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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Der Kampf gegen die Erblichkeit der Berufe und das Ständetum.
ließ in übertriebener enger Arbeitsteilung die Familien und Individuen verknöchern.
Die Erblichkeit und die Vorrechte der höher stehenden Berufe, die einst nötig gewesen
waren, um Erfahrung, Talent und Besitz in gewissen engeren Kreisen anzuhäufen und
zu erhalten, wurden jetzt gegenüber den emporstrebenden anderen Klassen ein Unrecht.
Die ständische erbliche Rechtsordnung gab Leuten Klassenvorrechte, welche weder die
Eigenschaften hatten, noch den Beruf mehr übten, wegen dessen die Vorrechte einst erteilt
worden waren. Jede älter gewordene Klassenordnung hat, je mehr sie in Geburts-
und ständischen Vorrechten sich fixiert, desto mehr die Tendenz, alle Ämter- und Stellen-
besetzung, alle Zugänge zum Erwerb im egoistischen Sonderinteresse zu fixieren. Je
länger das dauert, desto weniger erhalten sich in diesen Klassen die Eigenschaften der
Ahnen, durch welche diese emporgekommen waren (siehe oben Erbrecht S. 384). Andere
Klassen und die fähigen Talente aus allen Kreisen streben empor; die ständischen Ein-
richtungen wollen das hemmen. Die ganze sociale Rechtsordnung mit ihren erblichen
Vorrechten, ihren Ehehindernissen, ihren Privilegien erscheint als ein großes, nicht mehr
zu duldendes Unrecht.

Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart hat die wirtschaftliche und die Ideen-
entwickelung darauf hingearbeitet, die alte ständische Klassenordnung zu beseitigen. Neue
aristokratische Kreise entstanden, die ihre Stellung durch ihre persönlichen Eigenschaften
und Leistungen legitimierten: die Kaufleute, Fabrikanten und Bankiers, der Beamten-
und Offiziersstand; das mittlere Bürgertum erhob sich, lernte rechnen, schreiben, bildete
die Technik und das Geschäftsleben aus, forderte Gleichberechtigung; die arbeitenden
Klassen erlangten persönliche Freiheit, Rechts- und Steuergleichheit mit den höheren;
und wenn sie auch zunächst dem Mittelstande noch nachstehen, heben sie sich doch sicher und
gleichmäßig an Gesittung, Bildung und technischer Leistungsfähigkeit. Edelmann, Bauer
und Bürger erlangen die Freiheit des Grundstücksverkehrs; alle Klassen setzen Frei-
zügigkeit, Ehefreiheit, Gewerbefreiheit, Zugang zu allen Ämtern, Berufen und Arbeits-
thätigkeiten durch, sofern der einzelne nur die Vorbedingungen, welche der Beruf an
die Ausbildung stellt, erfüllt. Derartiges entsprach den Ideen des Christentums, des
abstrakten römischen Rechts, den Idealen der Humanität und Aufklärung, wie sie
1700--1850 vorherrschten. Die Geldwirtschaft und der moderne Verkehr erleichterten
und förderten die neuere Beweglichkeit und Flüssigkeit der Gesellschaft.

Die Möglichkeit zu dieser großen Veränderung trotz der großen Besitzungleichheit,
trotz aller bestehenden Vorurteile, trotz aller sich einstellenden Schwierigkeiten und Miß-
bräuche ergab sich durch das veränderte Erziehungswesen. Wie wir erwähnt, lag alle
ältere menschliche und technische Erziehung bis ins spätere Mittelalter für die Mehrzahl
der Menschen in der Familie. Nur die Kirche hatte in ihren Kirchen- und Kloster-
schulen eine neue Art der Erziehung geschaffen, die neben dem Fürstensohne auch Bauern-
und Tagelöhnersöhne emporhob. Das Institut der handwerksmäßigen Lehrlingschaft,
von 1300--1800 ausgebildet, war in seinem Kerne auch familienhaft, hatte aber mehr
und mehr sich auch auf Nachbarskinder in der Stadt, teilweise sogar auf Bauernsöhne
ausgedehnt. Die Kunst des Lesens, Schreibens und Rechnens, bis ins 14. Jahrhundert
auf Priester beschränkt, ging vom 14.--18. Jahrhundert in den Kloster- und Stadt-
schulen auf den Landadel, die Stadtkinder, die Beamten über, hatte gewissermaßen eine
neue, schriftkundige Aristokratie geschaffen. Die höheren Schulen und Universitäten
hatten die Scheidung der homines litterati von den übrigen Menschen gesteigert. Die
nicht daran teilnehmenden unteren Klassen waren dadurch wesentlich noch herabgedrückt
worden. Die Reformation hat dann aber den Gedanken der allgemeinen Volksschule
erzeugt, die folgenden Jahrhunderte, hauptsächlich die Zeit von 1750--1870, haben ihn
praktisch durchgeführt und damit eine der wichtigsten socialen Scheidewände zwar nicht
beseitigt, aber doch zum Teil abgetragen. Das neuere Volksschulwesen, die wenigstens
teilweise Zugänglichmachung der mittleren und höheren gelehrten und praktischen Schulen
auch für weitere Kreise hat gegenüber der früher engen Art der Überlieferung von
Kenntnissen und Fähigkeiten eine neue, breitere Bildung, eine nivellierte Gesellschaft da
geschaffen, wo diese Institutionen sachgemäß durchgeführt wurden. So war durch die

