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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
wissen es nicht anders, als daß sie unter dieser zumal in alten Zeiten barbarisch strafenden
Gewalt stehen, und auch heute ist die Strafgewalt die ultima ratio, welche das Gute
und damit die Gesellschaft aufrecht erhält.

Der äußere Zwang zu sittlichem Verhalten, der mit der Rute des Vaters und
Lehrers beginnt und durch alle Zwangsveranstaltungen der Gesellschaft und des Staates
hindurch mit der Zwangspflicht endigt, eventuell sein Leben fürs Vaterland zu lassen,
bringt zunächst nur ein äußerlich legales Verhalten in der Mehrzahl der Fälle zuwege,
keine innere Sittlichkeit, aber er beseitigt die direkten Störungen der sittlichen Ordnung,
er gewöhnt die Menge daran, das Unsittliche zu meiden, er erzieht durch Gewöhnung
und Vorbild, er bringt einen äußeren Schein der Anständigkeit und Tugend hervor, der
nicht ohne Rückwirkung auf das Innere bleiben kann, in Verbindung mit der Furcht
vor gesellschaftlichem Tadel auch innerlich die Gefühle veredelt.

Noch mehr aber vollzieht sich die innerliche sittliche Umbildung durch die religiösen
Vorstellungen, so grob sinnlich sie anfangs sind, so sehr sie lange sich äußerer staatlicher
Zwangsmittel bedienen. Das letzte Ziel des religiösen Kontrollapparates ist doch, die
Menschen in ihrer innersten Gesinnung zu ändern. Die Religionssysteme waren das
wichtigste Mittel, das sinnlich-individuelle Triebleben zu bändigen. Die religiösen Vor-
stellungen ergriffen das menschliche Gemüt mit noch ganz anderer Gewalt als die beiden
anderen Zuchtmittel. Die zitternde Furcht des naiven Urmenschen vor dem Übersinnlichen
ist einer der stärksten, wenn nicht der stärkste Hebel zur Befestigung der sittlichen Kräfte
und der gesellschaftlichen Einrichtungen gewesen.

Die ältesten religiösen Gefühle und Satzungen entsprangen den Vorstellungen über
die Seele, ihre Wanderungen im Traume, ihr Fortleben nach dem Tode; die Seele des
Toten könne, so glaubte man, ihren Sitz im Stein, im Baum, im Tiere wie im Leichnam
selbst nehmen; der Totenkultus, die Sitte des Begrabens, das Opfern für die Toten
entsprang aus diesen Vorstellungen; die toten Könige und Häuptlinge erschienen, wie
die ganze mit Geistern erfüllte Natur, als Mächte der Finsternis oder des Lichtes, denen
man dienen, opfern, sich willenlos unterordnen müsse, deren Willen die Zauberer und
Priester erkundeten und mitteilten. So entstanden priesterliche, angeblich von den Geistern
und Göttern diktierte Regeln, meist ursprünglich Regeln der gesellschaftlichen Zucht, der
Unterordnung des Individuums unter allgemeine Zwecke, welche Millionen und Milliarden
von Menschen veranlaßten, dem irdischen Genusse zu entsagen, die unmittelbaren, nächst-
liegenden individuellen Vorteile den Göttern oder einer fernen Zukunft zu opfern. Nicht
aus Überlegung des eigenen oder gesellschaftlichen Nutzens handelten sie so, sondern weil
ein überwältigendes Gefühl der Demut und der Furcht vor der Hölle und ihren Strafen
sie nötigte, die Gebote der Götter höher zu achten als sinnliche Lust oder eigenen Willen,
weil sie sich selbst für besser hielten, wenn sie so handelten, wie es die Vorschriften der
Religion forderten.

