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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

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andere sangen, andere disputierten in allen Sprachen
der Pfingstepistel mit Mund und Hand und Fuss. Da
entstand Streit im Ernst und die Handfestesten schie¬
nen schon im Begriff, sich einander die Argumenta ad
hominem
mit den Fäusten zu applicieren, da fing ein
alter Kerl an in der entferntesten Ecke der grossen
gewölbten Stube auf einer Art von Sackpfeife zu bla¬
sen, und alles ward auf einmahl friedlich und lachte.
Bey dem dritten und vierten Takte ward es still; bey
dem sechsten fassten ein Paar Grenadiere einander un¬
ter die Arme und fingen an zu walzen. Der Ball ver¬
mehrte sich, als ob Hüons Horn geblasen würde; man
ergriff die Mädchen und sogar die alte dicke Wirthin,
und aller Zank war vergessen. Dann traten Solotän¬
zer auf und tanzten steyerisch, dann kosakisch, und
dann den ausgelassensten ungezogensten Kordax, dass
die Mädchen davon liefen und selbst der Sakpfeifer
aufhörte. Dann ging die Scene von vorn an. Man
spielte und trank, und fluchte und zankte und drohte
mit Schlägen, bis der Sackpfeifer wieder anfing. Der
Mann war hier mehr als Friedensrichter, er war ein
wahrer Orpheus. Der Wein, den man aus grossen
Glaskrügen trank, that endlich seine Wirkung; alles
ward ein volles, grosses, furchtbar bacchantisches Chor.
Hier nahm ich den Riemen meines Tornisters auf die
linke Schulter, meinen Knotenstock in die rechte
Hand und zog mich auf mein Schlafzimmer, wo ich
ein herrliches Thronbette fand und gewiss wie ein
Fuhrknecht geschlafen hätte, wäre ich nicht von den
Grenadieren durch eine förmliche Bataille geweckt
worden. Der ehrliche Wirth machte den Leidenden,

andere sangen, andere disputierten in allen Sprachen
der Pfingstepistel mit Mund und Hand und Fuſs. Da
entstand Streit im Ernst und die Handfestesten schie¬
nen schon im Begriff, sich einander die Argumenta ad
hominem
mit den Fäusten zu applicieren, da fing ein
alter Kerl an in der entferntesten Ecke der groſsen
gewölbten Stube auf einer Art von Sackpfeife zu bla¬
sen, und alles ward auf einmahl friedlich und lachte.
Bey dem dritten und vierten Takte ward es still; bey
dem sechsten faſsten ein Paar Grenadiere einander un¬
ter die Arme und fingen an zu walzen. Der Ball ver¬
mehrte sich, als ob Hüons Horn geblasen würde; man
ergriff die Mädchen und sogar die alte dicke Wirthin,
und aller Zank war vergessen. Dann traten Solotän¬
zer auf und tanzten steyerisch, dann kosakisch, und
dann den ausgelassensten ungezogensten Kordax, daſs
die Mädchen davon liefen und selbst der Sakpfeifer
aufhörte. Dann ging die Scene von vorn an. Man
spielte und trank, und fluchte und zankte und drohte
mit Schlägen, bis der Sackpfeifer wieder anfing. Der
Mann war hier mehr als Friedensrichter, er war ein
wahrer Orpheus. Der Wein, den man aus groſsen
Glaskrügen trank, that endlich seine Wirkung; alles
ward ein volles, groſses, furchtbar bacchantisches Chor.
Hier nahm ich den Riemen meines Tornisters auf die
linke Schulter, meinen Knotenstock in die rechte
Hand und zog mich auf mein Schlafzimmer, wo ich
ein herrliches Thronbette fand und gewiſs wie ein
Fuhrknecht geschlafen hätte, wäre ich nicht von den
Grenadieren durch eine förmliche Bataille geweckt
worden. Der ehrliche Wirth machte den Leidenden,

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[45/0071] andere sangen, andere disputierten in allen Sprachen der Pfingstepistel mit Mund und Hand und Fuſs. Da entstand Streit im Ernst und die Handfestesten schie¬ nen schon im Begriff, sich einander die Argumenta ad hominem mit den Fäusten zu applicieren, da fing ein alter Kerl an in der entferntesten Ecke der groſsen gewölbten Stube auf einer Art von Sackpfeife zu bla¬ sen, und alles ward auf einmahl friedlich und lachte. Bey dem dritten und vierten Takte ward es still; bey dem sechsten faſsten ein Paar Grenadiere einander un¬ ter die Arme und fingen an zu walzen. Der Ball ver¬ mehrte sich, als ob Hüons Horn geblasen würde; man ergriff die Mädchen und sogar die alte dicke Wirthin, und aller Zank war vergessen. Dann traten Solotän¬ zer auf und tanzten steyerisch, dann kosakisch, und dann den ausgelassensten ungezogensten Kordax, daſs die Mädchen davon liefen und selbst der Sakpfeifer aufhörte. Dann ging die Scene von vorn an. Man spielte und trank, und fluchte und zankte und drohte mit Schlägen, bis der Sackpfeifer wieder anfing. Der Mann war hier mehr als Friedensrichter, er war ein wahrer Orpheus. Der Wein, den man aus groſsen Glaskrügen trank, that endlich seine Wirkung; alles ward ein volles, groſses, furchtbar bacchantisches Chor. Hier nahm ich den Riemen meines Tornisters auf die linke Schulter, meinen Knotenstock in die rechte Hand und zog mich auf mein Schlafzimmer, wo ich ein herrliches Thronbette fand und gewiſs wie ein Fuhrknecht geschlafen hätte, wäre ich nicht von den Grenadieren durch eine förmliche Bataille geweckt worden. Der ehrliche Wirth machte den Leidenden,

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Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/71>, abgerufen am 20.04.2024.