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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Das Naturrecht, seine Stellung und Bedeutung.
Gesellschaft auf Grund bestimmter Triebe und Verträge, ein gesellschaftlicher Zustand
mit Regierung, Finanzen, Arbeitsteilung, Verkehr, Geldwirtschaft, verschiedenen socialen
Klassen, wie er dem 17. und 18. Jahrhundert entsprach, wird ohne weiteren Beweis
als selbstverständlich vorausgesetzt. Es gilt, diesen letzteren Zustand einerseits rationa-
listisch zu erklären, andererseits ihn zu prüfen nach dem abstrakten Ideal des natürlichen
Rechtes. Dieses natürliche Recht wird teils gedacht als die Lebensordnung einer
idealen Urzeit, teils als das von Gott dem Menschen eingepflanzte, beim vollendeten
Kulturmenschen am meisten sichtbare Urmaß der sittlich-rechtlichen Normen, teils als das
klug zum Nutzen der Gesellschaft ersonnene und von der Staatsgewalt durchgeführte
System von Regeln des socialen Lebens. Selbst bei denselben Autoren schwankt das,
was als Natur, als natürliche Eigenschaft, als natürliches Recht bezeichnet wird, sehr
häufig bedeutend. Aber man bemerkt das nicht, im sicheren Glauben, das Wesen des
natürlichen Menschen durch Vergleichung, durch Beobachtung, auf Grund der Nachrichten der
Bibel und der Alten sicher fassen zu können. Der Gedanke einer historischen Entwickelung
der menschlichen Eigenschaften und der Institutionen fehlt noch ganz. Um so sicherer
glaubt man, aus der abstrakten Menschennatur, ihren Trieben und den ihr von Gott
eingepflanzten vernünftigen Eigenschaften absolut sichere Lebensideale für das individuelle
und sociale Leben aufstellen, aus der Vernunft konstruieren zu können.

Die praktischen Ideale für das gesellschaftliche Leben gehen nun freilich weit aus-
einander: gemäß den zwei stets vorhandenen Polen des gesellschaftlichen Lebens und den
verschiedenen Bedürfnissen der jeweiligen Politik erscheint den einen eine kraftvolle, un-
beschränkte staatliche Centralgewalt, den anderen eine Sicherstellung der ständischen und
individuellen Rechte als das aus dem Naturrechte in erster Linie Folgende. Dem entsprechend
sind schon die Ausgangspunkte sehr verschiedene; die einen gehen mit Epikur von den
selbstischen Trieben, von einem Urzustand rohster Barbarei, vom Kampfe der Individuen
untereinander aus; so Gassendi, Spinoza, Hobbes, bis auf einen gewissen Grad Pufen-
dorf; die anderen schließen sich mehr der Stoa an und sehen als die natürliche Eigen-
schaft des Menschen, welche die Gesellschaft erzeugt, die sympathischen Triebe an. So
sagt Bacon, die lex naturalis sei ein socialer, auf das Wohl der Gesamtheit gerichteter
Trieb, der sich mit dem der Selbsterhaltung auseinander zu setzen habe. So ist der
sociale Trieb des Hugo Grotius ein Streben nach einer ruhigen, geordneten Gemeinschaft
des Menschen mit seinesgleichen; Pufendorf sucht beide Ansichten zu verbinden. Locke
leugnet den angeborenen socialen Trieb, läßt aber seine Menschen im Naturzustande als
freie und gleiche, mit Ehe und Eigentum, ohne kriegerische Reibungen friedlich leben und die
damals schon innegehabten Naturrechte in der bürgerlichen Gesellschaft beibehalten. Dem
Shaftesbury sind die geselligen Neigungen, Sympathie, Mitleid, Liebe, Wohlwollen die
natürlichen, die selbstischen und egoistischen die unnatürlichen, während umgekehrt Spinoza
die Selbstsucht natürlich findet, sie im status civilis durch die Ordnungen des Staates
bändigen läßt, aber der Wirkungssphäre des Individuums möglichst breiten, dem Staate
möglichst engen Raum gewähren will.

