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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Das Wesen der Triebe.
zu können, wo wir große Menschengruppen oder alle Menschen in ähnlicher Weise glauben,
durch bestimmte seelische Grundkräfte in ihren Willensaktionen beherrscht zu sehen. Wir
bezeichnen die Handlungen als Triebhandlungen, welche uns unter der unmittelbaren
Wirkung einer solchen Grundkraft zu stande zu kommen scheinen.

Die Vorstellung, daß es möglich sei, eine bestimmte Anzahl sich immer gleich
bleibender Triebe bei allen Menschen aller Zeiten nachzuweisen, müssen wir dabei freilich
fallen lassen. Das Triebleben ist, wie wir schon bemerkt, ein Ergebnis der historischen
Entwickelung unserer Nerven und unserer ganzen geistig-sittlichen Natur. Alle starken
Gefühle geben Impulse zum Handeln; je niedriger die menschliche Kultur, desto unwillkür-
licher folgt dieses Handeln, desto näher steht es unbewußten Reflexbewegungen, desto
mehr handelt es sich um ein wirkliches "Getriebensein". Je mehr die Reflexion und
das geistige Leben sich ausbilden, desto mehr schieben sich zwischen den Gefühlsimpuls
und das Handeln Vorstellungen über die Folgen, Überlegungen sittlicher Art, desto mehr
geht das impulsive Handeln in ein überlegtes, durchdachtes, durch die Erziehung modifi-
ziertes über. Die Triebe verschwinden damit nicht, aber die reinen und bloßen Trieb-
handlungen. Unsere Handlungen werden etwas anderes, Komplizierteres, den sittlichen
Lebensplänen Angepaßtes; die Triebe selbst ändern sich in ihren Wirkungen. Der
Erwerbstrieb des rohen Indianers, des Bauern, des Gelehrten, des Börsenspekulanten
sind qualitativ und quantitativ ebenso verschieden wie der Geschlechtstrieb einer Südsee-
insulanerin und einer gut erzogenen englischen Lady.

Der Trieb ist der organische, von unserm Gefühlsleben und bestimmten Vor-
stellungen ausgehende Reiz zum Handeln. Er ist der natürliche Untergrund dessen, was
durch Zucht und Gewöhnung, durch Übung und Zähmung zur civilisierten Gewohnheit
wird. Alle menschliche Erziehung will die Triebe ethisieren und in gewissem Sinne zu
Tugenden erheben; aber die Triebe der heutigen Generation sind immer schon das Er-
gebnis einer sittlichen Erziehungsarbeit von Jahrtausenden.

Die neuere Psychologie, wesentlich auf andere Fragen gerichtet, hat in der Trieb-
lehre noch keine großen Fortschritte gemacht; man ist noch zu keiner einheitlichen Klassifi-
kation der Phänomene und zu keinen festen Begriffen gelangt. Nichtsdestoweniger drängt
sich das Bedürfnis, eine Reihe von Trieben zu unterscheiden, immer wieder auf. Und
wenn die Versuche, ganze Wissenschaften aus einem oder ein paar Trieben zu erklären --
ich erinnere an den geselligen Trieb des Aristoteles und Hugo Grotius, an die Trieb-
lehre der Socialisten, an den Erwerbstrieb der Nationalökonomen, an die Heirats- und
Verbrechenstriebe der Statistiker --, noch unvollkommener sind als die Trieblehren der
Psychologen, so wird eine sociologische Betrachtung, welche nicht um systematischer Ein-
heit willen alles aus einer Ursache ableiten will, doch immer am besten thun, in An-
lehnung an die heutige Psychologie die wesentlichsten der gewöhnlichen Triebe einfach
nebeneinander zu stellen und auf ihren Zusammenhang mit den Erscheinungen des
gesellschaftlichen Lebens zu prüfen, ohne damit die Prätension zu erheben, eine neue
Trieblehre zu geben oder gar auf sie ein ganzes System zu bauen.

