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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
pflogenheiten und Sitten billigte, für lebensförderlich, zweckmäßig und gut hielt. Auch
zur Zeit, als es Sitte war, daß die Mutter einen Teil ihrer Kinder erwürgte, gab es
Mutterliebe und Anfänge reinerer Empfindungen; aber sie waren zunächst von anderen
Gefühlen zurückgedrängt; religiöse Vorstellungen von der Notwendigkeit, die Erstgeburt
den Göttern zu opfern, mag da, Hunger und Not, die Lebensfürsorge auf flüchtiger
Wanderung, das Interesse der Familie und des Stammes mag dort überwogen haben,
eine solche Sitte zu erzeugen, welche dann als das Gute, das Gebilligte im Stamme
galt. Es entspricht einem rohen Zeitalter, zunächst nur Tapferkeit, List, Verwegenheit
als Tugenden anzuerkennen, spätere Epochen setzen andere Eigenschaften daneben. Auch
die sprachliche Thatsache, daß die für gut und böse gebrauchten Worte bei den meisten
Völkern ursprünglich sinnliche und physische Vorzüge, erst später moralische und geistige
bezeichneten, daß die virtus des Römers in ältester Zeit nicht Tugend, sondern Kriegs-
tüchtigkeit bedeutete, beweist nur, daß das sittliche Urteil ein werdendes ist, nicht daß
es irgendwo ganz fehlte.

Jede Zeit und jedes Volk lebt unter bestimmten äußeren Bedingungen, die eine
Reihe von Zwecken und von Handlungen als die für Individuen und Gesamtheit not-
wendigsten bestimmen; sie müssen bevorzugt werden, wenn das Individuum und die
Gattung bestehen soll; sie müssen an andere Stelle rücken, sobald die äußeren Lebens-
bedingungen andere werden. Auch jeder wirtschaftliche Zustand steht unter dieser Voraus-
setzung: die wirtschaftlichen Eigenschaften und Handlungen gelten als gut, welche nach
Lage der Dinge die dauernde Wohlfahrt der einzelnen und der Gesellschaft am meisten
fördern. Dabei mögen Aberglaube, falsche Kausalitätsvorstellungen, die Interessen der
Machthaber in die konventionelle Feststellung dessen, was für gut gilt, noch so sehr
eingreifen, das sittliche Werturteil im ganzen wird doch stets die wichtigeren und höheren
Zwecke voranstellen, es wird fordern, daß die Lust des Augenblickes dem Glücke des
folgenden Tages hintangestellt werde, daß das Individuum nie sich als einzigen Selbst-
zweck, sondern als Glied der Sippe, der Familie, des Stammes betrachte. Wenn das
reflektierende Denken und die höheren Gefühle sich stärker entwickeln, so beginnt man das
Leben des Individuums als ein Ganzes aufzufassen, die Jugend als Vorschule des
Mannesalters zu betrachten, sie durch strenge Übung und Zucht zu bändigen; was dem
Leben im ganzen Bedeutung, Inhalt und Glück verleiht, gilt nun als das Gute. In
dem Maße, als etwas größere gesellschaftliche Verbindungen entstehen, erscheint als das
sittlich Gute nunmehr das, was den socialen Körper und seine Wohlfahrt fördert. Ent-
steht endlich im Menschen die Ahnung eines Zusammenhanges aller menschlichen Geschicke
mit einer höheren Weltordnung, das demütige Gefühl der Abhängigkeit unseres armen
Menschenlebens von einer göttlichen Weltregierung, so wird dadurch notwendig auch
das sittliche Werturteil wieder ein anderes als früher. Nun erscheint dem Menschen als
gut, was die Gottheit gebietet, was ihn in das richtige Verhältnis zu ihr bringt. Kurz,
jedes Princip sittlicher Wertschätzung von Handlungen baut sich auf bestimmten materiell-
technischen, gesellschaftlichen und psychologisch-geschichtlichen Voraussetzungen auf. Die
ethische Vorstellungswelt erstreckt sich von der sinnlichen Lust des individuellen Lebens
durch zahllose Glieder hindurch bis zur Menschheit, zum Weltganzen, zur Ewigkeit.
Das Gute hat kein ruhendes, sondern ein sich stetig vervollkommnendes Dasein. Der
nie ruhende Sieg des Höheren über das Niedrige, des Ganzen über das Partielle macht
das Wesen des Guten aus.

