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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

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mahl und zur schrecklichen Warnung an den Ulmen
aufgehängt: aber ich habe die Gabe zuweilen etwas
dümmer und ärmer zu scheinen, als ich doch wirk¬
lich bin; und so bin ich glücklich auf dem Kapitole
angelangt.

Die Gegend von Ankona nach Loretto ist herrlich,
abwechselnd durch Thäler und auf Höhen, die alle
mit schönem Getreide und Obst und Oehlbäumen be¬
setzt sind; desto schlechter ist der Weg. Es hatte noch
etwas stark Eis gefroren, eine Erscheinung die mir in
der Mitte des Februars bey Ankona ziemlich auffiel;
und als die Sonne kam, vermehrte die Wärme die
Beschwerlichkeit des Weges unerträglich.

Ich war seit Venedig überall so sehr von Bettlern
geplagt gewesen, dass ich auf der Strasse den dritten
Menschen immer für einen Bettler ansah. Desto über¬
raschender war mir ein kleiner Irrthum vor Loretto,
wo es vorzüglich von Armen wimmelt. Ein ältlicher
ärmlich gekleideter Mann stand an einem Brücken¬
steine des Weges vor der Stadt, nahm mit vieler De¬
ferenz seinen alten Huth ab und sprach etwas ganz
leise, das ich, daran gewöhnt, für eine gewöhnliche
Bitte hielt. Ich sah ihn flüchtig an, fand an seinem
Kleide und an seiner Miene, dass er wohl bessere
Tage gesehen haben müsse, und reichte ihm ein klei¬
nes Silberstück. Das setzte ihn in die grösste Verle¬
genheit; sein Gesicht fing an zu glühen, seine Zunge
zu stammeln: er hatte mir nur einen guten Morgen
und glückliche Reise gewünscht. Nun sah ich dem
Mann erst etwas näher ins Auge und fand so viel feine
Bonhommie in seinem ganzen Wesen, dass ich mich

mahl und zur schrecklichen Warnung an den Ulmen
aufgehängt: aber ich habe die Gabe zuweilen etwas
dümmer und ärmer zu scheinen, als ich doch wirk¬
lich bin; und so bin ich glücklich auf dem Kapitole
angelangt.

Die Gegend von Ankona nach Loretto ist herrlich,
abwechselnd durch Thäler und auf Höhen, die alle
mit schönem Getreide und Obst und Oehlbäumen be¬
setzt sind; desto schlechter ist der Weg. Es hatte noch
etwas stark Eis gefroren, eine Erscheinung die mir in
der Mitte des Februars bey Ankona ziemlich auffiel;
und als die Sonne kam, vermehrte die Wärme die
Beschwerlichkeit des Weges unerträglich.

Ich war seit Venedig überall so sehr von Bettlern
geplagt gewesen, daſs ich auf der Straſse den dritten
Menschen immer für einen Bettler ansah. Desto über¬
raschender war mir ein kleiner Irrthum vor Loretto,
wo es vorzüglich von Armen wimmelt. Ein ältlicher
ärmlich gekleideter Mann stand an einem Brücken¬
steine des Weges vor der Stadt, nahm mit vieler De¬
ferenz seinen alten Huth ab und sprach etwas ganz
leise, das ich, daran gewöhnt, für eine gewöhnliche
Bitte hielt. Ich sah ihn flüchtig an, fand an seinem
Kleide und an seiner Miene, daſs er wohl bessere
Tage gesehen haben müsse, und reichte ihm ein klei¬
nes Silberstück. Das setzte ihn in die gröſste Verle¬
genheit; sein Gesicht fing an zu glühen, seine Zunge
zu stammeln: er hatte mir nur einen guten Morgen
und glückliche Reise gewünscht. Nun sah ich dem
Mann erst etwas näher ins Auge und fand so viel feine
Bonhommie in seinem ganzen Wesen, daſs ich mich

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[136/0162] mahl und zur schrecklichen Warnung an den Ulmen aufgehängt: aber ich habe die Gabe zuweilen etwas dümmer und ärmer zu scheinen, als ich doch wirk¬ lich bin; und so bin ich glücklich auf dem Kapitole angelangt. Die Gegend von Ankona nach Loretto ist herrlich, abwechselnd durch Thäler und auf Höhen, die alle mit schönem Getreide und Obst und Oehlbäumen be¬ setzt sind; desto schlechter ist der Weg. Es hatte noch etwas stark Eis gefroren, eine Erscheinung die mir in der Mitte des Februars bey Ankona ziemlich auffiel; und als die Sonne kam, vermehrte die Wärme die Beschwerlichkeit des Weges unerträglich. Ich war seit Venedig überall so sehr von Bettlern geplagt gewesen, daſs ich auf der Straſse den dritten Menschen immer für einen Bettler ansah. Desto über¬ raschender war mir ein kleiner Irrthum vor Loretto, wo es vorzüglich von Armen wimmelt. Ein ältlicher ärmlich gekleideter Mann stand an einem Brücken¬ steine des Weges vor der Stadt, nahm mit vieler De¬ ferenz seinen alten Huth ab und sprach etwas ganz leise, das ich, daran gewöhnt, für eine gewöhnliche Bitte hielt. Ich sah ihn flüchtig an, fand an seinem Kleide und an seiner Miene, daſs er wohl bessere Tage gesehen haben müsse, und reichte ihm ein klei¬ nes Silberstück. Das setzte ihn in die gröſste Verle¬ genheit; sein Gesicht fing an zu glühen, seine Zunge zu stammeln: er hatte mir nur einen guten Morgen und glückliche Reise gewünscht. Nun sah ich dem Mann erst etwas näher ins Auge und fand so viel feine Bonhommie in seinem ganzen Wesen, daſs ich mich

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Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/162>, abgerufen am 25.04.2024.