Wir kommen dabei freilich auf eine Wiederholung dessen, was wir über die Ge-
fühle gesagt; wir müssen uns andererseits mit wenigen aphoristischen Bemerkungen über
den Selbsterhaltungs-, Geschlechts-, Thätigkeits-, Anerkennungs- und Rivalitätstrieb
beschränken; aber diese, sowie die Hinweisung auf ihre historische Entwickelungsfähigkeit
werden immer nicht wertlos sein und uns für die Erörterung des Erwerbstriebes vor-
bereiten.

14. Der Selbsterhaltungs- und der Geschlechtstrieb werden in allen
Trieblehren vorangestellt; sie entsprechen den stärksten Lustgefühlen, wie wir bereits
erwähnt. Sie können auch, viel eher als der Egoismus oder der Erwerbstrieb, als
der psychologische Ausgangspunkt des Wirtschaftslebens, ja der ganzen gesellschaftlichen
Organisation angesehen werden: Durch Hunger und durch Liebe, sagt ein bekanntes
Sprüchlein, erhält sich das Getriebe. Und Goethe meint in den venetianischen Epi-
grammen:

Das Weſen der Triebe.
zu können, wo wir große Menſchengruppen oder alle Menſchen in ähnlicher Weiſe glauben,
durch beſtimmte ſeeliſche Grundkräfte in ihren Willensaktionen beherrſcht zu ſehen. Wir
bezeichnen die Handlungen als Triebhandlungen, welche uns unter der unmittelbaren
Wirkung einer ſolchen Grundkraft zu ſtande zu kommen ſcheinen.

Die Vorſtellung, daß es möglich ſei, eine beſtimmte Anzahl ſich immer gleich
bleibender Triebe bei allen Menſchen aller Zeiten nachzuweiſen, müſſen wir dabei freilich
fallen laſſen. Das Triebleben iſt, wie wir ſchon bemerkt, ein Ergebnis der hiſtoriſchen
Entwickelung unſerer Nerven und unſerer ganzen geiſtig-ſittlichen Natur. Alle ſtarken
Gefühle geben Impulſe zum Handeln; je niedriger die menſchliche Kultur, deſto unwillkür-
licher folgt dieſes Handeln, deſto näher ſteht es unbewußten Reflexbewegungen, deſto
mehr handelt es ſich um ein wirkliches „Getriebenſein“. Je mehr die Reflexion und
das geiſtige Leben ſich ausbilden, deſto mehr ſchieben ſich zwiſchen den Gefühlsimpuls
und das Handeln Vorſtellungen über die Folgen, Überlegungen ſittlicher Art, deſto mehr
geht das impulſive Handeln in ein überlegtes, durchdachtes, durch die Erziehung modifi-
ziertes über. Die Triebe verſchwinden damit nicht, aber die reinen und bloßen Trieb-
handlungen. Unſere Handlungen werden etwas anderes, Komplizierteres, den ſittlichen
Lebensplänen Angepaßtes; die Triebe ſelbſt ändern ſich in ihren Wirkungen. Der
Erwerbstrieb des rohen Indianers, des Bauern, des Gelehrten, des Börſenſpekulanten
ſind qualitativ und quantitativ ebenſo verſchieden wie der Geſchlechtstrieb einer Südſee-
inſulanerin und einer gut erzogenen engliſchen Lady.

Der Trieb iſt der organiſche, von unſerm Gefühlsleben und beſtimmten Vor-
ſtellungen ausgehende Reiz zum Handeln. Er iſt der natürliche Untergrund deſſen, was
durch Zucht und Gewöhnung, durch Übung und Zähmung zur civiliſierten Gewohnheit
wird. Alle menſchliche Erziehung will die Triebe ethiſieren und in gewiſſem Sinne zu
Tugenden erheben; aber die Triebe der heutigen Generation ſind immer ſchon das Er-
gebnis einer ſittlichen Erziehungsarbeit von Jahrtauſenden.