Das Naturrecht hat in Bodinus, Hobbes, Pufendorf, Wolf der monarchischen
Staatsallmacht ebenso gedient, wie in Althusius, Spinoza, Locke und seinen Nachfolgern
der freien Bewegung des aufstrebenden Bürgertums, deren Ideal die Volkssouveränität
und der schwache Staat war. Die ersteren sind die rechtsphilosophischen Vorläufer und
Begründer der merkantilistischen Theorien, die letzteren die der individualistischen, wirt-
schaftlichen Freiheitslehren. Die sämtlichen Systeme der Folgezeit bis zum Socialismus
haben sich methodologisch an das Naturrecht angelehnt, haben in ihren wichtigsten Ver-
tretern Ideale und Argumente der naturrechtlichen Philosophie entlehnt. Noch heute stehen
zahlreiche Manchesterleute und Socialisten im ganzen auf diesem Boden.

Zur Zeit seiner Entstehung hatte das Naturrecht seine Stärke und seine Berechtigung
darin, daß es die Wissenschaft von Staat und Gesellschaft loslöste von der Methode der
Scholastik und der Bevormundung durch die Theologie, daß es versuchte, Staat und
Wirtschaft aus dem Wesen der Menschen abzuleiten, daß es an der Hand der praktischen
Bedürfnisse geschlossene Gedankensysteme als Ideal des Lebens aufzustellen suchte. Seine

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Das Naturrecht, ſeine Stellung und Bedeutung.
Geſellſchaft auf Grund beſtimmter Triebe und Verträge, ein geſellſchaftlicher Zuſtand
mit Regierung, Finanzen, Arbeitsteilung, Verkehr, Geldwirtſchaft, verſchiedenen ſocialen
Klaſſen, wie er dem 17. und 18. Jahrhundert entſprach, wird ohne weiteren Beweis
als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt. Es gilt, dieſen letzteren Zuſtand einerſeits rationa-
liſtiſch zu erklären, andererſeits ihn zu prüfen nach dem abſtrakten Ideal des natürlichen
Rechtes. Dieſes natürliche Recht wird teils gedacht als die Lebensordnung einer
idealen Urzeit, teils als das von Gott dem Menſchen eingepflanzte, beim vollendeten
Kulturmenſchen am meiſten ſichtbare Urmaß der ſittlich-rechtlichen Normen, teils als das
klug zum Nutzen der Geſellſchaft erſonnene und von der Staatsgewalt durchgeführte
Syſtem von Regeln des ſocialen Lebens. Selbſt bei denſelben Autoren ſchwankt das,
was als Natur, als natürliche Eigenſchaft, als natürliches Recht bezeichnet wird, ſehr
häufig bedeutend. Aber man bemerkt das nicht, im ſicheren Glauben, das Weſen des
natürlichen Menſchen durch Vergleichung, durch Beobachtung, auf Grund der Nachrichten der
Bibel und der Alten ſicher faſſen zu können. Der Gedanke einer hiſtoriſchen Entwickelung
der menſchlichen Eigenſchaften und der Inſtitutionen fehlt noch ganz. Um ſo ſicherer
glaubt man, aus der abſtrakten Menſchennatur, ihren Trieben und den ihr von Gott
eingepflanzten vernünftigen Eigenſchaften abſolut ſichere Lebensideale für das individuelle
und ſociale Leben aufſtellen, aus der Vernunft konſtruieren zu können.