Die religiöse Stimmung ist ursprünglich bei den rohesten Menschen nichts als ein
unaussprechliches Bangen vor körperlichem Leid, ein Gefühl der eigenen Schwäche, eine
Furcht vor den unverstandenen Gewalten, die den Menschen allmächtig umgeben. Die
Phantasie sucht nach Kräften, nach Ursachen, die das Geschehene erklären, die man als
handelnde, strafende, zürnende Wesen sich denkt, die als Kräfte vorgestellt werden, welche
in das menschliche Leben eingreifen können, nach deren Wunsch man das häusliche wie
das öffentliche Leben einrichten müsse, deren Zorn man abwenden müsse durch Gebet,
durch Folgsamkeit gegen ihre Diener und Willensüberbringer, durch schlechthinige Er-
gebung in ihre Befehle. Unendlich lange hat es gedauert, bis die unklaren und rohen
Vorstellungen über böse Geister und ihr vielfach tückisches Verhalten gegen die Menschen
sich abklärte zu einem edleren religiösen Glauben, der in den Göttern Vorbilder und
Träger einer idealen, über der sinnlichen erhabenen Weltordnung sah. Diese setzte an
die Stelle der Vorstellungen vom Zorn und der Leidenschaft der Götter den Glauben
an eine alles Gute belohnende, alles Böse strafende göttliche Gewalt. Die Vergeltung,
die den menschlichen Einrichtungen in der Gegenwart immer nur unvollkommen gelingen
konnte, wurde den Göttern zugetraut; man rechnete bald auf eine Vergeltung auf Erden

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
wiſſen es nicht anders, als daß ſie unter dieſer zumal in alten Zeiten barbariſch ſtrafenden
Gewalt ſtehen, und auch heute iſt die Strafgewalt die ultima ratio, welche das Gute
und damit die Geſellſchaft aufrecht erhält.

Der äußere Zwang zu ſittlichem Verhalten, der mit der Rute des Vaters und
Lehrers beginnt und durch alle Zwangsveranſtaltungen der Geſellſchaft und des Staates
hindurch mit der Zwangspflicht endigt, eventuell ſein Leben fürs Vaterland zu laſſen,
bringt zunächſt nur ein äußerlich legales Verhalten in der Mehrzahl der Fälle zuwege,
keine innere Sittlichkeit, aber er beſeitigt die direkten Störungen der ſittlichen Ordnung,
er gewöhnt die Menge daran, das Unſittliche zu meiden, er erzieht durch Gewöhnung
und Vorbild, er bringt einen äußeren Schein der Anſtändigkeit und Tugend hervor, der
nicht ohne Rückwirkung auf das Innere bleiben kann, in Verbindung mit der Furcht
vor geſellſchaftlichem Tadel auch innerlich die Gefühle veredelt.

Noch mehr aber vollzieht ſich die innerliche ſittliche Umbildung durch die religiöſen
Vorſtellungen, ſo grob ſinnlich ſie anfangs ſind, ſo ſehr ſie lange ſich äußerer ſtaatlicher
Zwangsmittel bedienen. Das letzte Ziel des religiöſen Kontrollapparates iſt doch, die
Menſchen in ihrer innerſten Geſinnung zu ändern. Die Religionsſyſteme waren das
wichtigſte Mittel, das ſinnlich-individuelle Triebleben zu bändigen. Die religiöſen Vor-
ſtellungen ergriffen das menſchliche Gemüt mit noch ganz anderer Gewalt als die beiden
anderen Zuchtmittel. Die zitternde Furcht des naiven Urmenſchen vor dem Überſinnlichen
iſt einer der ſtärkſten, wenn nicht der ſtärkſte Hebel zur Befeſtigung der ſittlichen Kräfte
und der geſellſchaftlichen Einrichtungen geweſen.

