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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Der einseitige, vom Klassen- und Parteigeist erfüllte Doktrinarismus, welcher stets gern
im Namen der großen idealen Principien redet und einseitig nur die Freiheit oder die
Gleichheit oder die Gerechtigkeit auf die Fahne schreibt und aus einer möglichst all-
gemeinen Formel des einzelnen Princips die weitgehendsten Folgerungen zieht, jeden
Verräter nennt, der nicht das Princip bis in sein Extrem durchführen will, -- er irrt
gar leicht, verlangt Wahres und Falsches nebeneinander, oft Unmögliches. Schlüsse und
Theorien, die so einseitig begründet sind, werden häufig zu ideologischen Kartenhäusern,
zu verheerenden revolutionären Fahnen, wenigstens wenn sie in der Hand von Dema-
gogen und Schaumgeistern liegen. Ich versuche nur an einigen, in das Wirtschaftsleben
eingreifenden Beispielen dies zu zeigen.

Es war ein großer, segensreicher Reformgedanke, als gegenüber unerhörtem Klassen-
mißbrauch und veralteten feudalen Rechtsinstitutionen der moderne Staat die Rechts-
und Steuergleichheit, die Zugänglichkeit aller Berufe und Laufbahnen für alle Staats-
bürger proklamierte, als neuerdings die Socialreform gleiches Recht für Arbeitgeber und
-nehmer forderte. Aber das waren festumgrenzte partielle, den konkreten Zeitverhältnissen
richtig angepaßte Forderungen, während die Fanatiker der Gleichheit alle Unterschiede
der Menschen leugnen oder mit Gewalt beseitigen wollen, auch die Verschiedenheit von
Alter und Geschlecht ignorieren, die von Einkommen und Besitz aufheben wollen und
so alle höhere Entwickelung, welche stets Differenzierung ist, bedrohen.

Die Freiheit der Rede, der Wissenschaft und des religiösen Bekenntnisses, die
politische Freiheit in dem festumgrenzten Sinne, daß die Regierten auf die Regierung
einen gesetzlichen Einfluß haben, und daß es für jede Regierung eine Grenze ihrer Macht
gegenüber der Freiheitssphäre des Individuums gebe, die wirtschaftliche Freiheit in dem
Sinne, daß die mittelalterlichen Zunft-, Markt- und Verkehrsschranken fallen, -- das sind
für die Kulturstaaten der Gegenwart große berechtigte Ideale. Aber wenn man schranken-
lose Freiheit im wirtschaftlichen Kampfe der Starken mit den Schwachen einführt, so
erzeugt man nur harten Druck und brutale Ausbeutung der unteren Klassen; wenn man
jeden Betrug und jeden Wucher mit dem Schlagwort der Freiheit verteidigt, so verkennt
man, wie wir schon sahen, Moral, Sitte und Recht von Grund aus, wie man durch
die Lehre von der Volkssouveränität, d. h. die Lehre, daß die Summe der Regierten
die Regierung jeden Moment in Frage stellen dürfe, die politische Freiheit in ihr Gegen-
teil, in die Herrschaft von Demagogen und zufälligen Majoritäten oder gar Minoritäten
über die Masse der vernünftigen und besseren Bürger verwandelt. --

Die Idee der Gerechtigkeit, schon von den Juden, Griechen und Römern, dann
von den neueren Kulturvölkern, von Religion, Philosophie und positivem Rechte in langer
Entwickelung ausgebildet, an die edelsten Gefühle anknüpfend, spielt in allem gesellschaft-
lichen Leben, vor allem auch in der Volkswirtschaft eine maßgebende Rolle; sie giebt
für alles gesellschaftliche Leben die idealen Maßstäbe, nach denen geprüft wird, wie weit
die Wirklichkeit dem "Gerechten" entspreche; sie begleitet unsere wirtschaftlichen und
socialen Handlungen und unterwirft sie einer stets erneuten Kritik. Bei jedem Tausch-
geschäft, bei jedem gezahlten Lohn, bei jeder wirtschaftlichen Institution wird gefragt,
ob sie gerecht seien. Und aus den Antworten entspringen Gefühle, Urteile, Willens-
anläufe, die sich wenigstens teilweise in Reformtendenzen, Änderungen der Sitte, des
Rechtes, der ganzen volkswirtschaftlichen Verfassung umsetzen. Wer weiß nicht, daß die
Gewerbefreiheit, die Handelsfreiheit, der freie Arbeitsvertrag im Namen der Gerechtigkeit
gefordert wurde und nur unter dieser Fahne siegte? daß aber auch alle Forderungen
des Socialismus an Gefühle und Betrachtungen anknüpfen, welche den Betreffenden als
Gerechtigkeitsforderungen sich darstellen, daß jede Revolution und alle ihre Greuel sich
mit dieser Fahne decken zu können glaubten.

