäter galt nur der Satz, daß jeder
ſeine erſte Frau aus ſeiner Kaſte nehmen ſolle, daß die Kinder von Frauen niederer
Kaſte in die niedrigſten unter den Sudras ſtehenden Kaſten fallen. Der Sohn des
Brahmanen wurde Prieſter nur, wenn er die prieſterlichen Schulen durchgemacht hatte,
er konnte ſtets andere Berufe ergreifen; nur gewiſſe Thätigkeiten waren als unehrliche
oder unanſtändige für ihn ausgeſchloſſen. Die Krieger haben nie in demſelben Maße
wie die Prieſter ſich abgeſchloſſen, haben ſtets neue Elemente in ſich aufgenommen,
haben daneben als Bauern gelebt, andere Berufe ergriffen, ohne freilich damit ihr
Standesgefühl, ihr Standesrecht ganz aufzugeben. Die übrigen Klaſſen der ariſch-
indiſchen Bevölkerung haben in älteſter Zeit wohl nur im Geſetzbuch Menus, nicht
in Wirklichkeit, ſich als Kaſte gefühlt und entſprechende Sitten und Rechtsſatzungen
gehabt.

Wenn trotzdem im Laufe der Jahrhunderte die geſellſchaftliche Klaſſenabſonderung
unter dem von den Brahmanen gegebenen Impuls immer weiter und bis zur ſchärfſten
rechtlichen und geſchlechtlichen Abſonderung ging, wenn nach der Volkszählung von
1872 faſt überall einige Hundert, in Madras 3900 Kaſten, zerfallend in 309 Hauptkaſten
gezählt wurden, wenn von den 140 Mill. der Hindubevölkerung die großen 149 Kaſten
(mit je über 100 000 Mitgliedern) allein 115 Mill. ausmachten, auch von den 40 Mill.
Muhamedanern 12—13 in Kaſtenverbänden leben, ſo ſcheint das folgende Urſachen zu
haben. Zunächſt haben ſich wie kaum irgend wo ſonſt die uralten Stammes- und
Geſchlechtsverbände erhalten; die verſchiedenen Brahmanenkaſten, die untereinander nicht
heiraten, ſind heute weſentlich ſolche Gruppen; aber auch ſonſt ſind Raſſen-, Bluts-,
Familienverbände ein Hauptelement des ſogenannten Kaſtenweſens. Dann wuchert in
Indien in üppigſter Weiſe das Sektenweſen mit ſeiner Ausſchließlichkeit; jede Sekte hat
die Neigung, zur Kaſte zu verhärten; ausſchließliche religiöſe Bräuche bilden ein
wichtiges Element des ſocialen Lebens in Indien. Endlich und das ſcheint die Haupt-
ſache: die gildenartige Berufsgliederung ſpielt ſeit uralten Zeiten eine Rolle, iſt aber
bis auf den heutigen Tag eher in Zunahme als in Abnahme begriffen; vielfach mit
Raſſen- und Blutsgegenſätzen zuſammenfallend ſind die durch gleiche Beſchäftigung
gebildeten Kaſten in ſteter Umbildung, Spaltung, Neuerung begriffen. Jede Kaſte ſtrebt

