Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

Bild:
<< vorherige Seite
Kniet hin und betet, geht und meuchelt;
Gewiss, Vergebung seiner Sünden
Beym nächsten Plattkopf lästerlich zu finden.

Ich kann mir nicht helfen, Lieber, ich muss es
Dir nur gestehen, dass ich den Artikel von der Ver¬
gebung der Sünden für einen der verderblichsten
halte, den die Halbbildung der Vernunft zum angebli¬
chen Troste der Schwachköpfe nur hat erfinden kön¬
nen. Er ist der schlimmste Anthropomorphismus, den
man der Gottheit andichten kann. Es ist kein Gedan¬
ke, dass Sünde vergeben werde: jeder wird wohl mit
allen seinen bösen und guten Werken hingehen müs¬
sen, wohin ihm seine Natur führt. Eine missverstan¬
dene Humanität hat den Irrthum zum Unglück des
Menschengeschlechts aufgestellt und fortgepflanzt: und
nun wickeln sich die Theologen so fein als möglich in
Distinktionen herum, welche die Sache durchaus nicht
besser machen. Was ein Mensch gefehlt hat, bleibt in
Ewigkeit gefehit; es lässt sich keine einzige Folge ei¬
ner einzigen That aus der Kette der Dinge heraus reis¬
sen. Die Schwachheiten der Natur sind durch die Na¬
tur selbst gegeben, und die Herrscherin Vernunft soll
sie durch ihre Stärke zu leiten und zu vermindern
suchen. Der Begriff der Verzeihung hindert meistens
das Besserwerden. Gehe nur in die Welt, um Dich
davon zu berzeugen. Soll vielleicht dieser Trost gros¬
sen Bösewichtern zu Statten kommen? Alle Schurken,
die sich nicht bessern können, die von Beichte zu
Beichte täglich weggeworfener und niederträchtiger
werden; diese sollen zum Heile der Menschheit ver¬

Kniet hin und betet, geht und meuchelt;
Gewiſs, Vergebung seiner Sünden
Beym nächsten Plattkopf lästerlich zu finden.