Die älteſten religiöſen Gefühle und Satzungen entſprangen den Vorſtellungen über
die Seele, ihre Wanderungen im Traume, ihr Fortleben nach dem Tode; die Seele des
Toten könne, ſo glaubte man, ihren Sitz im Stein, im Baum, im Tiere wie im Leichnam
ſelbſt nehmen; der Totenkultus, die Sitte des Begrabens, das Opfern für die Toten
entſprang aus dieſen Vorſtellungen; die toten Könige und Häuptlinge erſchienen, wie
die ganze mit Geiſtern erfüllte Natur, als Mächte der Finſternis oder des Lichtes, denen
man dienen, opfern, ſich willenlos unterordnen müſſe, deren Willen die Zauberer und
Prieſter erkundeten und mitteilten. So entſtanden prieſterliche, angeblich von den Geiſtern
und Göttern diktierte Regeln, meiſt urſprünglich Regeln der geſellſchaftlichen Zucht, der
Unterordnung des Individuums unter allgemeine Zwecke, welche Millionen und Milliarden
von Menſchen veranlaßten, dem irdiſchen Genuſſe zu entſagen, die unmittelbaren, nächſt-
liegenden individuellen Vorteile den Göttern oder einer fernen Zukunft zu opfern. Nicht
aus Überlegung des eigenen oder geſellſchaftlichen Nutzens handelten ſie ſo, ſondern weil
ein überwältigendes Gefühl der Demut und der Furcht vor der Hölle und ihren Strafen
ſie nötigte, die Gebote der Götter höher zu achten als ſinnliche Luſt oder eigenen Willen,
weil ſie ſich ſelbſt für beſſer hielten, wenn ſie ſo handelten, wie es die Vorſchriften der
Religion forderten.

Die religiöſe Stimmung iſt urſprünglich bei den roheſten Menſchen nichts als ein
unausſprechliches Bangen vor körperlichem Leid, ein Gefühl der eigenen Schwäche, eine
Furcht vor den unverſtandenen Gewalten, die den Menſchen allmächtig umgeben. Die
Phantaſie ſucht nach Kräften, nach Urſachen, die das Geſchehene erklären, die man als
handelnde, ſtrafende, zürnende Weſen ſich denkt, die als Kräfte vorgeſtellt werden, welche
in das menſchliche Leben eingreifen können, nach deren Wunſch man das häusliche wie
das öffentliche Leben einrichten müſſe, deren Zorn man abwenden müſſe durch Gebet,
durch Folgſamkeit gegen ihre Diener und Willensüberbringer, durch ſchlechthinige Er-
gebung in ihre Befehle. Unendlich lange hat es gedauert, bis die unklaren und rohen
Vorſtellungen über böſe Geiſter und ihr vielfach tückiſches Verhalten gegen die Menſchen
ſich abklärte zu einem edleren religiöſen Glauben, der in den Göttern Vorbilder und
Träger einer idealen, über der ſinnlichen erhabenen Weltordnung ſah. Dieſe ſetzte an
die Stelle der Vorſtellungen vom Zorn und der Leidenſchaft der Götter den Glauben
an eine alles Gute belohnende, alles Böſe ſtrafende göttliche Gewalt. Die Vergeltung,
die den menſchlichen Einrichtungen in der Gegenwart immer nur unvollkommen gelingen
konnte, wurde den Göttern zugetraut; man rechnete bald auf eine Vergeltung auf Erden

