mögen noch jenseit des Rheins in der Freiheit. Vor Hochheim wandelte ich in Gesellschaft eines Spazier¬ gängers der Gegend, wie es schien, den Berg herauf. Der Mann nahm mit vielem Murrsinn von der ersten muntern hübschen Erntearbeiterin im Felde Gelegen¬ heit eine furchtbare Rhapsodie über die Weiber zu hal¬ ten, hatte aber ganz das Ansehen, als ob er der Mi¬ sogyn nicht immer gewesen wäre und nicht immer bleiben würde: denn alles Uebertriebene hält nicht lange. Er nahm sein Beyspiel nicht bloss von den Linden weg und aus dem Egalitätspalaste, und musste tiefer in die Verdorbenheit der Welt mit dem Ge¬ schlecht verflochten seyn. Er machte mit lebhaftem Kolorit ein Gemälde, gegen welches Juvenals lassata viris noch eine Vestalin war; und ich war froh, als mich der Wagen auf der Ebene wieder einholte und ich wieder einsteigen konnte. Du weisst, ich habe eben nicht Ursache geflissentlich den Enkomiasten der Damen zu machen; indessen muss man ihnen doch die Gerechtigkeit wiederfahren lassen, dass sie -- nicht schlimmer sind als die Männer: und die meisten ihrer Sünden leiden noch etwas mehr Apologie als die Sotti¬ sen unseres Geschlechts.
Frankfurt muss dem Anschein nach durch den Krieg weit mehr gewonnen als verloren haben. Der Verlust war öffentlich und momentan; der Gewinn ging fast durch alle Klassen und war dauernd. Es ist überall Wohlstand und Vorrath; man bauet und bes¬ sert und erweitert von allen Seiten: und die ganze Ge¬ gend rund umher ist wie ein Paradies; besonders nach Offenbach hinüber. Man glaubt in Oberitalien
mögen noch jenseit des Rheins in der Freiheit. Vor Hochheim wandelte ich in Gesellschaft eines Spazier¬ gängers der Gegend, wie es schien, den Berg herauf. Der Mann nahm mit vielem Murrsinn von der ersten muntern hübschen Erntearbeiterin im Felde Gelegen¬ heit eine furchtbare Rhapsodie über die Weiber zu hal¬ ten, hatte aber ganz das Ansehen, als ob er der Mi¬ sogyn nicht immer gewesen wäre und nicht immer bleiben würde: denn alles Uebertriebene hält nicht lange. Er nahm sein Beyspiel nicht bloſs von den Linden weg und aus dem Egalitätspalaste, und muſste tiefer in die Verdorbenheit der Welt mit dem Ge¬ schlecht verflochten seyn. Er machte mit lebhaftem Kolorit ein Gemälde, gegen welches Juvenals lassata viris noch eine Vestalin war; und ich war froh, als mich der Wagen auf der Ebene wieder einholte und ich wieder einsteigen konnte. Du weiſst, ich habe eben nicht Ursache geflissentlich den Enkomiasten der Damen zu machen; indessen muſs man ihnen doch die Gerechtigkeit wiederfahren lassen, daſs sie — nicht schlimmer sind als die Männer: und die meisten ihrer Sünden leiden noch etwas mehr Apologie als die Sotti¬ sen unseres Geschlechts.
