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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ich sehe Kraftwirkungen, die von Größenverhältnissen abhängig sind, die ich teilweise
messen kann; ich sehe Resultate, die das Ergebnis von Kraftproben und Machtkämpfen
sind, die bis auf einen gewissen Grad wenigstens mechanischer Betrachtung unterliegen
können. Ich sehe natürlich-technische und physiologische Vorgänge, die, jeder für sich
isoliert betrachtet, gar nicht als sittlich oder unsittlich, sondern nur als nützlich, geschickt,
zweckmäßig, normal oder als das Gegenteil bezeichnet werden können. Wir werden im
folgenden Grundrisse die natürlichen Kräfte und Größenverhältnisse der Volkswirtschaft,
den Einfluß von Natur und Technik, das Spiel von Angebot und Nachfrage, die mecha-
nische Wirksamkeit der Kräfte, soweit sie irgend faßbar ist, darzustellen suchen.

Alle oder die meisten dieser Kraftäußerungen, soweit sie menschliches Handeln
betreffen, gehen nun aber zurück auf nicht bloß natürliche, sondern durch die geistige und
moralische Entwickelung umgestaltete Gefühle, auf ethisierte Triebe, auf ein geordnetes
Zusammenwirken natürlicher und höherer, d. h. wesentlich auch sittlicher Gefühle, auf
Tugenden und Gewohnheiten, welche aus dem sittlichen Gemeinschaftsleben entspringen.
Alle diese Kräfte sind bedingt durch die psychischen Massenzusammenhänge, durch sittliche
Urteile und ihre Rückwirkung auf alle Vorstellungen und Willensimpulse, durch Moral,
Sitte und Recht, durch Religion und sittliche Leitideen oder Ideale. Das wirtschaftliche
Handeln ist also zwar nach seiner Naturseite ein technisch zweckmäßiges oder unzweck-
mäßiges und deshalb sittlich indifferentes, aber nach seinem Zusammenhang mit den
ganzen seelischen Kräften und der Gesellschaft ein sittlich normales oder anormales,
d. h. ein dem sittlichen Urteil unterliegendes und dadurch beeinflußtes. Natürliche
technische und sittliche Zweckmäßigkeit können sich unter Umständen in der einzelnen
Handlung wohl trennen, im Zusammenhang des menschlichen Handelns überhaupt sind
sie immer in loserer oder engerer Wechselwirkung; sie sind nur die unteren und oberen
Sprossen derselben Leiter. Das Wesen des Sittlichen besteht eben, wie wir schon sahen,
in dem nie ruhenden Prozeß, der die niedrigen Gefühle den höheren unterordnet, der
die Körper- und Geisteskräfte in einheitliche Harmonie bringen, die menschlichen Lebens-
zwecke in die richtige Über- und Unterordnung, die einzelnen Menschen den Zwecken
und Einrichtungen der Gesellschaft einfügen und immer das Niedrige in den Dienst des
Höheren bringen will. In jedem zusammenhängenden Ganzen (und das ist jeder Mensch
und jede Gesellschaft) haben die Teile nie ein ganz selbständiges Leben; jeder hängt vom
anderen ab, kann nur richtig funktionieren, wenn die Nachbarn und das Ganze gesund
sind, wenn alle Teile richtig ineinander greifen, in richtiger Neben-, Unter- und Über-
ordnung sind. Das Sittliche will diese Ordnung im Individuum und in der Gesellschaft
herbeiführen, die einzelnen erziehen, die sympathischen Gefühle ausbilden, das rechte
gesellschaftliche Zusammenwirken herbeiführen. Und die Kräfte, welche im Individuum
und der Gesellschaft dahin wirken, nennen wir die sittlichen, obwohl sie ihre natürliche
Unterlage haben, mit natürlich-technischen Mitteln wirken, durch den natürlich-technischen
Mechanismus der Volkswirtschaft bedingt sind. Sie sind es, welche die Triebe zu
Tugenden, die Menschen zu Charakteren, die Gesellschaften zu harmonisch und geordnet
wirkenden Gesamtkräften machen. Und die Volkswirtschaft sollte dieser Kräfte entraten
können?