Daraus ergiebt sich schon, daß das Princip der Gerechtigkeit kein einfaches ist,
aus dem alle ihre Forderungen mit unfehlbarer Sicherheit, mit einer für alle Menschen
gleichen Evidenz abzuleiten wären. Es ist eine der stärksten idealen Lebensmächte. Mit
immer gleicher psychologischer Notwendigkeit vergleicht unser Inneres stets die irgendwie
zusammengehörigen Menschen und stellt sie in einer Ordnung, die ihren Eigenschaften

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Der einſeitige, vom Klaſſen- und Parteigeiſt erfüllte Doktrinarismus, welcher ſtets gern
im Namen der großen idealen Principien redet und einſeitig nur die Freiheit oder die
Gleichheit oder die Gerechtigkeit auf die Fahne ſchreibt und aus einer möglichſt all-
gemeinen Formel des einzelnen Princips die weitgehendſten Folgerungen zieht, jeden
Verräter nennt, der nicht das Princip bis in ſein Extrem durchführen will, — er irrt
gar leicht, verlangt Wahres und Falſches nebeneinander, oft Unmögliches. Schlüſſe und
Theorien, die ſo einſeitig begründet ſind, werden häufig zu ideologiſchen Kartenhäuſern,
zu verheerenden revolutionären Fahnen, wenigſtens wenn ſie in der Hand von Dema-
gogen und Schaumgeiſtern liegen. Ich verſuche nur an einigen, in das Wirtſchaftsleben
eingreifenden Beiſpielen dies zu zeigen.

Es war ein großer, ſegensreicher Reformgedanke, als gegenüber unerhörtem Klaſſen-
mißbrauch und veralteten feudalen Rechtsinſtitutionen der moderne Staat die Rechts-
und Steuergleichheit, die Zugänglichkeit aller Berufe und Laufbahnen für alle Staats-
bürger proklamierte, als neuerdings die Socialreform gleiches Recht für Arbeitgeber und
-nehmer forderte. Aber das waren feſtumgrenzte partielle, den konkreten Zeitverhältniſſen
richtig angepaßte Forderungen, während die Fanatiker der Gleichheit alle Unterſchiede
der Menſchen leugnen oder mit Gewalt beſeitigen wollen, auch die Verſchiedenheit von
Alter und Geſchlecht ignorieren, die von Einkommen und Beſitz aufheben wollen und
ſo alle höhere Entwickelung, welche ſtets Differenzierung iſt, bedrohen.

Die Freiheit der Rede, der Wiſſenſchaft und des religiöſen Bekenntniſſes, die
politiſche Freiheit in dem feſtumgrenzten Sinne, daß die Regierten auf die Regierung
einen geſetzlichen Einfluß haben, und daß es für jede Regierung eine Grenze ihrer Macht
gegenüber der Freiheitsſphäre des Individuums gebe, die wirtſchaftliche Freiheit in dem
Sinne, daß die mittelalterlichen Zunft-, Markt- und Verkehrsſchranken fallen, — das ſind
für die Kulturſtaaten der Gegenwart große berechtigte Ideale. Aber wenn man ſchranken-
loſe Freiheit im wirtſchaftlichen Kampfe der Starken mit den Schwachen einführt, ſo
erzeugt man nur harten Druck und brutale Ausbeutung der unteren Klaſſen; wenn man
jeden Betrug und jeden Wucher mit dem Schlagwort der Freiheit verteidigt, ſo verkennt
man, wie wir ſchon ſahen, Moral, Sitte und Recht von Grund aus, wie man durch
die Lehre von der Volksſouveränität, d. h. die Lehre, daß die Summe der Regierten
die Regierung jeden Moment in Frage ſtellen dürfe, die politiſche Freiheit in ihr Gegen-
teil, in die Herrſchaft von Demagogen und zufälligen Majoritäten oder gar Minoritäten
über die Maſſe der vernünftigen und beſſeren Bürger verwandelt. —