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[400/0416] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. Die Erblichkeit der Berufe und Beſchäftigungen iſt ſo in primitiver Zeit überall vorhanden, und ſie erſcheint als Gebot der Erhaltung jeder höheren Fertigkeit. Spencer ſagt, Nachfolge durch Vererbung der Stellungen und Funktionen ſei das Princip der ſocialen Dauerhaftigkeit; er meint damit, wo die Befeſtigung des Beſtehenden die Haupt- ſache ſei, werde ſie ſich einſtellen und erhalten, ſei ſie berechtigt. Haben wir ſo eine thatſächliche Erblichkeit der erſten arbeitsteiligen Berufe aller- wärts anzunehmen, ſo iſt die Frage damit noch nicht entſchieden, wie wir uns das ſogenannte ägyptiſche und indiſche ältere Kaſtenweſen zu denken haben. Nach den neueren Forſchungen hat in Ägypten wohl auch nur die thatſächliche Regel geherrſcht, daß der Sohn das Gewerbe des Vaters ergriff; es beſtand aber kein abſoluter Berufszwang und ebenſowenig ein ausſchließliches gegenſeitiges Eheverbot für alle Kaſten, jedenfalls nicht in der älteren Zeit. In Indien haben ſeit den Eroberungen der Arias im Gangesthal (von 1400 bis gegen 600 v. Chr.) gewiſſe ſich zuſammenſchließende Prieſtergeſchlechter es verſtanden, ſich weit über die Krieger und die Maſſe des Volkes zu erheben und im Hinblick auf eine degenerierende Raſſenmiſchung mit den ſchwarzen Eingeborenen die religiöſe Lehre zu verbreiten, daß eine göttliche Ordnung die Klaſſen der Prieſter und Krieger vom übrigen Volke getrennt habe, daß Blutsmiſchung mit den ſchwarzen Sudras ſtrafwürdig, daß die Auflehnung gegen die ſtrenge Kaſtenſcheidung Auflehnung gegen die göttliche Ordnung der Dinge ſei. Als Vorſitzende der Totenmahle der Geſchlechtsverbände beherrſchten ſie von da bis heute alle Ehen, wie alles Leben der Inder. Jeder Brahmane, der ſich in einem Dorfe von dunkelfarbigen Eingeborenen feſtſetzt, bringt heute noch die Kaſten- anſchauungen mit ſich und zur Geltung. Aber die Ehegemeinſchaft zwiſchen den drei erſten Klaſſen, die derſelben Raſſe angehören, hat beſtanden, bis die Prieſter auf dem Höhepunkt ihrer Macht angelangt waren, und auch ſpäter galt nur der Satz, daß jeder ſeine erſte Frau aus ſeiner Kaſte nehmen ſolle, daß die Kinder von Frauen niederer Kaſte in die niedrigſten unter den Sudras ſtehenden Kaſten fallen. Der Sohn des Brahmanen wurde Prieſter nur, wenn er die prieſterlichen Schulen durchgemacht hatte, er konnte ſtets andere Berufe ergreifen; nur gewiſſe Thätigkeiten waren als unehrliche oder unanſtändige für ihn ausgeſchloſſen. Die Krieger haben nie in demſelben Maße wie die Prieſter ſich abgeſchloſſen, haben ſtets neue Elemente in ſich aufgenommen, haben daneben als Bauern gelebt, andere Berufe ergriffen, ohne freilich damit ihr Standesgefühl, ihr Standesrecht ganz aufzugeben. Die übrigen Klaſſen der ariſch- indiſchen Bevölkerung haben in älteſter Zeit wohl nur im Geſetzbuch Menus, nicht in Wirklichkeit, ſich als Kaſte gefühlt und entſprechende Sitten und Rechtsſatzungen gehabt. Wenn trotzdem im Laufe der Jahrhunderte die geſellſchaftliche Klaſſenabſonderung unter dem von den Brahmanen gegebenen Impuls immer weiter und bis zur ſchärfſten rechtlichen und geſchlechtlichen Abſonderung ging, wenn nach der Volkszählung von 1872 faſt überall einige Hundert, in Madras 3900 Kaſten, zerfallend in 309 Hauptkaſten gezählt wurden, wenn von den 140 Mill. der Hindubevölkerung die großen 149 Kaſten (mit je über 100 000 Mitgliedern) allein 115 Mill. ausmachten, auch von den 40 Mill. Muhamedanern 12—13 in Kaſtenverbänden leben, ſo ſcheint das folgende Urſachen zu haben. Zunächſt haben ſich wie kaum irgend wo ſonſt die uralten Stammes- und Geſchlechtsverbände erhalten; die verſchiedenen Brahmanenkaſten, die untereinander nicht heiraten, ſind heute weſentlich ſolche Gruppen; aber auch ſonſt ſind Raſſen-, Bluts-, Familienverbände ein Hauptelement des ſogenannten Kaſtenweſens. Dann wuchert in Indien in üppigſter Weiſe das Sektenweſen mit ſeiner Ausſchließlichkeit; jede Sekte hat die Neigung, zur Kaſte zu verhärten; ausſchließliche religiöſe Bräuche bilden ein wichtiges Element des ſocialen Lebens in Indien. Endlich und das ſcheint die Haupt- ſache: die gildenartige Berufsgliederung ſpielt ſeit uralten Zeiten eine Rolle, iſt aber bis auf den heutigen Tag eher in Zunahme als in Abnahme begriffen; vielfach mit Raſſen- und Blutsgegenſätzen zuſammenfallend ſind die durch gleiche Beſchäftigung gebildeten Kaſten in ſteter Umbildung, Spaltung, Neuerung begriffen. Jede Kaſte ſtrebt

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/416>, abgerufen am 16.04.2024.