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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
im Inneren der Kampf, der Widerspruch ruht, wenn alle einzelnen dem Führer gehorchen,
wenn jeder Ungehorsam bestraft wird. Die kriegerischen Sitten befestigen am meisten
eine königliche Gewalt (siehe oben S. 7--8); und einmal aufgerichtet, wird sie zur rich-
tenden und strafenden Gewalt überhaupt, sucht Selbsthülfe und Eigenmacht zu beschränken,
verlangt, daß der Eigentümer den Dieb, der Gläubiger den Schuldner nur fasse unter
Teilnahme und Kontrolle der neuen, öffentlichen Gewalt. Wenn es dieser Gewalt, wie
in Rom, relativ früh gelingt, jeden Mord aus einer nach der Sitte zu begleichenden
Privatsache der Gentes und der einzelnen zu einer Angelegenheit zu machen, die das
ganze Gemeinwesen angeht und straft, so giebt sie damit demselben eine viel höhere
Friedenssicherheit, eine viel größere Möglichkeit inneren wirtschaftlichen Fortschrittes und
größerer Kraftentwickelung gegen andere Stämme. Der Keim zum Rechtsstaat ist gelegt.

Wie im Körper des Kindes aus einem Teile der weichen Knorpeln nach und nach
feste und harte Knochen sich bilden, so entsteht alles Recht in der Weise, daß ein Teil
der althergebrachten Regeln der Sitte zu festen, durch die Macht gesicherten Ordnungen
werden. Was als besonders wichtig, als besonders bedeutungsvoll für die Lebens-
interessen der Gesamtheit, für die Streitbeseitigung und Friedenserhaltung gilt, das wird
aus der übrigen Menge der socialen Lebensregeln durch Stammes- und Häuptlings-
beschlüsse, durch Gebote der Könige und Ältesten oder auch durch bloße strengere Übung
als Recht ausgesondert, mit höherer Kraft und Weihe ausgestattet, mit Straf- oder
Ächtungsklauseln versehen.

So sehr diese im Anfang nicht allzu zahlreichen Rechtsregeln nur unter dem
Schutze der Macht, der Gewalt entstehen und wachsen und durch diese größere Sicherung
ihrer Ausführung sich von der Sitte, der Gewohnheit zu unterscheiden anfangen, so
schwankend bleibt Jahrhunderte lang die Grenze zwischen Sitte und Recht; die Brücke
des Gewohnheitsrechtes verbindet beide; die Furcht vor der Strafe der Götter wirkt auch
beim Recht lange Zeit mehr, als der strafende Arm des Königs. So lange so Sitte
und Recht ohne strenge Scheidung nebeneinander stehen und ineinander übergehen, ist
die sociale Zucht, die sie üben, außerordentlich stark. Die meisten älteren eigentlichen
Kulturstaaten zeigen ein solches Bild. Die Völker, die unter dem Impulse starker
religiöser Vorstellungen die alte Kraft der Sitte auf allen Lebensgebieten noch bewahrt
und daneben doch auch schon den starken Apparat eines staatlichen Rechtes ausgebildet
haben, machten nach allen Seiten, vor allem auch nach der wirtschaftlichen, größere
Fortschritte als die Stämme, welchen dies weniger gelang.