Die Idee der Gerechtigkeit, ſchon von den Juden, Griechen und Römern, dann
von den neueren Kulturvölkern, von Religion, Philoſophie und poſitivem Rechte in langer
Entwickelung ausgebildet, an die edelſten Gefühle anknüpfend, ſpielt in allem geſellſchaft-
lichen Leben, vor allem auch in der Volkswirtſchaft eine maßgebende Rolle; ſie giebt
für alles geſellſchaftliche Leben die idealen Maßſtäbe, nach denen geprüft wird, wie weit
die Wirklichkeit dem „Gerechten“ entſpreche; ſie begleitet unſere wirtſchaftlichen und
ſocialen Handlungen und unterwirft ſie einer ſtets erneuten Kritik. Bei jedem Tauſch-
geſchäft, bei jedem gezahlten Lohn, bei jeder wirtſchaftlichen Inſtitution wird gefragt,
ob ſie gerecht ſeien. Und aus den Antworten entſpringen Gefühle, Urteile, Willens-
anläufe, die ſich wenigſtens teilweiſe in Reformtendenzen, Änderungen der Sitte, des
Rechtes, der ganzen volkswirtſchaftlichen Verfaſſung umſetzen. Wer weiß nicht, daß die
Gewerbefreiheit, die Handelsfreiheit, der freie Arbeitsvertrag im Namen der Gerechtigkeit
gefordert wurde und nur unter dieſer Fahne ſiegte? daß aber auch alle Forderungen
des Socialismus an Gefühle und Betrachtungen anknüpfen, welche den Betreffenden als
Gerechtigkeitsforderungen ſich darſtellen, daß jede Revolution und alle ihre Greuel ſich
mit dieſer Fahne decken zu können glaubten.

