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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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Drittes Kapitel.
Das Geld in den Zweckreihen.

I.

Der grosse Gegensatz aller Geistesgeschichte: ob man die Inhalte
der Wirklichkeit von ihren Ursachen oder von ihren Folgen aus an-
sieht und zu begreifen sucht -- der Gegensatz der kausalen und der
teleologischen Denkrichtung -- findet sein Urbild an einem Unter-
schiede innerhalb unserer praktischen Motivationen. Das Gefühl, das
wir Trieb nennen, erscheint als an einen physiologischen Vorgang ge-
bunden, in dem gespannte Energien auf ihre Lösung drängen; indem
jene sich in ein Thun umsetzen, endet der Trieb; wenn er wirklich
ein blosser Trieb ist, so ist er "befriedigt", sobald er durch das Thun
sozusagen sich selbst los geworden ist. Diesem gradlinigen Kausal-
vorgange, der sich im Bewusstsein als das primitivste Triebgefühl
spiegelt, stehen diejenigen Aktionen gegenüber, deren Ursache, soweit
sie sich als Bewusstseinsinhalt kundgiebt, in der Vorstellung ihres Er-
folges besteht. Wir empfinden uns hier gleichsam nicht von hinten
getrieben, sondern von vorn gezogen. Das Befriedigungsgefühl tritt
infolgedessen hier nicht durch das blosse Thun ein, in dem der Trieb
sich auslebt, sondern erst durch den Erfolg, den das Thun hervorruft.
Wenn etwa eine ziellose innere Unruhe uns zu einer heftigen Be-
wegung treibt, so liegt ein Fall der ersten Kategorie vor; der zweiten,
wenn wir uns die gleiche Motion machen, um einen bestimmten
hygienischen Zweck damit zu erreichen; das Essen ausschliesslich aus
Hunger gehört in die erste, das Essen ohne Hunger, nur um des
kulinarischen Genusses willen, in die zweite Kategorie; die Sexual-
funktion im Sinne des Tieres ausgeübt, in die erste, die in der Hoff-
nung eines bestimmten Genusses gesuchte in die zweite. Dieser Unter-
schied scheint mir nun nach zwei Seiten hin wesentlich zu sein. So-

Drittes Kapitel.
Das Geld in den Zweckreihen.

I.

Der groſse Gegensatz aller Geistesgeschichte: ob man die Inhalte
der Wirklichkeit von ihren Ursachen oder von ihren Folgen aus an-
sieht und zu begreifen sucht — der Gegensatz der kausalen und der
teleologischen Denkrichtung — findet sein Urbild an einem Unter-
schiede innerhalb unserer praktischen Motivationen. Das Gefühl, das
wir Trieb nennen, erscheint als an einen physiologischen Vorgang ge-
bunden, in dem gespannte Energien auf ihre Lösung drängen; indem
jene sich in ein Thun umsetzen, endet der Trieb; wenn er wirklich
ein bloſser Trieb ist, so ist er „befriedigt“, sobald er durch das Thun
sozusagen sich selbst los geworden ist. Diesem gradlinigen Kausal-
vorgange, der sich im Bewuſstsein als das primitivste Triebgefühl
spiegelt, stehen diejenigen Aktionen gegenüber, deren Ursache, soweit
sie sich als Bewuſstseinsinhalt kundgiebt, in der Vorstellung ihres Er-
folges besteht. Wir empfinden uns hier gleichsam nicht von hinten
getrieben, sondern von vorn gezogen. Das Befriedigungsgefühl tritt
infolgedessen hier nicht durch das bloſse Thun ein, in dem der Trieb
sich auslebt, sondern erst durch den Erfolg, den das Thun hervorruft.
Wenn etwa eine ziellose innere Unruhe uns zu einer heftigen Be-
wegung treibt, so liegt ein Fall der ersten Kategorie vor; der zweiten,
wenn wir uns die gleiche Motion machen, um einen bestimmten
hygienischen Zweck damit zu erreichen; das Essen ausschlieſslich aus
Hunger gehört in die erste, das Essen ohne Hunger, nur um des
kulinarischen Genusses willen, in die zweite Kategorie; die Sexual-
funktion im Sinne des Tieres ausgeübt, in die erste, die in der Hoff-
nung eines bestimmten Genusses gesuchte in die zweite. Dieser Unter-
schied scheint mir nun nach zwei Seiten hin wesentlich zu sein. So-

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[[183]/0207] Drittes Kapitel. Das Geld in den Zweckreihen. I. Der groſse Gegensatz aller Geistesgeschichte: ob man die Inhalte der Wirklichkeit von ihren Ursachen oder von ihren Folgen aus an- sieht und zu begreifen sucht — der Gegensatz der kausalen und der teleologischen Denkrichtung — findet sein Urbild an einem Unter- schiede innerhalb unserer praktischen Motivationen. Das Gefühl, das wir Trieb nennen, erscheint als an einen physiologischen Vorgang ge- bunden, in dem gespannte Energien auf ihre Lösung drängen; indem jene sich in ein Thun umsetzen, endet der Trieb; wenn er wirklich ein bloſser Trieb ist, so ist er „befriedigt“, sobald er durch das Thun sozusagen sich selbst los geworden ist. Diesem gradlinigen Kausal- vorgange, der sich im Bewuſstsein als das primitivste Triebgefühl spiegelt, stehen diejenigen Aktionen gegenüber, deren Ursache, soweit sie sich als Bewuſstseinsinhalt kundgiebt, in der Vorstellung ihres Er- folges besteht. Wir empfinden uns hier gleichsam nicht von hinten getrieben, sondern von vorn gezogen. Das Befriedigungsgefühl tritt infolgedessen hier nicht durch das bloſse Thun ein, in dem der Trieb sich auslebt, sondern erst durch den Erfolg, den das Thun hervorruft. Wenn etwa eine ziellose innere Unruhe uns zu einer heftigen Be- wegung treibt, so liegt ein Fall der ersten Kategorie vor; der zweiten, wenn wir uns die gleiche Motion machen, um einen bestimmten hygienischen Zweck damit zu erreichen; das Essen ausschlieſslich aus Hunger gehört in die erste, das Essen ohne Hunger, nur um des kulinarischen Genusses willen, in die zweite Kategorie; die Sexual- funktion im Sinne des Tieres ausgeübt, in die erste, die in der Hoff- nung eines bestimmten Genusses gesuchte in die zweite. Dieser Unter- schied scheint mir nun nach zwei Seiten hin wesentlich zu sein. So-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. [183]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/207>, abgerufen am 29.03.2024.