Der Kampf gegen die Erblichkeit der Berufe und das Ständetum.
ließ in übertriebener enger Arbeitsteilung die Familien und Individuen verknöchern.
Die Erblichkeit und die Vorrechte der höher ſtehenden Berufe, die einſt nötig geweſen
waren, um Erfahrung, Talent und Beſitz in gewiſſen engeren Kreiſen anzuhäufen und
zu erhalten, wurden jetzt gegenüber den emporſtrebenden anderen Klaſſen ein Unrecht.
Die ſtändiſche erbliche Rechtsordnung gab Leuten Klaſſenvorrechte, welche weder die
Eigenſchaften hatten, noch den Beruf mehr übten, wegen deſſen die Vorrechte einſt erteilt
worden waren. Jede älter gewordene Klaſſenordnung hat, je mehr ſie in Geburts-
und ſtändiſchen Vorrechten ſich fixiert, deſto mehr die Tendenz, alle Ämter- und Stellen-
beſetzung, alle Zugänge zum Erwerb im egoiſtiſchen Sonderintereſſe zu fixieren. Je
länger das dauert, deſto weniger erhalten ſich in dieſen Klaſſen die Eigenſchaften der
Ahnen, durch welche dieſe emporgekommen waren (ſiehe oben Erbrecht S. 384). Andere
Klaſſen und die fähigen Talente aus allen Kreiſen ſtreben empor; die ſtändiſchen Ein-
richtungen wollen das hemmen. Die ganze ſociale Rechtsordnung mit ihren erblichen
Vorrechten, ihren Ehehinderniſſen, ihren Privilegien erſcheint als ein großes, nicht mehr
zu duldendes Unrecht.

Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart hat die wirtſchaftliche und die Ideen-
entwickelung darauf hingearbeitet, die alte ſtändiſche Klaſſenordnung zu beſeitigen. Neue
ariſtokratiſche Kreiſe entſtanden, die ihre Stellung durch ihre perſönlichen Eigenſchaften
und Leiſtungen legitimierten: die Kaufleute, Fabrikanten und Bankiers, der Beamten-
und Offiziersſtand; das mittlere Bürgertum erhob ſich, lernte rechnen, ſchreiben, bildete
die Technik und das Geſchäftsleben aus, forderte Gleichberechtigung; die arbeitenden
Klaſſen erlangten perſönliche Freiheit, Rechts- und Steuergleichheit mit den höheren;
und wenn ſie auch zunächſt dem Mittelſtande noch nachſtehen, heben ſie ſich doch ſicher und
gleichmäßig an Geſittung, Bildung und techniſcher Leiſtungsfähigkeit. Edelmann, Bauer
und Bürger erlangen die Freiheit des Grundſtücksverkehrs; alle Klaſſen ſetzen Frei-
zügigkeit, Ehefreiheit, Gewerbefreiheit, Zugang zu allen Ämtern, Berufen und Arbeits-
thätigkeiten durch, ſofern der einzelne nur die Vorbedingungen, welche der Beruf an
die Ausbildung ſtellt, erfüllt. Derartiges entſprach den Ideen des Chriſtentums, des
abſtrakten römiſchen Rechts, den Idealen der Humanität und Aufklärung, wie ſie
1700—1850 vorherrſchten. Die Geldwirtſchaft und der moderne Verkehr erleichterten
und förderten die neuere Beweglichkeit und Flüſſigkeit der Geſellſchaft.