Schäffle führt aus, das Ideal socialer Mechanik sei die Zusammenordnung zahl-
reicher menschlicher Kräfte in der Art, daß die Bewegungen jeder einzelnen mit einem
Minimum von Verlust an eigener Kraft und unter minimaler Störung aller anderen
Bewegungen stattfinde; es müsse eben durch Moral, Sitte und Recht eine Koordination
der Kräfte eintreten; das Gaußsche Grundprincip der Mechanik gelte so auch für die
Gesellschaft. Durch die Sprache, die Nachahmung, die Erziehung, die gegenseitige An-
passung, die Herrschaft der sittlichen Ideen und Einrichtungen entsteht eben die Möglich-
keit gesellschaftlich-harmonischen Zusammenwirkens; alle sittlichen Kräfte sind auf dieses
Ziel hingerichtet; auch das wirtschaftliche Zusammenwirken der Menschen in jeder Familie,
jeder Unternehmung, auf jedem Markte, in jeder Gemeinde ist so von dieser koordi-
nierenden sittlichen Arbeit abhängig. Und ebenso das Zusammenwirken von heute
auf morgen, von verschiedenen Generationen, die sich folgen.

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ich ſehe Kraftwirkungen, die von Größenverhältniſſen abhängig ſind, die ich teilweiſe
meſſen kann; ich ſehe Reſultate, die das Ergebnis von Kraftproben und Machtkämpfen
ſind, die bis auf einen gewiſſen Grad wenigſtens mechaniſcher Betrachtung unterliegen
können. Ich ſehe natürlich-techniſche und phyſiologiſche Vorgänge, die, jeder für ſich
iſoliert betrachtet, gar nicht als ſittlich oder unſittlich, ſondern nur als nützlich, geſchickt,
zweckmäßig, normal oder als das Gegenteil bezeichnet werden können. Wir werden im
folgenden Grundriſſe die natürlichen Kräfte und Größenverhältniſſe der Volkswirtſchaft,
den Einfluß von Natur und Technik, das Spiel von Angebot und Nachfrage, die mecha-
niſche Wirkſamkeit der Kräfte, ſoweit ſie irgend faßbar iſt, darzuſtellen ſuchen.

Alle oder die meiſten dieſer Kraftäußerungen, ſoweit ſie menſchliches Handeln
betreffen, gehen nun aber zurück auf nicht bloß natürliche, ſondern durch die geiſtige und
moraliſche Entwickelung umgeſtaltete Gefühle, auf ethiſierte Triebe, auf ein geordnetes
Zuſammenwirken natürlicher und höherer, d. h. weſentlich auch ſittlicher Gefühle, auf
Tugenden und Gewohnheiten, welche aus dem ſittlichen Gemeinſchaftsleben entſpringen.
Alle dieſe Kräfte ſind bedingt durch die pſychiſchen Maſſenzuſammenhänge, durch ſittliche
Urteile und ihre Rückwirkung auf alle Vorſtellungen und Willensimpulſe, durch Moral,
Sitte und Recht, durch Religion und ſittliche Leitideen oder Ideale. Das wirtſchaftliche
Handeln iſt alſo zwar nach ſeiner Naturſeite ein techniſch zweckmäßiges oder unzweck-
mäßiges und deshalb ſittlich indifferentes, aber nach ſeinem Zuſammenhang mit den
ganzen ſeeliſchen Kräften und der Geſellſchaft ein ſittlich normales oder anormales,
d. h. ein dem ſittlichen Urteil unterliegendes und dadurch beeinflußtes. Natürliche
techniſche und ſittliche Zweckmäßigkeit können ſich unter Umſtänden in der einzelnen
Handlung wohl trennen, im Zuſammenhang des menſchlichen Handelns überhaupt ſind
ſie immer in loſerer oder engerer Wechſelwirkung; ſie ſind nur die unteren und oberen
Sproſſen derſelben Leiter. Das Weſen des Sittlichen beſteht eben, wie wir ſchon ſahen,
in dem nie ruhenden Prozeß, der die niedrigen Gefühle den höheren unterordnet, der
die Körper- und Geiſteskräfte in einheitliche Harmonie bringen, die menſchlichen Lebens-
zwecke in die richtige Über- und Unterordnung, die einzelnen Menſchen den Zwecken