Die praktiſchen Ideale für das geſellſchaftliche Leben gehen nun freilich weit aus-
einander: gemäß den zwei ſtets vorhandenen Polen des geſellſchaftlichen Lebens und den
verſchiedenen Bedürfniſſen der jeweiligen Politik erſcheint den einen eine kraftvolle, un-
beſchränkte ſtaatliche Centralgewalt, den anderen eine Sicherſtellung der ſtändiſchen und
individuellen Rechte als das aus dem Naturrechte in erſter Linie Folgende. Dem entſprechend
ſind ſchon die Ausgangspunkte ſehr verſchiedene; die einen gehen mit Epikur von den
ſelbſtiſchen Trieben, von einem Urzuſtand rohſter Barbarei, vom Kampfe der Individuen
untereinander aus; ſo Gaſſendi, Spinoza, Hobbes, bis auf einen gewiſſen Grad Pufen-
dorf; die anderen ſchließen ſich mehr der Stoa an und ſehen als die natürliche Eigen-
ſchaft des Menſchen, welche die Geſellſchaft erzeugt, die ſympathiſchen Triebe an. So
ſagt Bacon, die lex naturalis ſei ein ſocialer, auf das Wohl der Geſamtheit gerichteter
Trieb, der ſich mit dem der Selbſterhaltung auseinander zu ſetzen habe. So iſt der
ſociale Trieb des Hugo Grotius ein Streben nach einer ruhigen, geordneten Gemeinſchaft
des Menſchen mit ſeinesgleichen; Pufendorf ſucht beide Anſichten zu verbinden. Locke
leugnet den angeborenen ſocialen Trieb, läßt aber ſeine Menſchen im Naturzuſtande als
freie und gleiche, mit Ehe und Eigentum, ohne kriegeriſche Reibungen friedlich leben und die
damals ſchon innegehabten Naturrechte in der bürgerlichen Geſellſchaft beibehalten. Dem
Shaftesbury ſind die geſelligen Neigungen, Sympathie, Mitleid, Liebe, Wohlwollen die
natürlichen, die ſelbſtiſchen und egoiſtiſchen die unnatürlichen, während umgekehrt Spinoza
die Selbſtſucht natürlich findet, ſie im status civilis durch die Ordnungen des Staates
bändigen läßt, aber der Wirkungsſphäre des Individuums möglichſt breiten, dem Staate
möglichſt engen Raum gewähren will.

Das Naturrecht hat in Bodinus, Hobbes, Pufendorf, Wolf der monarchiſchen
Staatsallmacht ebenſo gedient, wie in Althuſius, Spinoza, Locke und ſeinen Nachfolgern
der freien Bewegung des aufſtrebenden Bürgertums, deren Ideal die Volksſouveränität
und der ſchwache Staat war. Die erſteren ſind die rechtsphiloſophiſchen Vorläufer und
Begründer der merkantiliſtiſchen Theorien, die letzteren die der individualiſtiſchen, wirt-
ſchaftlichen Freiheitslehren. Die ſämtlichen Syſteme der Folgezeit bis zum Socialismus
haben ſich methodologiſch an das Naturrecht angelehnt, haben in ihren wichtigſten Ver-
tretern Ideale und Argumente der naturrechtlichen Philoſophie entlehnt. Noch heute ſtehen
zahlreiche Mancheſterleute und Socialiſten im ganzen auf dieſem Boden.

Zur Zeit ſeiner Entſtehung hatte das Naturrecht ſeine Stärke und ſeine Berechtigung
darin, daß es die Wiſſenſchaft von Staat und Geſellſchaft loslöſte von der Methode der
Scholaſtik und der Bevormundung durch die Theologie, daß es verſuchte, Staat und
Wirtſchaft aus dem Weſen der Menſchen abzuleiten, daß es an der Hand der praktiſchen
Bedürfniſſe geſchloſſene Gedankenſyſteme als Ideal des Lebens aufzuſtellen ſuchte. Seine