Die neuere Pſychologie, weſentlich auf andere Fragen gerichtet, hat in der Trieb-
lehre noch keine großen Fortſchritte gemacht; man iſt noch zu keiner einheitlichen Klaſſifi-
kation der Phänomene und zu keinen feſten Begriffen gelangt. Nichtsdeſtoweniger drängt
ſich das Bedürfnis, eine Reihe von Trieben zu unterſcheiden, immer wieder auf. Und
wenn die Verſuche, ganze Wiſſenſchaften aus einem oder ein paar Trieben zu erklären —
ich erinnere an den geſelligen Trieb des Ariſtoteles und Hugo Grotius, an die Trieb-
lehre der Socialiſten, an den Erwerbstrieb der Nationalökonomen, an die Heirats- und
Verbrechenstriebe der Statiſtiker —, noch unvollkommener ſind als die Trieblehren der
Pſychologen, ſo wird eine ſociologiſche Betrachtung, welche nicht um ſyſtematiſcher Ein-
heit willen alles aus einer Urſache ableiten will, doch immer am beſten thun, in An-
lehnung an die heutige Pſychologie die weſentlichſten der gewöhnlichen Triebe einfach
nebeneinander zu ſtellen und auf ihren Zuſammenhang mit den Erſcheinungen des
geſellſchaftlichen Lebens zu prüfen, ohne damit die Prätenſion zu erheben, eine neue
Trieblehre zu geben oder gar auf ſie ein ganzes Syſtem zu bauen.

Wir kommen dabei freilich auf eine Wiederholung deſſen, was wir über die Ge-
fühle geſagt; wir müſſen uns andererſeits mit wenigen aphoriſtiſchen Bemerkungen über
den Selbſterhaltungs-, Geſchlechts-, Thätigkeits-, Anerkennungs- und Rivalitätstrieb
beſchränken; aber dieſe, ſowie die Hinweiſung auf ihre hiſtoriſche Entwickelungsfähigkeit
werden immer nicht wertlos ſein und uns für die Erörterung des Erwerbstriebes vor-
bereiten.