und Einrichtungen der Geſellſchaft einfügen und immer das Niedrige in den Dienſt des
Höheren bringen will. In jedem zuſammenhängenden Ganzen (und das iſt jeder Menſch
und jede Geſellſchaft) haben die Teile nie ein ganz ſelbſtändiges Leben; jeder hängt vom
anderen ab, kann nur richtig funktionieren, wenn die Nachbarn und das Ganze geſund
ſind, wenn alle Teile richtig ineinander greifen, in richtiger Neben-, Unter- und Über-
ordnung ſind. Das Sittliche will dieſe Ordnung im Individuum und in der Geſellſchaft
herbeiführen, die einzelnen erziehen, die ſympathiſchen Gefühle ausbilden, das rechte
geſellſchaftliche Zuſammenwirken herbeiführen. Und die Kräfte, welche im Individuum
und der Geſellſchaft dahin wirken, nennen wir die ſittlichen, obwohl ſie ihre natürliche
Unterlage haben, mit natürlich-techniſchen Mitteln wirken, durch den natürlich-techniſchen
Mechanismus der Volkswirtſchaft bedingt ſind. Sie ſind es, welche die Triebe zu
Tugenden, die Menſchen zu Charakteren, die Geſellſchaften zu harmoniſch und geordnet
wirkenden Geſamtkräften machen. Und die Volkswirtſchaft ſollte dieſer Kräfte entraten
können?

Schäffle führt aus, das Ideal ſocialer Mechanik ſei die Zuſammenordnung zahl-
reicher menſchlicher Kräfte in der Art, daß die Bewegungen jeder einzelnen mit einem
Minimum von Verluſt an eigener Kraft und unter minimaler Störung aller anderen
Bewegungen ſtattfinde; es müſſe eben durch Moral, Sitte und Recht eine Koordination
der Kräfte eintreten; das Gaußſche Grundprincip der Mechanik gelte ſo auch für die
Geſellſchaft. Durch die Sprache, die Nachahmung, die Erziehung, die gegenſeitige An-
paſſung, die Herrſchaft der ſittlichen Ideen und Einrichtungen entſteht eben die Möglich-
keit geſellſchaftlich-harmoniſchen Zuſammenwirkens; alle ſittlichen Kräfte ſind auf dieſes
Ziel hingerichtet; auch das wirtſchaftliche Zuſammenwirken der Menſchen in jeder Familie,
jeder Unternehmung, auf jedem Markte, in jeder Gemeinde iſt ſo von dieſer koordi-
nierenden ſittlichen Arbeit abhängig. Und ebenſo das Zuſammenwirken von heute
auf morgen, von verſchiedenen Generationen, die ſich folgen.

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[60/0076] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. ich ſehe Kraftwirkungen, die von Größenverhältniſſen abhängig ſind, die ich teilweiſe meſſen kann; ich ſehe Reſultate, die das Ergebnis von Kraftproben und Machtkämpfen ſind, die bis auf einen gewiſſen Grad wenigſtens mechaniſcher Betrachtung unterliegen können. Ich ſehe natürlich-techniſche und phyſiologiſche Vorgänge, die, jeder für ſich iſoliert betrachtet, gar nicht als ſittlich oder unſittlich, ſondern nur als nützlich, geſchickt, zweckmäßig, normal oder als das Gegenteil bezeichnet werden können. Wir werden im folgenden Grundriſſe die natürlichen Kräfte und Größenverhältniſſe der Volkswirtſchaft, den Einfluß von Natur und Technik, das Spiel von Angebot und Nachfrage, die mecha- niſche Wirkſamkeit der Kräfte, ſoweit ſie irgend faßbar iſt, darzuſtellen ſuchen. Alle oder die meiſten dieſer Kraftäußerungen, ſoweit ſie menſchliches Handeln betreffen, gehen nun aber zurück auf nicht bloß natürliche, ſondern durch die geiſtige und moraliſche Entwickelung umgeſtaltete Gefühle, auf ethiſierte Triebe, auf ein geordnetes Zuſammenwirken natürlicher und höherer, d. h. weſentlich auch ſittlicher Gefühle, auf Tugenden und Gewohnheiten, welche aus dem ſittlichen