Jede Zeit hat so ihre Pflichten, ihre Tugenden, ihre sittlichen Zwecke. Die all-
gemein anerkannten sittlichen Gebote, mit welchen das sittliche Werturteil einer Zeit dem
einzelnen gegenübertritt, sind die Pflichten; die durch sittliche Übung erlangten Fertig-
keiten, im Sinne der Pflicht zu handeln, sind die Tugenden; die Zwecke, auf die das
sittliche Streben gerichtet ist, sind die sittlichen Güter. Und jede Zeit und jedes religiöse
und philosophische Moralsystem bestimmt sie nicht nur an sich, grenzt sie vom natür-
lichen Handeln und Geschehen, vom reinen Triebleben, vom sittlich gleichgültigen Handeln
ab, sondern stellt eine Wertordnung der Zwecke, der Tugenden, der Pflichten her. Einem
Zeitalter gilt die Tapferkeit, einem anderen die Gerechtigkeit, einem dritten die Abtötung

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
pflogenheiten und Sitten billigte, für lebensförderlich, zweckmäßig und gut hielt. Auch
zur Zeit, als es Sitte war, daß die Mutter einen Teil ihrer Kinder erwürgte, gab es
Mutterliebe und Anfänge reinerer Empfindungen; aber ſie waren zunächſt von anderen
Gefühlen zurückgedrängt; religiöſe Vorſtellungen von der Notwendigkeit, die Erſtgeburt
den Göttern zu opfern, mag da, Hunger und Not, die Lebensfürſorge auf flüchtiger
Wanderung, das Intereſſe der Familie und des Stammes mag dort überwogen haben,
eine ſolche Sitte zu erzeugen, welche dann als das Gute, das Gebilligte im Stamme
galt. Es entſpricht einem rohen Zeitalter, zunächſt nur Tapferkeit, Liſt, Verwegenheit
als Tugenden anzuerkennen, ſpätere Epochen ſetzen andere Eigenſchaften daneben. Auch
die ſprachliche Thatſache, daß die für gut und böſe gebrauchten Worte bei den meiſten
Völkern urſprünglich ſinnliche und phyſiſche Vorzüge, erſt ſpäter moraliſche und geiſtige
bezeichneten, daß die virtus des Römers in älteſter Zeit nicht Tugend, ſondern Kriegs-
tüchtigkeit bedeutete, beweiſt nur, daß das ſittliche Urteil ein werdendes iſt, nicht daß
es irgendwo ganz fehlte.

