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Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1822.

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Dicht hinter dem Erzengel streiten ein Engel
und ein Teufel sich um den Besitz einer Seele. Die
unaussprechlichste Angst, Schmerz, an Wahnsinn
gränzende Verzweiflung spricht zur Linken Michaels
aus den unseeligen, auf das mannichfaltigste grup-
pirten, zum Theil dicht zusammengedrängten Ge-
stalten jedes Alters und Geschlechts. Wunderbar
fantastische Teufelsfratzen, zum Theil mit schönen
Schmetterlingsflügeln, mischen sich unter die Ver-
dammten und treiben sie auf mannichfaltige Weise
mit wahrhaft satanischer Freude dem Abgrunde zu.
Selbst Dantes gewaltige Phantasie konnte nichts er-
sinnen was dieses überträfe. Auf der rechten Seite
hingegen ist Alles fromme Ruhe und seeliges Vorge-
fühl der Himmelsfreuden, das in einigen, besonders
weiblichen Köpfen sogar an fast kindisch-süßlächelnde
Freudigkeit gränzt. Unter einer dicht zusammen
gedrängten, der Himmelspforte sich zuwendenden
Gruppe, zeichnet sich der Kopf eines Negers aus; in
einer andern, dieser gegenüber auf der linken Seite,
wo es auch an tonsurirten Mönchsköpfen nicht fehlt,
steht ein ernster stiller Greis, dessen Gesicht nur


Dicht hinter dem Erzengel ſtreiten ein Engel
und ein Teufel ſich um den Beſitz einer Seele. Die
unausſprechlichſte Angſt, Schmerz, an Wahnſinn
gränzende Verzweiflung ſpricht zur Linken Michaels
aus den unſeeligen, auf das mannichfaltigſte grup-
pirten, zum Theil dicht zuſammengedrängten Ge-
ſtalten jedes Alters und Geſchlechts. Wunderbar
fantaſtiſche Teufelsfratzen, zum Theil mit ſchönen
Schmetterlingsflügeln, miſchen ſich unter die Ver-
dammten und treiben ſie auf mannichfaltige Weiſe
mit wahrhaft ſataniſcher Freude dem Abgrunde zu.
Selbſt Dantes gewaltige Phantaſie konnte nichts er-
ſinnen was dieſes überträfe. Auf der rechten Seite
hingegen iſt Alles fromme Ruhe und ſeeliges Vorge-
fühl der Himmelsfreuden, das in einigen, beſonders
weiblichen Köpfen ſogar an faſt kindiſch-ſüßlächelnde
Freudigkeit gränzt. Unter einer dicht zuſammen
gedrängten, der Himmelspforte ſich zuwendenden
Gruppe, zeichnet ſich der Kopf eines Negers aus; in
einer andern, dieſer gegenüber auf der linken Seite,
wo es auch an tonſurirten Mönchsköpfen nicht fehlt,
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[89/0101] Dicht hinter dem Erzengel ſtreiten ein Engel und ein Teufel ſich um den Beſitz einer Seele. Die unausſprechlichſte Angſt, Schmerz, an Wahnſinn gränzende Verzweiflung ſpricht zur Linken Michaels aus den unſeeligen, auf das mannichfaltigſte grup- pirten, zum Theil dicht zuſammengedrängten Ge- ſtalten jedes Alters und Geſchlechts. Wunderbar fantaſtiſche Teufelsfratzen, zum Theil mit ſchönen Schmetterlingsflügeln, miſchen ſich unter die Ver- dammten und treiben ſie auf mannichfaltige Weiſe mit wahrhaft ſataniſcher Freude dem Abgrunde zu. Selbſt Dantes gewaltige Phantaſie konnte nichts er- ſinnen was dieſes überträfe. Auf der rechten Seite hingegen iſt Alles fromme Ruhe und ſeeliges Vorge- fühl der Himmelsfreuden, das in einigen, beſonders weiblichen Köpfen ſogar an faſt kindiſch-ſüßlächelnde Freudigkeit gränzt. Unter einer dicht zuſammen gedrängten, der Himmelspforte ſich zuwendenden Gruppe, zeichnet ſich der Kopf eines Negers aus; in einer andern, dieſer gegenüber auf der linken Seite, wo es auch an tonſurirten Mönchsköpfen nicht fehlt, ſteht ein ernſter ſtiller Greis, deſſen Geſicht nur

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Zitationshilfe: Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1822, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck01_1822/101>, abgerufen am 24.04.2024.