Gemeinſchaftsleben entſpringen. Alle dieſe Kräfte ſind bedingt durch die pſychiſchen Maſſenzuſammenhänge, durch ſittliche Urteile und ihre Rückwirkung auf alle Vorſtellungen und Willensimpulſe, durch Moral, Sitte und Recht, durch Religion und ſittliche Leitideen oder Ideale. Das wirtſchaftliche Handeln iſt alſo zwar nach ſeiner Naturſeite ein techniſch zweckmäßiges oder unzweck- mäßiges und deshalb ſittlich indifferentes, aber nach ſeinem Zuſammenhang mit den ganzen ſeeliſchen Kräften und der Geſellſchaft ein ſittlich normales oder anormales, d. h. ein dem ſittlichen Urteil unterliegendes und dadurch beeinflußtes. Natürliche techniſche und ſittliche Zweckmäßigkeit können ſich unter Umſtänden in der einzelnen Handlung wohl trennen, im Zuſammenhang des menſchlichen Handelns überhaupt ſind ſie immer in loſerer oder engerer Wechſelwirkung; ſie ſind nur die unteren und oberen Sproſſen derſelben Leiter. Das Weſen des Sittlichen beſteht eben, wie wir ſchon ſahen, in dem nie ruhenden Prozeß, der die niedrigen Gefühle den höheren unterordnet, der die Körper- und Geiſteskräfte in einheitliche Harmonie bringen, die menſchlichen Lebens- zwecke in die richtige Über- und Unterordnung, die einzelnen Menſchen den Zwecken und Einrichtungen der Geſellſchaft einfügen und immer das Niedrige in den Dienſt des Höheren bringen will. In jedem zuſammenhängenden Ganzen (und das iſt jeder Menſch und jede Geſellſchaft) haben die Teile nie ein ganz ſelbſtändiges Leben; jeder hängt vom anderen ab, kann nur richtig funktionieren, wenn die Nachbarn und das Ganze geſund ſind, wenn alle Teile richtig ineinander greifen, in richtiger Neben-, Unter- und Über- ordnung ſind. Das Sittliche will dieſe Ordnung im Individuum und in der Geſellſchaft herbeiführen, die einzelnen erziehen, die ſympathiſchen Gefühle ausbilden, das rechte geſellſchaftliche Zuſammenwirken herbeiführen. Und die Kräfte, welche im Individuum und der Geſellſchaft dahin wirken, nennen wir die ſittlichen, obwohl ſie ihre natürliche Unterlage haben, mit natürlich-techniſchen Mitteln wirken, durch den natürlich-techniſchen Mechanismus der Volkswirtſchaft bedingt ſind. Sie ſind es, welche die Triebe zu Tugenden, die Menſchen zu Charakteren, die Geſellſchaften zu harmoniſch und geordnet wirkenden Geſamtkräften machen. Und die Volkswirtſchaft ſollte dieſer Kräfte entraten können? Schäffle führt aus, das Ideal ſocialer Mechanik ſei die Zuſammenordnung zahl- reicher menſchlicher Kräfte in der Art, daß die Bewegungen jeder einzelnen mit einem Minimum von Verluſt an eigener Kraft und unter minimaler Störung aller anderen Bewegungen ſtattfinde; es müſſe eben durch Moral, Sitte und Recht eine Koordination der Kräfte eintreten; das Gaußſche Grundprincip der Mechanik gelte ſo auch für die Geſellſchaft. Durch die Sprache, die Nachahmung, die Erziehung, die gegenſeitige An- paſſung, die Herrſchaft der ſittlichen Ideen und Einrichtungen entſteht eben die Möglich- keit geſellſchaftlich-harmoniſchen Zuſammenwirkens; alle ſittlichen Kräfte ſind auf dieſes Ziel hingerichtet; auch das wirtſchaftliche Zuſammenwirken der Menſchen in jeder Familie, jeder Unternehmung, auf jedem Markte, in jeder Gemeinde iſt ſo von dieſer koordi- nierenden ſittlichen Arbeit abhängig. Und ebenſo das Zuſammenwirken von heute auf morgen, von verſchiedenen Generationen, die ſich folgen.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/76>, abgerufen am 24.04.2024.