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[46/0062] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. wiſſen es nicht anders, als daß ſie unter dieſer zumal in alten Zeiten barbariſch ſtrafenden Gewalt ſtehen, und auch heute iſt die Strafgewalt die ultima ratio, welche das Gute und damit die Geſellſchaft aufrecht erhält. Der äußere Zwang zu ſittlichem Verhalten, der mit der Rute des Vaters und Lehrers beginnt und durch alle Zwangsveranſtaltungen der Geſellſchaft und des Staates hindurch mit der Zwangspflicht endigt, eventuell ſein Leben fürs Vaterland zu laſſen, bringt zunächſt nur ein äußerlich legales Verhalten in der Mehrzahl der Fälle zuwege, keine innere Sittlichkeit, aber er beſeitigt die direkten Störungen der ſittlichen Ordnung, er gewöhnt die Menge daran, das Unſittliche zu meiden, er erzieht durch Gewöhnung und Vorbild, er bringt einen äußeren Schein der Anſtändigkeit und Tugend hervor, der nicht ohne Rückwirkung auf das Innere bleiben kann, in Verbindung mit der Furcht vor geſellſchaftlichem Tadel auch innerlich die Gefühle veredelt. Noch mehr aber vollzieht ſich die innerliche ſittliche Umbildung durch die religiöſen Vorſtellungen, ſo grob ſinnlich ſie anfangs ſind, ſo ſehr ſie lange ſich äußerer ſtaatlicher Zwangsmittel bedienen. Das letzte Ziel des religiöſen Kontrollapparates iſt doch, die Menſchen in ihrer innerſten Geſinnung zu ändern. Die Religionsſyſteme waren das wichtigſte Mittel, das ſinnlich-individuelle Triebleben zu bändigen. Die religiöſen Vor- ſtellungen ergriffen das menſchliche Gemüt mit noch ganz anderer Gewalt als die beiden anderen Zuchtmittel. Die zitternde Furcht des naiven Urmenſchen vor dem Überſinnlichen iſt einer der ſtärkſten, wenn nicht der ſtärkſte Hebel zur Befeſtigung der ſittlichen Kräfte und der geſellſchaftlichen Einrichtungen geweſen. Die älteſten religiöſen Gefühle und Satzungen entſprangen den Vorſtellungen über die Seele, ihre Wanderungen im Traume, ihr Fortleben nach dem Tode; die Seele des Toten könne, ſo glaubte man, ihren Sitz im Stein, im Baum, im Tiere wie im Leichnam ſelbſt nehmen; der Totenkultus, die Sitte des Begrabens, das Opfern für die Toten entſprang aus dieſen Vorſtellungen; die toten Könige und Häuptlinge erſchienen, wie die ganze mit Geiſtern erfüllte Natur, als Mächte der Finſternis oder des Lichtes, denen man dienen, opfern, ſich willenlos unterordnen müſſe, deren Willen die Zauberer und Prieſter erkundeten und mitteilten. So entſtanden prieſterliche, angeblich von den Geiſtern und Göttern diktierte Regeln, meiſt urſprünglich Regeln der geſellſchaftlichen Zucht, der Unterordnung des Individuums unter allgemeine Zwecke, welche Millionen und Milliarden von Menſchen veranlaßten, dem irdiſchen Genuſſe zu entſagen, die unmittelbaren, nächſt- liegenden individuellen Vorteile den Göttern oder einer fernen Zukunft zu opfern. Nicht aus Überlegung des eigenen oder geſellſchaftlichen Nutzens handelten ſie ſo, ſondern weil ein überwältigendes Gefühl der Demut und der Furcht vor der Hölle und ihren Strafen ſie nötigte, die Gebote der Götter höher zu achten als ſinnliche Luſt oder eigenen Willen, weil ſie ſich ſelbſt für beſſer hielten, wenn ſie ſo handelten, wie es die Vorſchriften der Religion forderten. Die religiöſe Stimmung iſt urſprünglich bei den roheſten Menſchen nichts als ein unausſprechliches Bangen vor körperlichem Leid, ein Gefühl der eigenen Schwäche, eine Furcht vor den unverſtandenen Gewalten, die den Menſchen allmächtig umgeben. Die Phantaſie ſucht nach Kräften, nach Urſachen, die das Geſchehene erklären, die man als handelnde, ſtrafende, zürnende Weſen ſich denkt, die als Kräfte vorgeſtellt werden, welche in das menſchliche Leben eingreifen können, nach deren Wunſch man das häusliche wie das öffentliche Leben einrichten müſſe, deren Zorn man abwenden müſſe durch Gebet, durch Folgſamkeit gegen ihre Diener und Willensüberbringer, durch ſchlechthinige Er- gebung in ihre Befehle. Unendlich lange hat es gedauert, bis die unklaren und rohen Vorſtellungen über böſe Geiſter und ihr vielfach tückiſches Verhalten gegen die Menſchen ſich abklärte zu einem edleren religiöſen Glauben, der in den Göttern Vorbilder und Träger einer idealen, über der ſinnlichen erhabenen Weltordnung ſah. Dieſe ſetzte an die Stelle der Vorſtellungen vom Zorn und der Leidenſchaft der Götter den Glauben an eine alles Gute belohnende, alles Böſe ſtrafende göttliche Gewalt. Die Vergeltung, die den menſchlichen Einrichtungen in der Gegenwart immer nur unvollkommen gelingen konnte, wurde den Göttern zugetraut; man rechnete bald auf eine Vergeltung auf Erden

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/62>, abgerufen am 28.03.2024.