Daraus ergiebt ſich ſchon, daß das Princip der Gerechtigkeit kein einfaches iſt,
aus dem alle ihre Forderungen mit unfehlbarer Sicherheit, mit einer für alle Menſchen
gleichen Evidenz abzuleiten wären. Es iſt eine der ſtärkſten idealen Lebensmächte. Mit
immer gleicher pſychologiſcher Notwendigkeit vergleicht unſer Inneres ſtets die irgendwie
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[74/0090] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Der einſeitige, vom Klaſſen- und Parteigeiſt erfüllte Doktrinarismus, welcher ſtets gern im Namen der großen idealen Principien redet und einſeitig nur die Freiheit oder die Gleichheit oder die Gerechtigkeit auf die Fahne ſchreibt und aus einer möglichſt all- gemeinen Formel des einzelnen Princips die weitgehendſten Folgerungen zieht, jeden Verräter nennt, der nicht das Princip bis in ſein Extrem durchführen will, — er irrt gar leicht, verlangt Wahres und Falſches nebeneinander, oft Unmögliches. Schlüſſe und Theorien, die ſo einſeitig begründet ſind, werden häufig zu ideologiſchen Kartenhäuſern, zu verheerenden revolutionären Fahnen, wenigſtens wenn ſie in der Hand von Dema- gogen und Schaumgeiſtern liegen. Ich verſuche nur an einigen, in das Wirtſchaftsleben eingreifenden Beiſpielen dies zu zeigen. Es war ein großer, ſegensreicher Reformgedanke, als gegenüber unerhörtem Klaſſen- mißbrauch und veralteten feudalen Rechtsinſtitutionen der moderne Staat die Rechts- und Steuergleichheit, die Zugänglichkeit aller Berufe und Laufbahnen für alle Staats- bürger proklamierte, als neuerdings die Socialreform gleiches Recht für Arbeitgeber und -nehmer forderte. Aber das waren feſtumgrenzte partielle, den konkreten Zeitverhältniſſen richtig angepaßte Forderungen, während die Fanatiker der Gleichheit alle Unterſchiede der Menſchen leugnen oder mit Gewalt beſeitigen wollen, auch die Verſchiedenheit von Alter und Geſchlecht ignorieren, die von Einkommen und Beſitz aufheben wollen und ſo alle höhere Entwickelung, welche ſtets Differenzierung iſt, bedrohen. Die Freiheit der Rede, der Wiſſenſchaft und des religiöſen Bekenntniſſes, die politiſche Freiheit in dem feſtumgrenzten Sinne, daß die Regierten auf die Regierung einen geſetzlichen Einfluß haben, und daß es für jede Regierung eine Grenze ihrer Macht gegenüber der Freiheitsſphäre des Individuums gebe, die wirtſchaftliche Freiheit in dem Sinne, daß die mittelalterlichen Zunft-, Markt- und Verkehrsſchranken fallen, — das ſind für die Kulturſtaaten der Gegenwart große berechtigte Ideale. Aber wenn man ſchranken- loſe Freiheit im wirtſchaftlichen Kampfe der Starken mit den Schwachen einführt, ſo erzeugt man nur harten Druck und brutale Ausbeutung der unteren Klaſſen; wenn man jeden Betrug und jeden Wucher mit dem Schlagwort der Freiheit verteidigt, ſo verkennt man, wie wir ſchon ſahen, Moral, Sitte und Recht von Grund aus, wie man durch die Lehre von der Volksſouveränität, d. h. die Lehre, daß die Summe der Regierten die Regierung jeden Moment in Frage ſtellen dürfe, die politiſche Freiheit in ihr Gegen- teil, in die Herrſchaft von Demagogen und zufälligen Majoritäten oder gar Minoritäten über die Maſſe der vernünftigen und beſſeren Bürger verwandelt. — Die Idee der Gerechtigkeit, ſchon von den Juden, Griechen und Römern, dann von den neueren Kulturvölkern, von Religion, Philoſophie und poſitivem Rechte in langer Entwickelung ausgebildet, an die edelſten Gefühle anknüpfend, ſpielt in allem geſellſchaft- lichen Leben, vor allem auch in der Volkswirtſchaft eine maßgebende Rolle; ſie giebt für alles geſellſchaftliche Leben die idealen Maßſtäbe, nach denen geprüft wird, wie weit die Wirklichkeit dem „Gerechten“ entſpreche; ſie begleitet unſere wirtſchaftlichen und ſocialen Handlungen und unterwirft ſie einer ſtets erneuten Kritik. Bei jedem Tauſch- geſchäft, bei jedem gezahlten Lohn, bei jeder wirtſchaftlichen Inſtitution wird gefragt, ob ſie gerecht ſeien. Und aus den Antworten entſpringen Gefühle, Urteile, Willens- anläufe, die ſich wenigſtens teilweiſe in Reformtendenzen, Änderungen der Sitte, des Rechtes, der ganzen volkswirtſchaftlichen Verfaſſung umſetzen. Wer weiß nicht, daß die Gewerbefreiheit, die Handelsfreiheit, der freie Arbeitsvertrag im Namen der Gerechtigkeit gefordert wurde und nur unter dieſer Fahne ſiegte? daß aber auch alle Forderungen des Socialismus an Gefühle und Betrachtungen anknüpfen, welche den Betreffenden als Gerechtigkeitsforderungen ſich darſtellen, daß jede Revolution und alle ihre Greuel ſich mit dieſer Fahne decken zu können glaubten. Daraus ergiebt ſich ſchon, daß das Princip der Gerechtigkeit kein einfaches iſt, aus dem alle ihre Forderungen mit unfehlbarer Sicherheit, mit einer für alle Menſchen gleichen Evidenz abzuleiten wären. Es iſt eine der ſtärkſten idealen Lebensmächte. Mit immer gleicher pſychologiſcher Notwendigkeit vergleicht unſer Inneres ſtets die irgendwie zuſammengehörigen Menſchen und ſtellt ſie in einer Ordnung, die ihren Eigenſchaften

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/90>, abgerufen am 28.03.2024.