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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700.

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Das erste Capitel.
rem guten noch anklebende fehler/ welche sie selbst befinden/ schon sünden ge-
nug/ weßwegen sie sich vor Gott zu demüthigen/ und dero vergebung täglich
zu bitten genug ursach haben. Es ist die distinction unter boßheit- und
schwachheit-sünden eine gantz nöthige und nützliche distinction, aber sie wird
treflich mißbrauchet/ und ist deswegen hochnöthig den leuten die sicherheit zu
benehmen/ da sie alle ihre sünden wollen vor schwachheit angesehen u. entschul-
diget haben/ die doch wo sie endlich recht genau untersucht werden/ wahrhaff-
tig mehr boßheit als schwachheit sind: Und ob wir wohl so praecise von jeg-
licher sünde unsers nechsten nicht allemahl pronunciiren können/ sind gleich-
wohl alle ernstlich zuerinnern/ fleißig ihre eigene hertzen zu untersuchen und
sich nicht zu schmeichelen/ so wird sie dasselbe öffters einer boßheit überzeu-
gen/ da sie sich auffs höchste gegen andere beschwehret hätten/ wo man sie ei-
ner boßheit beschuldigen wollen. Das meiste aber liget an dem redlichen
vorsatz des gantzen lebens/ wo derselbe ist oder nicht ist. Da sonsten ge-
meiniglich uns in unserem Christenthum begegnet/ was dorten Seneca klagt:
De partibus vitae omnes deliberamus, de tota nemo. Es will aber dißmahl
das papir nicht alles fassen/ noch ich in dem ersten schreiben so bald mit allzu-
grosser weitläufftigkeit beschwerlich fallen. Jndessen wollen wir nicht auff-
hören uns untereinander zu ermuntern/ so wohl in unserm eigenen christen-
thum zu zunehmen und durch die gnade GOttes täglich völliger zu werden/
als eben dadurch zu trachten/ daß wir vermögen rechtschaffene vorbilder der
heerde zu werden/ um mit Paulo unerröthet sagen zu können/ seyd meine
nachfolger gleich wie ich Christi/
ob einige an uns die möglichkeit der
dinge sehen möchten/ welche sie aus betrüglicher list des satans unmöglich
gehalten/ und desto weniger darnach getrachtet haben/ sonderlich aber un-
sern gecreutzigten JEsum treulich und gantz vortragen/ wie er uns nicht nur
mit seiner creutzigung/ gnade und vergebung der sünden erlanget/ sondern
uns auch ein exempel gelassen/ und den heiligen Geist darzu verdienet habe/
daß wir auch absterben allen sünden/ daß der leib der sünden bey uns auff-
höre/ daß wir der sünden nicht dienen/ und also der todt und das leben unsers
liebsten Heilandes an uns in der krafft offenbahr werde. 1679.

SECTIO XXI.
Von dem unterscheid der todt-sünden und
schwachheit-fehler.

VOn dem unterscheid zwischen todt-sünden und täglichen fehlern zu
schreiben/ achte eine von den schwehrsten materien: ja eigentlich stehet
der unterscheid nicht so wohl in den sünden selbs/ als in der bewandnüß
und gemüth dessen/ von dem sie begangen werden: also daß zuweilen einem

etwas

Das erſte Capitel.
rem guten noch anklebende fehler/ welche ſie ſelbſt befinden/ ſchon ſuͤnden ge-
nug/ weßwegen ſie ſich vor Gott zu demuͤthigen/ und dero vergebung taͤglich
zu bitten genug urſach haben. Es iſt die diſtinction unter boßheit- und
ſchwachheit-ſuͤnden eine gantz noͤthige und nuͤtzliche diſtinction, aber ſie wird
treflich mißbrauchet/ und iſt deswegen hochnoͤthig den leuten die ſicherheit zu
benehmen/ da ſie alle ihre ſuͤnden wollen vor ſchwachheit angeſehen u. entſchul-
diget haben/ die doch wo ſie endlich recht genau unterſucht werden/ wahrhaff-
tig mehr boßheit als ſchwachheit ſind: Und ob wir wohl ſo præciſe von jeg-
licher ſuͤnde unſers nechſten nicht allemahl pronunciiren koͤnnen/ ſind gleich-
wohl alle ernſtlich zuerinnern/ fleißig ihre eigene hertzen zu unterſuchen und
ſich nicht zu ſchmeichelen/ ſo wird ſie daſſelbe oͤffters einer boßheit uͤberzeu-
gen/ da ſie ſich auffs hoͤchſte gegen andere beſchwehret haͤtten/ wo man ſie ei-
ner boßheit beſchuldigen wollen. Das meiſte aber liget an dem redlichen
vorſatz des gantzen lebens/ wo derſelbe iſt oder nicht iſt. Da ſonſten ge-
meiniglich uns in unſerem Chriſtenthum begegnet/ was dorten Seneca klagt:
De partibus vitæ omnes deliberamus, de tota nemo. Es will aber dißmahl
das papir nicht alles faſſen/ noch ich in dem erſten ſchreiben ſo bald mit allzu-
groſſer weitlaͤufftigkeit beſchwerlich fallen. Jndeſſen wollen wir nicht auff-
hoͤren uns untereinander zu ermuntern/ ſo wohl in unſerm eigenen chriſten-
thum zu zunehmen und durch die gnade GOttes taͤglich voͤlliger zu werden/
als eben dadurch zu trachten/ daß wir vermoͤgen rechtſchaffene vorbilder der
heerde zu werden/ um mit Paulo unerroͤthet ſagen zu koͤnnen/ ſeyd meine
nachfolger gleich wie ich Chriſti/
ob einige an uns die moͤglichkeit der
dinge ſehen moͤchten/ welche ſie aus betruͤglicher liſt des ſatans unmoͤglich
gehalten/ und deſto weniger darnach getrachtet haben/ ſonderlich aber un-
ſern gecreutzigten JEſum treulich und gantz vortragen/ wie er uns nicht nur
mit ſeiner creutzigung/ gnade und vergebung der ſuͤnden erlanget/ ſondern
uns auch ein exempel gelaſſen/ und den heiligen Geiſt darzu verdienet habe/
daß wir auch abſterben allen ſuͤnden/ daß der leib der ſuͤnden bey uns auff-
hoͤre/ daß wir der ſuͤnden nicht dienen/ und alſo der todt und das leben unſers
liebſten Heilandes an uns in der krafft offenbahr werde. 1679.