Kirche und Staat, Recht und Sitte, religiöser und rechtlicher Zwang fallen auf
dieser Kulturstufe noch mehr oder weniger zusammen; Ihering hat in geistreicher Weise
darauf aufmerksam gemacht, wie das indische Wort dharma, das hebräische mischpat
und das griechische dike Sitte, Sittlichkeit, Recht und Ritus zugleich bezeichnen. In
gleichem Zusammenhang der Gedanken hat Peschel daran erinnert, daß eine der
reinsten der älteren Religionen, nämlich die eranische Lehre Zarathustras und seiner
Nachfolger, jeden Verstoß gegen schamanistische und Ritualvorschriften ebenso als Sünde
bezeichne, wie Lüge und Diebstahl. Die Priester und die Richter sind noch ein und
dieselben Personen, wie bei den meisten indogermanischen Völkern, vor allem im älteren
Rom. Rechtliche, censorische und kirchliche Straf- und Zuchtmittel sind noch nicht recht
getrennt. Die Ägypter und die Römer hatten mit am frühesten einen staatlich geordneten
Apparat des Rechtes, aber zugleich die unerbittlichste Herrschaft einer strengen Sitte auf
allen Lebensgebieten. In dem Satz: Moribus plus quam legibus stat res Romana lag
eine tiefe Wahrheit. Das gesamte Leben der Ägypter, hat man gesagt, war geordnet wie
ein Gottesdienst. Sie haben, sagt Herodot, einen harten und strengen Dienst und viele
heilige Gebräuche. Unzählig waren die Vorschriften über Reinheit des Körpers, über
Kleidung und Essen, über Klystiere und Ceremonien. Hoben sich dagegen die Gesetze
Moses als einfache ab, so gingen doch die späteren Satzungen der israelitischen Priester
auch auf alle Einzelheiten des Lebens ein. Und wenn wir die Bußordnungen der
abendländischen Kirche aus dem 8.--10. Jahrhundert nachlesen oder die Kapitularien
der Karolinger, so versetzen sie uns auch in eine Zeit, in welcher Sitte und Recht der

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
im Inneren der Kampf, der Widerſpruch ruht, wenn alle einzelnen dem Führer gehorchen,
wenn jeder Ungehorſam beſtraft wird. Die kriegeriſchen Sitten befeſtigen am meiſten
eine königliche Gewalt (ſiehe oben S. 7—8); und einmal aufgerichtet, wird ſie zur rich-
tenden und ſtrafenden Gewalt überhaupt, ſucht Selbſthülfe und Eigenmacht zu beſchränken,
verlangt, daß der Eigentümer den Dieb, der Gläubiger den Schuldner nur faſſe unter
Teilnahme und Kontrolle der neuen, öffentlichen Gewalt. Wenn es dieſer Gewalt, wie
in Rom, relativ früh gelingt, jeden Mord aus einer nach der Sitte zu begleichenden
Privatſache der Gentes und der einzelnen zu einer Angelegenheit zu machen, die das
ganze Gemeinweſen angeht und ſtraft, ſo giebt ſie damit demſelben eine viel höhere
Friedensſicherheit, eine viel größere Möglichkeit inneren wirtſchaftlichen Fortſchrittes und
größerer Kraftentwickelung gegen andere Stämme. Der Keim zum Rechtsſtaat iſt gelegt.

Wie im Körper des Kindes aus einem Teile der weichen Knorpeln nach und nach
feſte und harte Knochen ſich bilden, ſo entſteht alles Recht in der Weiſe, daß ein Teil
der althergebrachten Regeln der Sitte zu feſten, durch die Macht geſicherten Ordnungen
werden. Was als beſonders wichtig, als beſonders bedeutungsvoll für die Lebens-
intereſſen der Geſamtheit, für die Streitbeſeitigung und Friedenserhaltung gilt, das wird
aus der übrigen Menge der ſocialen Lebensregeln durch Stammes- und Häuptlings-
beſchlüſſe, durch Gebote der Könige und Älteſten oder auch durch bloße ſtrengere Übung
als Recht ausgeſondert, mit höherer Kraft und Weihe ausgeſtattet, mit Straf- oder
Ächtungsklauſeln verſehen.

So ſehr dieſe im Anfang nicht allzu zahlreichen Rechtsregeln nur unter dem
Schutze der Macht, der Gewalt entſtehen und wachſen und durch dieſe größere Sicherung
ihrer Ausführung ſich von der Sitte, der Gewohnheit zu unterſcheiden anfangen, ſo
ſchwankend bleibt Jahrhunderte lang die Grenze zwiſchen Sitte und Recht; die Brücke
des Gewohnheitsrechtes verbindet beide; die Furcht vor der Strafe der Götter wirkt auch
beim Recht lange Zeit mehr, als der ſtrafende Arm des Königs. So lange ſo Sitte
und Recht ohne ſtrenge Scheidung nebeneinander ſtehen und ineinander übergehen, iſt
die ſociale Zucht, die ſie üben, außerordentlich ſtark. Die meiſten älteren eigentlichen
Kulturſtaaten zeigen ein ſolches Bild. Die Völker, die unter dem Impulſe ſtarker
religiöſer Vorſtellungen die alte Kraft der Sitte auf allen Lebensgebieten noch bewahrt
und daneben doch auch ſchon den ſtarken Apparat eines ſtaatlichen Rechtes ausgebildet
haben, machten nach allen Seiten, vor allem auch nach der wirtſchaftlichen, größere
Fortſchritte als die Stämme, welchen dies weniger gelang.