Die Möglichkeit zu dieſer großen Veränderung trotz der großen Beſitzungleichheit,
trotz aller beſtehenden Vorurteile, trotz aller ſich einſtellenden Schwierigkeiten und Miß-
bräuche ergab ſich durch das veränderte Erziehungsweſen. Wie wir erwähnt, lag alle
ältere menſchliche und techniſche Erziehung bis ins ſpätere Mittelalter für die Mehrzahl
der Menſchen in der Familie. Nur die Kirche hatte in ihren Kirchen- und Kloſter-
ſchulen eine neue Art der Erziehung geſchaffen, die neben dem Fürſtenſohne auch Bauern-
und Tagelöhnerſöhne emporhob. Das Inſtitut der handwerksmäßigen Lehrlingſchaft,
von 1300—1800 ausgebildet, war in ſeinem Kerne auch familienhaft, hatte aber mehr
und mehr ſich auch auf Nachbarskinder in der Stadt, teilweiſe ſogar auf Bauernſöhne
ausgedehnt. Die Kunſt des Leſens, Schreibens und Rechnens, bis ins 14. Jahrhundert
auf Prieſter beſchränkt, ging vom 14.—18. Jahrhundert in den Kloſter- und Stadt-
ſchulen auf den Landadel, die Stadtkinder, die Beamten über, hatte gewiſſermaßen eine
neue, ſchriftkundige Ariſtokratie geſchaffen. Die höheren Schulen und Univerſitäten
hatten die Scheidung der homines litterati von den übrigen Menſchen geſteigert. Die
nicht daran teilnehmenden unteren Klaſſen waren dadurch weſentlich noch herabgedrückt
worden. Die Reformation hat dann aber den Gedanken der allgemeinen Volksſchule
erzeugt, die folgenden Jahrhunderte, hauptſächlich die Zeit von 1750—1870, haben ihn
praktiſch durchgeführt und damit eine der wichtigſten ſocialen Scheidewände zwar nicht
beſeitigt, aber doch zum Teil abgetragen. Das neuere Volksſchulweſen, die wenigſtens
teilweiſe Zugänglichmachung der mittleren und höheren gelehrten und praktiſchen Schulen
auch für weitere Kreiſe hat gegenüber der früher engen Art der Überlieferung von
Kenntniſſen und Fähigkeiten eine neue, breitere Bildung, eine nivellierte Geſellſchaft da
geſchaffen, wo dieſe Inſtitutionen ſachgemäß durchgeführt wurden. So war durch die