Jede Zeit und jedes Volk lebt unter beſtimmten äußeren Bedingungen, die eine
Reihe von Zwecken und von Handlungen als die für Individuen und Geſamtheit not-
wendigſten beſtimmen; ſie müſſen bevorzugt werden, wenn das Individuum und die
Gattung beſtehen ſoll; ſie müſſen an andere Stelle rücken, ſobald die äußeren Lebens-
bedingungen andere werden. Auch jeder wirtſchaftliche Zuſtand ſteht unter dieſer Voraus-
ſetzung: die wirtſchaftlichen Eigenſchaften und Handlungen gelten als gut, welche nach
Lage der Dinge die dauernde Wohlfahrt der einzelnen und der Geſellſchaft am meiſten
fördern. Dabei mögen Aberglaube, falſche Kauſalitätsvorſtellungen, die Intereſſen der
Machthaber in die konventionelle Feſtſtellung deſſen, was für gut gilt, noch ſo ſehr
eingreifen, das ſittliche Werturteil im ganzen wird doch ſtets die wichtigeren und höheren
Zwecke voranſtellen, es wird fordern, daß die Luſt des Augenblickes dem Glücke des
folgenden Tages hintangeſtellt werde, daß das Individuum nie ſich als einzigen Selbſt-
zweck, ſondern als Glied der Sippe, der Familie, des Stammes betrachte. Wenn das
reflektierende Denken und die höheren Gefühle ſich ſtärker entwickeln, ſo beginnt man das
Leben des Individuums als ein Ganzes aufzufaſſen, die Jugend als Vorſchule des
Mannesalters zu betrachten, ſie durch ſtrenge Übung und Zucht zu bändigen; was dem
Leben im ganzen Bedeutung, Inhalt und Glück verleiht, gilt nun als das Gute. In
dem Maße, als etwas größere geſellſchaftliche Verbindungen entſtehen, erſcheint als das
ſittlich Gute nunmehr das, was den ſocialen Körper und ſeine Wohlfahrt fördert. Ent-
ſteht endlich im Menſchen die Ahnung eines Zuſammenhanges aller menſchlichen Geſchicke
mit einer höheren Weltordnung, das demütige Gefühl der Abhängigkeit unſeres armen
Menſchenlebens von einer göttlichen Weltregierung, ſo wird dadurch notwendig auch
das ſittliche Werturteil wieder ein anderes als früher. Nun erſcheint dem Menſchen als
gut, was die Gottheit gebietet, was ihn in das richtige Verhältnis zu ihr bringt. Kurz,
jedes Princip ſittlicher Wertſchätzung von Handlungen baut ſich auf beſtimmten materiell-
techniſchen, geſellſchaftlichen und pſychologiſch-geſchichtlichen Vorausſetzungen auf. Die
ethiſche Vorſtellungswelt erſtreckt ſich von der ſinnlichen Luſt des individuellen Lebens
durch zahlloſe Glieder hindurch bis zur Menſchheit, zum Weltganzen, zur Ewigkeit.
Das Gute hat kein ruhendes, ſondern ein ſich ſtetig vervollkommnendes Daſein. Der
nie ruhende Sieg des Höheren über das Niedrige, des Ganzen über das Partielle macht
das Weſen des Guten aus.

Jede Zeit hat ſo ihre Pflichten, ihre Tugenden, ihre ſittlichen Zwecke. Die all-
gemein anerkannten ſittlichen Gebote, mit welchen das ſittliche Werturteil einer Zeit dem
einzelnen gegenübertritt, ſind die Pflichten; die durch ſittliche Übung erlangten Fertig-
keiten, im Sinne der Pflicht zu handeln, ſind die Tugenden; die Zwecke, auf die das
ſittliche Streben gerichtet iſt, ſind die ſittlichen Güter. Und jede Zeit und jedes religiöſe
und philoſophiſche Moralſyſtem beſtimmt ſie nicht nur an ſich, grenzt ſie vom natür-
lichen Handeln und Geſchehen, vom reinen Triebleben, vom ſittlich gleichgültigen Handeln
ab, ſondern ſtellt eine Wertordnung der Zwecke, der Tugenden, der Pflichten her. Einem
Zeitalter gilt die Tapferkeit, einem anderen die Gerechtigkeit, einem dritten die Abtötung