Kirche und Staat, Recht und Sitte, religiöſer und rechtlicher Zwang fallen auf
dieſer Kulturſtufe noch mehr oder weniger zuſammen; Ihering hat in geiſtreicher Weiſe
darauf aufmerkſam gemacht, wie das indiſche Wort dharma, das hebräiſche mischpat
und das griechiſche δίκη Sitte, Sittlichkeit, Recht und Ritus zugleich bezeichnen. In
gleichem Zuſammenhang der Gedanken hat Peſchel daran erinnert, daß eine der
reinſten der älteren Religionen, nämlich die eraniſche Lehre Zarathuſtras und ſeiner
Nachfolger, jeden Verſtoß gegen ſchamaniſtiſche und Ritualvorſchriften ebenſo als Sünde
bezeichne, wie Lüge und Diebſtahl. Die Prieſter und die Richter ſind noch ein und
dieſelben Perſonen, wie bei den meiſten indogermaniſchen Völkern, vor allem im älteren
Rom. Rechtliche, cenſoriſche und kirchliche Straf- und Zuchtmittel ſind noch nicht recht
getrennt. Die Ägypter und die Römer hatten mit am früheſten einen ſtaatlich geordneten
Apparat des Rechtes, aber zugleich die unerbittlichſte Herrſchaft einer ſtrengen Sitte auf
allen Lebensgebieten. In dem Satz: Moribus plus quam legibus stat res Romana lag
eine tiefe Wahrheit. Das geſamte Leben der Ägypter, hat man geſagt, war geordnet wie
ein Gottesdienſt. Sie haben, ſagt Herodot, einen harten und ſtrengen Dienſt und viele
heilige Gebräuche. Unzählig waren die Vorſchriften über Reinheit des Körpers, über
Kleidung und Eſſen, über Klyſtiere und Ceremonien. Hoben ſich dagegen die Geſetze
Moſes als einfache ab, ſo gingen doch die ſpäteren Satzungen der israelitiſchen Prieſter
auch auf alle Einzelheiten des Lebens ein. Und wenn wir die Bußordnungen der
abendländiſchen Kirche aus dem 8.—10. Jahrhundert nachleſen oder die Kapitularien
der Karolinger, ſo verſetzen ſie uns auch in eine Zeit, in welcher Sitte und Recht der