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[405/0421] Der Kampf gegen die Erblichkeit der Berufe und das Ständetum. ließ in übertriebener enger Arbeitsteilung die Familien und Individuen verknöchern. Die Erblichkeit und die Vorrechte der höher ſtehenden Berufe, die einſt nötig geweſen waren, um Erfahrung, Talent und Beſitz in gewiſſen engeren Kreiſen anzuhäufen und zu erhalten, wurden jetzt gegenüber den emporſtrebenden anderen Klaſſen ein Unrecht. Die ſtändiſche erbliche Rechtsordnung gab Leuten Klaſſenvorrechte, welche weder die Eigenſchaften hatten, noch den Beruf mehr übten, wegen deſſen die Vorrechte einſt erteilt worden waren. Jede älter gewordene Klaſſenordnung hat, je mehr ſie in Geburts- und ſtändiſchen Vorrechten ſich fixiert, deſto mehr die Tendenz, alle Ämter- und Stellen- beſetzung, alle Zugänge zum Erwerb im egoiſtiſchen Sonderintereſſe zu fixieren. Je länger das dauert, deſto weniger erhalten ſich in dieſen Klaſſen die Eigenſchaften der Ahnen, durch welche dieſe emporgekommen waren (ſiehe oben Erbrecht S. 384). Andere Klaſſen und die fähigen Talente aus allen Kreiſen ſtreben empor; die ſtändiſchen Ein- richtungen wollen das hemmen. Die ganze ſociale Rechtsordnung mit ihren erblichen Vorrechten, ihren Ehehinderniſſen, ihren Privilegien erſcheint als ein großes, nicht mehr zu duldendes Unrecht. Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart hat die wirtſchaftliche und die Ideen- entwickelung darauf hingearbeitet, die alte ſtändiſche Klaſſenordnung zu beſeitigen. Neue ariſtokratiſche Kreiſe entſtanden, die ihre Stellung durch ihre perſönlichen Eigenſchaften und Leiſtungen legitimierten: die Kaufleute, Fabrikanten und Bankiers, der Beamten- und Offiziersſtand; das mittlere Bürgertum erhob ſich, lernte rechnen, ſchreiben, bildete die Technik und das Geſchäftsleben aus, forderte Gleichberechtigung; die arbeitenden Klaſſen erlangten perſönliche Freiheit, Rechts- und Steuergleichheit mit den höheren; und wenn ſie auch zunächſt dem Mittelſtande noch nachſtehen, heben ſie ſich doch ſicher und gleichmäßig an Geſittung, Bildung und techniſcher Leiſtungsfähigkeit. Edelmann, Bauer und Bürger erlangen die Freiheit des Grundſtücksverkehrs; alle Klaſſen ſetzen Frei- zügigkeit, Ehefreiheit, Gewerbefreiheit, Zugang zu allen Ämtern, Berufen und Arbeits- thätigkeiten durch, ſofern der einzelne nur die Vorbedingungen, welche der Beruf an die Ausbildung ſtellt, erfüllt. Derartiges entſprach den Ideen des Chriſtentums, des abſtrakten römiſchen Rechts, den Idealen der Humanität und Aufklärung, wie ſie 1700—1850 vorherrſchten. Die Geldwirtſchaft und der moderne Verkehr erleichterten und förderten die neuere Beweglichkeit und Flüſſigkeit der Geſellſchaft. Die Möglichkeit zu dieſer großen Veränderung trotz der großen Beſitzungleichheit, trotz aller beſtehenden Vorurteile, trotz aller ſich einſtellenden Schwierigkeiten und Miß- bräuche ergab ſich durch das veränderte Erziehungsweſen. Wie wir erwähnt, lag alle ältere menſchliche und techniſche Erziehung bis ins ſpätere Mittelalter für die Mehrzahl der Menſchen in der Familie. Nur die Kirche hatte in ihren Kirchen- und Kloſter- ſchulen eine neue Art der Erziehung geſchaffen, die neben dem Fürſtenſohne auch Bauern- und Tagelöhnerſöhne emporhob. Das Inſtitut der handwerksmäßigen Lehrlingſchaft, von 1300—1800 ausgebildet, war in ſeinem Kerne auch familienhaft, hatte aber mehr und mehr ſich auch auf Nachbarskinder in der Stadt, teilweiſe ſogar auf Bauernſöhne ausgedehnt. Die Kunſt des Leſens, Schreibens und Rechnens, bis ins 14. Jahrhundert auf Prieſter beſchränkt, ging vom 14.—18. Jahrhundert in den Kloſter- und Stadt- ſchulen auf den Landadel, die Stadtkinder, die Beamten über, hatte gewiſſermaßen eine neue, ſchriftkundige Ariſtokratie geſchaffen. Die höheren Schulen und Univerſitäten hatten die Scheidung der homines litterati von den übrigen Menſchen geſteigert. Die nicht daran teilnehmenden unteren Klaſſen waren dadurch weſentlich noch herabgedrückt worden. Die Reformation hat dann aber den Gedanken der allgemeinen Volksſchule erzeugt, die folgenden Jahrhunderte, hauptſächlich die Zeit von 1750—1870, haben ihn praktiſch durchgeführt und damit eine der wichtigſten ſocialen Scheidewände zwar nicht beſeitigt, aber doch zum Teil abgetragen. Das neuere Volksſchulweſen, die wenigſtens teilweiſe Zugänglichmachung der mittleren und höheren gelehrten und praktiſchen Schulen auch für weitere Kreiſe hat gegenüber der früher engen Art der Überlieferung von Kenntniſſen und Fähigkeiten eine neue, breitere Bildung, eine nivellierte Geſellſchaft da geſchaffen, wo dieſe Inſtitutionen ſachgemäß durchgeführt wurden. So war durch die

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/421>, abgerufen am 19.04.2024.