Frankfurt muſs dem Anschein nach durch den Krieg weit mehr gewonnen als verloren haben. Der Verlust war öffentlich und momentan; der Gewinn ging fast durch alle Klassen und war dauernd. Es ist überall Wohlstand und Vorrath; man bauet und bes¬ sert und erweitert von allen Seiten: und die ganze Ge¬ gend rund umher ist wie ein Paradies; besonders nach Offenbach hinüber. Man glaubt in Oberitalien
<TEI><text><body><div><p><pbfacs="#f0509"n="481 "/>
mögen noch jenseit des Rheins in der Freiheit. Vor<lb/>
Hochheim wandelte ich in Gesellschaft eines Spazier¬<lb/>
gängers der Gegend, wie es schien, den Berg herauf.<lb/>
Der Mann nahm mit vielem Murrsinn von der ersten<lb/>
muntern hübschen Erntearbeiterin im Felde Gelegen¬<lb/>
heit eine furchtbare Rhapsodie über die Weiber zu hal¬<lb/>
ten, hatte aber ganz das Ansehen, als ob er der Mi¬<lb/>
sogyn nicht immer gewesen wäre und nicht immer<lb/>
bleiben würde: denn alles Uebertriebene hält nicht<lb/>
lange. Er nahm sein Beyspiel nicht bloſs von den<lb/>
Linden weg und aus dem Egalitätspalaste, und muſste<lb/>
tiefer in die Verdorbenheit der Welt mit dem Ge¬<lb/>
schlecht verflochten seyn. Er machte mit lebhaftem<lb/>
Kolorit ein Gemälde, gegen welches Juvenals <hirendition="#fr #i">lassata<lb/>
viris</hi> noch eine Vestalin war; und ich war froh, als<lb/>
mich der Wagen auf der Ebene wieder einholte und<lb/>
ich wieder einsteigen konnte. Du weiſst, ich habe<lb/>
eben nicht Ursache geflissentlich den Enkomiasten der<lb/>
Damen zu machen; indessen muſs man ihnen doch<lb/>
die Gerechtigkeit wiederfahren lassen, daſs sie — nicht<lb/>
schlimmer sind als die Männer: und die meisten ihrer<lb/>
Sünden leiden noch etwas mehr Apologie als die Sotti¬<lb/>
sen unseres Geschlechts.</p><lb/><p>Frankfurt muſs dem Anschein nach durch den<lb/>
Krieg weit mehr gewonnen als verloren haben. Der<lb/>
Verlust war öffentlich und momentan; der Gewinn<lb/>
ging fast durch alle Klassen und war dauernd. Es ist<lb/>
überall Wohlstand und Vorrath; man bauet und bes¬<lb/>
sert und erweitert von allen Seiten: und die ganze Ge¬<lb/>
gend rund umher ist wie ein Paradies; besonders<lb/>
nach Offenbach hinüber. Man glaubt in Oberitalien<lb/></p></div></body></text></TEI>
[481 /0509]
mögen noch jenseit des Rheins in der Freiheit. Vor
Hochheim wandelte ich in Gesellschaft eines Spazier¬
gängers der Gegend, wie es schien, den Berg herauf.
Der Mann nahm mit vielem Murrsinn von der ersten
muntern hübschen Erntearbeiterin im Felde Gelegen¬
heit eine furchtbare Rhapsodie über die Weiber zu hal¬
ten, hatte aber ganz das Ansehen, als ob er der Mi¬
sogyn nicht immer gewesen wäre und nicht immer
bleiben würde: denn alles Uebertriebene hält nicht
lange. Er nahm sein Beyspiel nicht bloſs von den
Linden weg und aus dem Egalitätspalaste, und muſste
tiefer in die Verdorbenheit der Welt mit dem Ge¬
schlecht verflochten seyn. Er machte mit lebhaftem
Kolorit ein Gemälde, gegen welches Juvenals lassata
viris noch eine Vestalin war; und ich war froh, als
mich der Wagen auf der Ebene wieder einholte und
ich wieder einsteigen konnte. Du weiſst, ich habe
eben nicht Ursache geflissentlich den Enkomiasten der
Damen zu machen; indessen muſs man ihnen doch
die Gerechtigkeit wiederfahren lassen, daſs sie — nicht
schlimmer sind als die Männer: und die meisten ihrer
Sünden leiden noch etwas mehr Apologie als die Sotti¬
sen unseres Geschlechts.
Frankfurt muſs dem Anschein nach durch den
Krieg weit mehr gewonnen als verloren haben. Der
Verlust war öffentlich und momentan; der Gewinn
ging fast durch alle Klassen und war dauernd. Es ist
überall Wohlstand und Vorrath; man bauet und bes¬
sert und erweitert von allen Seiten: und die ganze Ge¬
gend rund umher ist wie ein Paradies; besonders
nach Offenbach hinüber. Man glaubt in Oberitalien
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 481 . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/509>, abgerufen am 28.03.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.