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[52/0068] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. im Inneren der Kampf, der Widerſpruch ruht, wenn alle einzelnen dem Führer gehorchen, wenn jeder Ungehorſam beſtraft wird. Die kriegeriſchen Sitten befeſtigen am meiſten eine königliche Gewalt (ſiehe oben S. 7—8); und einmal aufgerichtet, wird ſie zur rich- tenden und ſtrafenden Gewalt überhaupt, ſucht Selbſthülfe und Eigenmacht zu beſchränken, verlangt, daß der Eigentümer den Dieb, der Gläubiger den Schuldner nur faſſe unter Teilnahme und Kontrolle der neuen, öffentlichen Gewalt. Wenn es dieſer Gewalt, wie in Rom, relativ früh gelingt, jeden Mord aus einer nach der Sitte zu begleichenden Privatſache der Gentes und der einzelnen zu einer Angelegenheit zu machen, die das ganze Gemeinweſen angeht und ſtraft, ſo giebt ſie damit demſelben eine viel höhere Friedensſicherheit, eine viel größere Möglichkeit inneren wirtſchaftlichen Fortſchrittes und größerer Kraftentwickelung gegen andere Stämme. Der Keim zum Rechtsſtaat iſt gelegt. Wie im Körper des Kindes aus einem Teile der weichen Knorpeln nach und nach feſte und harte Knochen ſich bilden, ſo entſteht alles Recht in der Weiſe, daß ein Teil der althergebrachten Regeln der Sitte zu feſten, durch die Macht geſicherten Ordnungen werden. Was als beſonders wichtig, als beſonders bedeutungsvoll für die Lebens- intereſſen der Geſamtheit, für die Streitbeſeitigung und Friedenserhaltung gilt, das wird aus der übrigen Menge der ſocialen Lebensregeln durch Stammes- und Häuptlings- beſchlüſſe, durch Gebote der Könige und Älteſten oder auch durch bloße ſtrengere Übung als Recht ausgeſondert, mit höherer Kraft und Weihe ausgeſtattet, mit Straf- oder Ächtungsklauſeln verſehen. So ſehr dieſe im Anfang nicht allzu zahlreichen Rechtsregeln nur unter dem Schutze der Macht, der Gewalt entſtehen und wachſen und durch dieſe größere Sicherung ihrer Ausführung ſich von der Sitte, der Gewohnheit zu unterſcheiden anfangen, ſo ſchwankend bleibt Jahrhunderte lang die Grenze zwiſchen Sitte und Recht; die Brücke des Gewohnheitsrechtes verbindet beide; die Furcht vor der Strafe der Götter wirkt auch beim Recht lange Zeit mehr, als der ſtrafende Arm des Königs. So lange ſo Sitte und Recht ohne ſtrenge Scheidung nebeneinander ſtehen und ineinander übergehen, iſt die ſociale Zucht, die ſie üben, außerordentlich ſtark. Die meiſten älteren eigentlichen Kulturſtaaten zeigen ein ſolches Bild. Die Völker, die unter dem Impulſe ſtarker religiöſer Vorſtellungen die alte Kraft der Sitte auf allen Lebensgebieten noch bewahrt und daneben doch auch ſchon den ſtarken Apparat eines ſtaatlichen Rechtes ausgebildet haben, machten nach allen Seiten, vor allem auch nach der wirtſchaftlichen, größere Fortſchritte als die Stämme, welchen dies weniger gelang. Kirche und Staat, Recht und Sitte, religiöſer und rechtlicher Zwang fallen auf dieſer Kulturſtufe noch mehr oder weniger zuſammen; Ihering hat in geiſtreicher Weiſe darauf aufmerkſam gemacht, wie das indiſche Wort dharma, das hebräiſche mischpat und das griechiſche δίκη Sitte, Sittlichkeit, Recht und Ritus zugleich bezeichnen. In gleichem Zuſammenhang der Gedanken hat Peſchel daran erinnert, daß eine der reinſten der älteren Religionen, nämlich die eraniſche Lehre Zarathuſtras und ſeiner Nachfolger, jeden Verſtoß gegen ſchamaniſtiſche und Ritualvorſchriften ebenſo als Sünde bezeichne, wie Lüge und Diebſtahl. Die Prieſter und die Richter ſind noch ein und dieſelben Perſonen, wie bei den meiſten indogermaniſchen Völkern, vor allem im älteren Rom. Rechtliche, cenſoriſche und kirchliche Straf- und Zuchtmittel ſind noch nicht recht getrennt. Die Ägypter und die Römer hatten mit am früheſten einen ſtaatlich geordneten Apparat des Rechtes, aber zugleich die unerbittlichſte Herrſchaft einer ſtrengen Sitte auf allen Lebensgebieten. In dem Satz: Moribus plus quam legibus stat res Romana lag eine tiefe Wahrheit. Das geſamte Leben der Ägypter, hat man geſagt, war geordnet wie ein Gottesdienſt. Sie haben, ſagt Herodot, einen harten und ſtrengen Dienſt und viele heilige Gebräuche. Unzählig waren die Vorſchriften über Reinheit des Körpers, über Kleidung und Eſſen, über Klyſtiere und Ceremonien. Hoben ſich dagegen die Geſetze Moſes als einfache ab, ſo gingen doch die ſpäteren Satzungen der israelitiſchen Prieſter auch auf alle Einzelheiten des Lebens ein. Und wenn wir die Bußordnungen der abendländiſchen Kirche aus dem 8.—10. Jahrhundert nachleſen oder die Kapitularien der Karolinger, ſo verſetzen ſie uns auch in eine Zeit, in welcher Sitte und Recht der

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/68>, abgerufen am 19.04.2024.