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Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1822.

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an die Natur; sie leitete seine Fortschritte auf der
Bahn, welche die, wie durch höhere Offenbarung
ihm gewordene Kenntniß der Linienperspektive ihm
geöffnet hatte, und Treue gegen sie wurde sein
unablässiges Bemühen wie sein höchstes Verdienst.

Auf keinem seiner bis auf unsre Zeiten ge-
kommnen Gemälde findet sich eine Spur erkünstel-
ter, auf Effekt berechneter Beleuchtung; im klaren
milden Tageslicht, nicht im Sonnenscheine, stehen
die Gegenstände, hell und deutlich wie sie in der
Wirklichkeit dastehen. Scharf bezeichnete dunkle
Schlagschatten drängen sich nirgend dem Auge auf,
nirgend grelle Lichter, oder erzwungne farbige
Reflexe, nichts erscheint verschwebelnd oder flach,
verworren oder undeutlich.

Bei der Komposition seiner Gemälde dachte
Johann van Eyck sich die Handlung, welche er
darstellen wollte, als ginge sie unmittelbar unter
seinen Augen vor; deshalb ist es auch uns bei ihrem
Anschauen als ständen wir mitten drinn, als lebten
und regten sich die Gestalten vor uns, und um uns
her. Anspruchlos stellt er sie hin, wie es der


an die Natur; ſie leitete ſeine Fortſchritte auf der
Bahn, welche die, wie durch höhere Offenbarung
ihm gewordene Kenntniß der Linienperſpektive ihm
geöffnet hatte, und Treue gegen ſie wurde ſein
unabläſſiges Bemühen wie ſein höchſtes Verdienſt.

Auf keinem ſeiner bis auf unſre Zeiten ge-
kommnen Gemälde findet ſich eine Spur erkünſtel-
ter, auf Effekt berechneter Beleuchtung; im klaren
milden Tageslicht, nicht im Sonnenſcheine, ſtehen
die Gegenſtände, hell und deutlich wie ſie in der
Wirklichkeit daſtehen. Scharf bezeichnete dunkle
Schlagſchatten drängen ſich nirgend dem Auge auf,
nirgend grelle Lichter, oder erzwungne farbige
Reflexe, nichts erſcheint verſchwebelnd oder flach,
verworren oder undeutlich.

Bei der Kompoſition ſeiner Gemälde dachte
Johann van Eyck ſich die Handlung, welche er
darſtellen wollte, als ginge ſie unmittelbar unter
ſeinen Augen vor; deshalb iſt es auch uns bei ihrem
Anſchauen als ſtänden wir mitten drinn, als lebten
und regten ſich die Geſtalten vor uns, und um uns
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[27/0039] an die Natur; ſie leitete ſeine Fortſchritte auf der Bahn, welche die, wie durch höhere Offenbarung ihm gewordene Kenntniß der Linienperſpektive ihm geöffnet hatte, und Treue gegen ſie wurde ſein unabläſſiges Bemühen wie ſein höchſtes Verdienſt. Auf keinem ſeiner bis auf unſre Zeiten ge- kommnen Gemälde findet ſich eine Spur erkünſtel- ter, auf Effekt berechneter Beleuchtung; im klaren milden Tageslicht, nicht im Sonnenſcheine, ſtehen die Gegenſtände, hell und deutlich wie ſie in der Wirklichkeit daſtehen. Scharf bezeichnete dunkle Schlagſchatten drängen ſich nirgend dem Auge auf, nirgend grelle Lichter, oder erzwungne farbige Reflexe, nichts erſcheint verſchwebelnd oder flach, verworren oder undeutlich. Bei der Kompoſition ſeiner Gemälde dachte Johann van Eyck ſich die Handlung, welche er darſtellen wollte, als ginge ſie unmittelbar unter ſeinen Augen vor; deshalb iſt es auch uns bei ihrem Anſchauen als ſtänden wir mitten drinn, als lebten und regten ſich die Geſtalten vor uns, und um uns her. Anſpruchlos ſtellt er ſie hin, wie es der

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Zitationshilfe: Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1822, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck01_1822/39>, abgerufen am 18.04.2024.