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[44/0060] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. pflogenheiten und Sitten billigte, für lebensförderlich, zweckmäßig und gut hielt. Auch zur Zeit, als es Sitte war, daß die Mutter einen Teil ihrer Kinder erwürgte, gab es Mutterliebe und Anfänge reinerer Empfindungen; aber ſie waren zunächſt von anderen Gefühlen zurückgedrängt; religiöſe Vorſtellungen von der Notwendigkeit, die Erſtgeburt den Göttern zu opfern, mag da, Hunger und Not, die Lebensfürſorge auf flüchtiger Wanderung, das Intereſſe der Familie und des Stammes mag dort überwogen haben, eine ſolche Sitte zu erzeugen, welche dann als das Gute, das Gebilligte im Stamme galt. Es entſpricht einem rohen Zeitalter, zunächſt nur Tapferkeit, Liſt, Verwegenheit als Tugenden anzuerkennen, ſpätere Epochen ſetzen andere Eigenſchaften daneben. Auch die ſprachliche Thatſache, daß die für gut und böſe gebrauchten Worte bei den meiſten Völkern urſprünglich ſinnliche und phyſiſche Vorzüge, erſt ſpäter moraliſche und geiſtige bezeichneten, daß die virtus des Römers in älteſter Zeit nicht Tugend, ſondern Kriegs- tüchtigkeit bedeutete, beweiſt nur, daß das ſittliche Urteil ein werdendes iſt, nicht daß es irgendwo ganz fehlte. Jede Zeit und jedes Volk lebt unter beſtimmten äußeren Bedingungen, die eine Reihe von Zwecken und von Handlungen als die für Individuen und Geſamtheit not- wendigſten beſtimmen; ſie müſſen bevorzugt werden, wenn das Individuum und die Gattung beſtehen ſoll; ſie müſſen an andere Stelle rücken, ſobald die äußeren Lebens- bedingungen andere werden. Auch jeder wirtſchaftliche Zuſtand ſteht unter dieſer Voraus- ſetzung: die wirtſchaftlichen Eigenſchaften und Handlungen gelten als gut, welche nach Lage der Dinge die dauernde Wohlfahrt der einzelnen und der Geſellſchaft am meiſten fördern. Dabei mögen Aberglaube, falſche Kauſalitätsvorſtellungen, die Intereſſen der Machthaber in die konventionelle Feſtſtellung deſſen, was für gut gilt, noch ſo ſehr eingreifen, das ſittliche Werturteil im ganzen wird doch ſtets die wichtigeren und höheren Zwecke voranſtellen, es wird fordern, daß die Luſt des Augenblickes dem Glücke des folgenden Tages hintangeſtellt werde, daß das Individuum nie ſich als einzigen Selbſt- zweck, ſondern als Glied der Sippe, der Familie, des Stammes betrachte. Wenn das reflektierende Denken und die höheren Gefühle ſich ſtärker entwickeln, ſo beginnt man das Leben des Individuums als ein Ganzes aufzufaſſen, die Jugend als Vorſchule des Mannesalters zu betrachten, ſie durch ſtrenge Übung und Zucht zu bändigen; was dem Leben im ganzen Bedeutung, Inhalt und Glück verleiht, gilt nun als das Gute. In dem Maße, als etwas größere geſellſchaftliche Verbindungen entſtehen, erſcheint als das ſittlich Gute nunmehr das, was den ſocialen Körper und ſeine Wohlfahrt fördert. Ent- ſteht endlich im Menſchen die Ahnung eines Zuſammenhanges aller menſchlichen Geſchicke mit einer höheren Weltordnung, das demütige Gefühl der Abhängigkeit unſeres armen Menſchenlebens von einer göttlichen Weltregierung, ſo wird dadurch notwendig auch das ſittliche Werturteil wieder ein anderes als früher. Nun erſcheint dem Menſchen als gut, was die Gottheit gebietet, was ihn in das richtige Verhältnis zu ihr bringt. Kurz, jedes Princip ſittlicher Wertſchätzung von Handlungen baut ſich auf beſtimmten materiell- techniſchen, geſellſchaftlichen und pſychologiſch-geſchichtlichen Vorausſetzungen auf. Die ethiſche Vorſtellungswelt erſtreckt ſich von der ſinnlichen Luſt des individuellen Lebens durch zahlloſe Glieder hindurch bis zur Menſchheit, zum Weltganzen, zur Ewigkeit. Das Gute hat kein ruhendes, ſondern ein ſich ſtetig vervollkommnendes Daſein. Der nie ruhende Sieg des Höheren über das Niedrige, des Ganzen über das Partielle macht das Weſen des Guten aus. Jede Zeit hat ſo ihre Pflichten, ihre Tugenden, ihre ſittlichen Zwecke. Die all- gemein anerkannten ſittlichen Gebote, mit welchen das ſittliche Werturteil einer Zeit dem einzelnen gegenübertritt, ſind die Pflichten; die durch ſittliche Übung erlangten Fertig- keiten, im Sinne der Pflicht zu handeln, ſind die Tugenden; die Zwecke, auf die das ſittliche Streben gerichtet iſt, ſind die ſittlichen Güter. Und jede Zeit und jedes religiöſe und philoſophiſche Moralſyſtem beſtimmt ſie nicht nur an ſich, grenzt ſie vom natür- lichen Handeln und Geſchehen, vom reinen Triebleben, vom ſittlich gleichgültigen Handeln ab, ſondern ſtellt eine Wertordnung der Zwecke, der Tugenden, der Pflichten her. Einem Zeitalter gilt die Tapferkeit, einem anderen die Gerechtigkeit, einem dritten die Abtötung

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/60>, abgerufen am 25.04.2024.