Ich kann mir nicht helfen, Lieber, ich muſs es
Dir nur gestehen, daſs ich den Artikel von der Ver¬
gebung der Sünden für einen der verderblichsten
halte, den die Halbbildung der Vernunft zum angebli¬
chen Troste der Schwachköpfe nur hat erfinden kön¬
nen. Er ist der schlimmste Anthropomorphismus, den
man der Gottheit andichten kann. Es ist kein Gedan¬
ke, daſs Sünde vergeben werde: jeder wird wohl mit
allen seinen bösen und guten Werken hingehen müs¬
sen, wohin ihm seine Natur führt. Eine miſsverstan¬
dene Humanität hat den Irrthum zum Unglück des
Menschengeschlechts aufgestellt und fortgepflanzt: und
nun wickeln sich die Theologen so fein als möglich in
Distinktionen herum, welche die Sache durchaus nicht
besser machen. Was ein Mensch gefehlt hat, bleibt in
Ewigkeit gefehit; es läſst sich keine einzige Folge ei¬
ner einzigen That aus der Kette der Dinge heraus reis¬
sen. Die Schwachheiten der Natur sind durch die Na¬
tur selbst gegeben, und die Herrscherin Vernunft soll
sie durch ihre Stärke zu leiten und zu vermindern
suchen. Der Begriff der Verzeihung hindert meistens
das Besserwerden. Gehe nur in die Welt, um Dich
davon zu berzeugen. Soll vielleicht dieser Trost gros¬
sen Bösewichtern zu Statten kommen? Alle Schurken,
die sich nicht bessern können, die von Beichte zu
Beichte täglich weggeworfener und niederträchtiger
werden; diese sollen zum Heile der Menschheit ver¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <lg type="poem">
          <pb facs="#f0369" n="343"/>
          <l>Kniet hin und betet, geht und meuchelt;</l><lb/>
          <l>Gewi&#x017F;s, Vergebung seiner Sünden</l><lb/>
          <l>Beym nächsten Plattkopf lästerlich zu finden.</l><lb/>
        </lg>
        <p>Ich kann mir nicht helfen, Lieber, ich mu&#x017F;s es<lb/>
Dir nur gestehen, da&#x017F;s ich den Artikel von der Ver¬<lb/>
gebung der Sünden für einen der verderblichsten<lb/>
halte, den die Halbbildung der Vernunft zum angebli¬<lb/>
chen Troste der Schwachköpfe nur hat erfinden kön¬<lb/>
nen. Er ist der schlimmste Anthropomorphismus, den<lb/>
man der Gottheit andichten kann. Es ist kein Gedan¬<lb/>
ke, da&#x017F;s Sünde vergeben werde: jeder wird wohl mit<lb/>
allen seinen bösen und guten Werken hingehen müs¬<lb/>
sen, wohin ihm seine Natur führt. Eine mi&#x017F;sverstan¬<lb/>
dene Humanität hat den Irrthum zum Unglück des<lb/>
Menschengeschlechts aufgestellt und fortgepflanzt: und<lb/>
nun wickeln sich die Theologen so fein als möglich in<lb/>
Distinktionen herum, welche die Sache durchaus nicht<lb/>
besser machen. Was ein Mensch gefehlt hat, bleibt in<lb/>
Ewigkeit gefehit; es lä&#x017F;st sich keine einzige Folge ei¬<lb/>
ner einzigen That aus der Kette der Dinge heraus reis¬<lb/>
sen. Die Schwachheiten der Natur sind durch die Na¬<lb/>
tur selbst gegeben, und die Herrscherin Vernunft soll<lb/>
sie durch ihre Stärke zu leiten und zu vermindern<lb/>
suchen. Der Begriff der Verzeihung hindert meistens<lb/>
das Besserwerden. Gehe nur in die Welt, um Dich<lb/>
davon zu berzeugen. Soll vielleicht dieser Trost gros¬<lb/>
sen Bösewichtern zu Statten kommen? Alle Schurken,<lb/>
die sich nicht bessern können, die von Beichte zu<lb/>
Beichte täglich weggeworfener und niederträchtiger<lb/>
werden; diese sollen zum Heile der Menschheit ver¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[343/0369] Kniet hin und betet, geht und meuchelt; Gewiſs, Vergebung seiner Sünden Beym nächsten Plattkopf lästerlich zu finden. Ich kann mir nicht helfen, Lieber, ich muſs es Dir nur gestehen, daſs ich den Artikel von der Ver¬ gebung der Sünden für einen der verderblichsten halte, den die Halbbildung der Vernunft zum angebli¬ chen Troste der Schwachköpfe nur hat erfinden kön¬ nen. Er ist der schlimmste Anthropomorphismus, den man der Gottheit andichten kann. Es ist kein Gedan¬ ke, daſs Sünde vergeben werde: jeder wird wohl mit allen seinen bösen und guten Werken hingehen müs¬ sen, wohin ihm seine Natur führt. Eine miſsverstan¬ dene Humanität hat den Irrthum zum Unglück des Menschengeschlechts aufgestellt und fortgepflanzt: und nun wickeln sich die Theologen so fein als möglich in Distinktionen herum, welche die Sache durchaus nicht besser machen. Was ein Mensch gefehlt hat, bleibt in Ewigkeit gefehit; es läſst sich keine einzige Folge ei¬ ner einzigen That aus der Kette der Dinge heraus reis¬ sen. Die Schwachheiten der Natur sind durch die Na¬ tur selbst gegeben, und die Herrscherin Vernunft soll sie durch ihre Stärke zu leiten und zu vermindern suchen. Der Begriff der Verzeihung hindert meistens das Besserwerden. Gehe nur in die Welt, um Dich davon zu berzeugen. Soll vielleicht dieser Trost gros¬ sen Bösewichtern zu Statten kommen? Alle Schurken, die sich nicht bessern können, die von Beichte zu Beichte täglich weggeworfener und niederträchtiger werden; diese sollen zum Heile der Menschheit ver¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/369
Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/369>, abgerufen am 28.03.2024.