14. Der Selbſterhaltungs- und der Geſchlechtstrieb werden in allen
Trieblehren vorangeſtellt; ſie entſprechen den ſtärkſten Luſtgefühlen, wie wir bereits
erwähnt. Sie können auch, viel eher als der Egoismus oder der Erwerbstrieb, als
der pſychologiſche Ausgangspunkt des Wirtſchaftslebens, ja der ganzen geſellſchaftlichen
Organiſation angeſehen werden: Durch Hunger und durch Liebe, ſagt ein bekanntes
Sprüchlein, erhält ſich das Getriebe. Und Goethe meint in den venetianiſchen Epi-
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[27/0043] Das Weſen der Triebe. zu können, wo wir große Menſchengruppen oder alle Menſchen in ähnlicher Weiſe glauben, durch beſtimmte ſeeliſche Grundkräfte in ihren Willensaktionen beherrſcht zu ſehen. Wir bezeichnen die Handlungen als Triebhandlungen, welche uns unter der unmittelbaren Wirkung einer ſolchen Grundkraft zu ſtande zu kommen ſcheinen. Die Vorſtellung, daß es möglich ſei, eine beſtimmte Anzahl ſich immer gleich bleibender Triebe bei allen Menſchen aller Zeiten nachzuweiſen, müſſen wir dabei freilich fallen laſſen. Das Triebleben iſt, wie wir ſchon bemerkt, ein Ergebnis der hiſtoriſchen Entwickelung unſerer Nerven und unſerer ganzen geiſtig-ſittlichen Natur. Alle ſtarken Gefühle geben Impulſe zum Handeln; je niedriger die menſchliche Kultur, deſto unwillkür- licher folgt dieſes Handeln, deſto näher ſteht es unbewußten Reflexbewegungen, deſto mehr handelt es ſich um ein wirkliches „Getriebenſein“. Je mehr die Reflexion und das geiſtige Leben ſich ausbilden, deſto mehr ſchieben ſich zwiſchen den Gefühlsimpuls und das Handeln Vorſtellungen über die Folgen, Überlegungen ſittlicher Art, deſto mehr geht das impulſive Handeln in ein überlegtes, durchdachtes, durch die Erziehung modifi- ziertes über. Die Triebe verſchwinden damit nicht, aber die reinen und bloßen Trieb- handlungen. Unſere Handlungen werden etwas anderes, Komplizierteres, den ſittlichen Lebensplänen Angepaßtes; die Triebe ſelbſt ändern ſich in ihren Wirkungen. Der Erwerbstrieb des rohen Indianers, des Bauern, des Gelehrten, des Börſenſpekulanten ſind qualitativ und quantitativ ebenſo verſchieden wie der Geſchlechtstrieb einer Südſee- inſulanerin und einer gut erzogenen engliſchen Lady. Der Trieb iſt der organiſche, von unſerm Gefühlsleben und beſtimmten Vor- ſtellungen ausgehende Reiz zum Handeln. Er iſt der natürliche Untergrund deſſen, was durch Zucht und Gewöhnung, durch Übung und Zähmung zur civiliſierten Gewohnheit wird. Alle menſchliche Erziehung will die Triebe ethiſieren und in gewiſſem Sinne zu Tugenden erheben; aber die Triebe der heutigen Generation ſind immer ſchon das Er- gebnis einer ſittlichen Erziehungsarbeit von Jahrtauſenden. Die neuere Pſychologie, weſentlich auf andere Fragen gerichtet, hat in der Trieb- lehre noch keine großen Fortſchritte gemacht; man iſt noch zu keiner einheitlichen Klaſſifi- kation der Phänomene und zu keinen feſten Begriffen gelangt. Nichtsdeſtoweniger drängt ſich das Bedürfnis, eine Reihe von Trieben zu unterſcheiden, immer wieder auf. Und wenn die Verſuche, ganze Wiſſenſchaften aus einem oder ein paar Trieben zu erklären — ich erinnere an den geſelligen Trieb des Ariſtoteles und Hugo Grotius, an die Trieb- lehre der Socialiſten, an den Erwerbstrieb der Nationalökonomen, an die Heirats- und Verbrechenstriebe der Statiſtiker —, noch unvollkommener ſind als die Trieblehren der Pſychologen, ſo wird eine ſociologiſche Betrachtung, welche nicht um ſyſtematiſcher Ein- heit willen alles aus einer Urſache ableiten will, doch immer am beſten thun, in An- lehnung an die heutige Pſychologie die weſentlichſten der gewöhnlichen Triebe einfach nebeneinander zu ſtellen und auf ihren Zuſammenhang mit den Erſcheinungen des geſellſchaftlichen Lebens zu prüfen, ohne damit die Prätenſion zu erheben, eine neue Trieblehre zu geben oder gar auf ſie ein ganzes Syſtem zu bauen. Wir kommen dabei freilich auf eine Wiederholung deſſen, was wir über die Ge- fühle geſagt; wir müſſen uns andererſeits mit wenigen aphoriſtiſchen Bemerkungen über den Selbſterhaltungs-, Geſchlechts-, Thätigkeits-, Anerkennungs- und Rivalitätstrieb beſchränken; aber dieſe, ſowie die Hinweiſung auf ihre hiſtoriſche Entwickelungsfähigkeit werden immer nicht wertlos ſein und uns für die Erörterung des Erwerbstriebes vor- bereiten. 14. Der Selbſterhaltungs- und der Geſchlechtstrieb werden in allen Trieblehren vorangeſtellt; ſie entſprechen den ſtärkſten Luſtgefühlen, wie wir bereits erwähnt. Sie können auch, viel eher als der Egoismus oder der Erwerbstrieb, als der pſychologiſche Ausgangspunkt des Wirtſchaftslebens, ja der ganzen geſellſchaftlichen Organiſation angeſehen werden: Durch Hunger und durch Liebe, ſagt ein bekanntes Sprüchlein, erhält ſich das Getriebe. Und Goethe meint in den venetianiſchen Epi- grammen:

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/43>, abgerufen am 29.03.2024.