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[83/0099] Das Naturrecht, ſeine Stellung und Bedeutung. Geſellſchaft auf Grund beſtimmter Triebe und Verträge, ein geſellſchaftlicher Zuſtand mit Regierung, Finanzen, Arbeitsteilung, Verkehr, Geldwirtſchaft, verſchiedenen ſocialen Klaſſen, wie er dem 17. und 18. Jahrhundert entſprach, wird ohne weiteren Beweis als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt. Es gilt, dieſen letzteren Zuſtand einerſeits rationa- liſtiſch zu erklären, andererſeits ihn zu prüfen nach dem abſtrakten Ideal des natürlichen Rechtes. Dieſes natürliche Recht wird teils gedacht als die Lebensordnung einer idealen Urzeit, teils als das von Gott dem Menſchen eingepflanzte, beim vollendeten Kulturmenſchen am meiſten ſichtbare Urmaß der ſittlich-rechtlichen Normen, teils als das klug zum Nutzen der Geſellſchaft erſonnene und von der Staatsgewalt durchgeführte Syſtem von Regeln des ſocialen Lebens. Selbſt bei denſelben Autoren ſchwankt das, was als Natur, als natürliche Eigenſchaft, als natürliches Recht bezeichnet wird, ſehr häufig bedeutend. Aber man bemerkt das nicht, im ſicheren Glauben, das Weſen des natürlichen Menſchen durch Vergleichung, durch Beobachtung, auf Grund der Nachrichten der Bibel und der Alten ſicher faſſen zu können. Der Gedanke einer hiſtoriſchen Entwickelung der menſchlichen Eigenſchaften und der Inſtitutionen fehlt noch ganz. Um ſo ſicherer glaubt man, aus der abſtrakten Menſchennatur, ihren Trieben und den ihr von Gott eingepflanzten vernünftigen Eigenſchaften abſolut ſichere Lebensideale für das individuelle und ſociale Leben aufſtellen, aus der Vernunft konſtruieren zu können. Die praktiſchen Ideale für das geſellſchaftliche Leben gehen nun freilich weit aus- einander: gemäß den zwei ſtets vorhandenen Polen des geſellſchaftlichen Lebens und den verſchiedenen Bedürfniſſen der jeweiligen Politik erſcheint den einen eine kraftvolle, un- beſchränkte ſtaatliche Centralgewalt, den anderen eine Sicherſtellung der ſtändiſchen und individuellen Rechte als das aus dem Naturrechte in erſter Linie Folgende. Dem entſprechend ſind ſchon die Ausgangspunkte ſehr verſchiedene; die einen gehen mit Epikur von den ſelbſtiſchen Trieben, von einem Urzuſtand rohſter Barbarei, vom Kampfe der Individuen untereinander aus; ſo Gaſſendi, Spinoza, Hobbes, bis auf einen gewiſſen Grad Pufen- dorf; die anderen ſchließen ſich mehr der Stoa an und ſehen als die natürliche Eigen- ſchaft des Menſchen, welche die Geſellſchaft erzeugt, die ſympathiſchen Triebe an. So ſagt Bacon, die lex naturalis ſei ein ſocialer, auf das Wohl der Geſamtheit gerichteter Trieb, der ſich mit dem der Selbſterhaltung auseinander zu ſetzen habe. So iſt der ſociale Trieb des Hugo Grotius ein Streben nach einer ruhigen, geordneten Gemeinſchaft des Menſchen mit ſeinesgleichen; Pufendorf ſucht beide Anſichten zu verbinden. Locke leugnet den angeborenen ſocialen Trieb, läßt aber ſeine Menſchen im Naturzuſtande als freie und gleiche, mit Ehe und Eigentum, ohne kriegeriſche Reibungen friedlich leben und die damals ſchon innegehabten Naturrechte in der bürgerlichen Geſellſchaft beibehalten. Dem Shaftesbury ſind die geſelligen Neigungen, Sympathie, Mitleid, Liebe, Wohlwollen die natürlichen, die ſelbſtiſchen und egoiſtiſchen die unnatürlichen, während umgekehrt Spinoza die Selbſtſucht natürlich findet, ſie im status civilis durch die Ordnungen des Staates bändigen läßt, aber der Wirkungsſphäre des Individuums möglichſt breiten, dem Staate möglichſt engen Raum gewähren will. Das Naturrecht hat in Bodinus, Hobbes, Pufendorf, Wolf der monarchiſchen Staatsallmacht ebenſo gedient, wie in Althuſius, Spinoza, Locke und ſeinen Nachfolgern der freien Bewegung des aufſtrebenden Bürgertums, deren Ideal die Volksſouveränität und der ſchwache Staat war. Die erſteren ſind die rechtsphiloſophiſchen Vorläufer und Begründer der merkantiliſtiſchen Theorien, die letzteren die der individualiſtiſchen, wirt- ſchaftlichen Freiheitslehren. Die ſämtlichen Syſteme der Folgezeit bis zum Socialismus haben ſich methodologiſch an das Naturrecht angelehnt, haben in ihren wichtigſten Ver- tretern Ideale und Argumente der naturrechtlichen Philoſophie entlehnt. Noch heute ſtehen zahlreiche Mancheſterleute und Socialiſten im ganzen auf dieſem Boden. Zur Zeit ſeiner Entſtehung hatte das Naturrecht ſeine Stärke und ſeine Berechtigung darin, daß es die Wiſſenſchaft von Staat und Geſellſchaft loslöſte von der Methode der Scholaſtik und der Bevormundung durch die Theologie, daß es verſuchte, Staat und Wirtſchaft aus dem Weſen der Menſchen abzuleiten, daß es an der Hand der praktiſchen Bedürfniſſe geſchloſſene Gedankenſyſteme als Ideal des Lebens aufzuſtellen ſuchte. Seine 6*

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/99>, abgerufen am 18.04.2024.