SECTIO XXI.
Von dem unterſcheid der todt-ſuͤnden und
ſchwachheit-fehler.

VOn dem unterſcheid zwiſchen todt-ſuͤnden und taͤglichen fehlern zu
ſchreiben/ achte eine von den ſchwehrſten materien: ja eigentlich ſtehet
der unterſcheid nicht ſo wohl in den ſuͤnden ſelbs/ als in der bewandnuͤß
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[158/0174] Das erſte Capitel. rem guten noch anklebende fehler/ welche ſie ſelbſt befinden/ ſchon ſuͤnden ge- nug/ weßwegen ſie ſich vor Gott zu demuͤthigen/ und dero vergebung taͤglich zu bitten genug urſach haben. Es iſt die diſtinction unter boßheit- und ſchwachheit-ſuͤnden eine gantz noͤthige und nuͤtzliche diſtinction, aber ſie wird treflich mißbrauchet/ und iſt deswegen hochnoͤthig den leuten die ſicherheit zu benehmen/ da ſie alle ihre ſuͤnden wollen vor ſchwachheit angeſehen u. entſchul- diget haben/ die doch wo ſie endlich recht genau unterſucht werden/ wahrhaff- tig mehr boßheit als ſchwachheit ſind: Und ob wir wohl ſo præciſe von jeg- licher ſuͤnde unſers nechſten nicht allemahl pronunciiren koͤnnen/ ſind gleich- wohl alle ernſtlich zuerinnern/ fleißig ihre eigene hertzen zu unterſuchen und ſich nicht zu ſchmeichelen/ ſo wird ſie daſſelbe oͤffters einer boßheit uͤberzeu- gen/ da ſie ſich auffs hoͤchſte gegen andere beſchwehret haͤtten/ wo man ſie ei- ner boßheit beſchuldigen wollen. Das meiſte aber liget an dem redlichen vorſatz des gantzen lebens/ wo derſelbe iſt oder nicht iſt. Da ſonſten ge- meiniglich uns in unſerem Chriſtenthum begegnet/ was dorten Seneca klagt: De partibus vitæ omnes deliberamus, de tota nemo. Es will aber dißmahl das papir nicht alles faſſen/ noch ich in dem erſten ſchreiben ſo bald mit allzu- groſſer weitlaͤufftigkeit beſchwerlich fallen. Jndeſſen wollen wir nicht auff- hoͤren uns untereinander zu ermuntern/ ſo wohl in unſerm eigenen chriſten- thum zu zunehmen und durch die gnade GOttes taͤglich voͤlliger zu werden/ als eben dadurch zu trachten/ daß wir vermoͤgen rechtſchaffene vorbilder der heerde zu werden/ um mit Paulo unerroͤthet ſagen zu koͤnnen/ ſeyd meine nachfolger gleich wie ich Chriſti/ ob einige an uns die moͤglichkeit der dinge ſehen moͤchten/ welche ſie aus betruͤglicher liſt des ſatans unmoͤglich gehalten/ und deſto weniger darnach getrachtet haben/ ſonderlich aber un- ſern gecreutzigten JEſum treulich und gantz vortragen/ wie er uns nicht nur mit ſeiner creutzigung/ gnade und vergebung der ſuͤnden erlanget/ ſondern uns auch ein exempel gelaſſen/ und den heiligen Geiſt darzu verdienet habe/ daß wir auch abſterben allen ſuͤnden/ daß der leib der ſuͤnden bey uns auff- hoͤre/ daß wir der ſuͤnden nicht dienen/ und alſo der todt und das leben unſers liebſten Heilandes an uns in der krafft offenbahr werde. 1679. SECTIO XXI. Von dem unterſcheid der todt-ſuͤnden und ſchwachheit-fehler. VOn dem unterſcheid zwiſchen todt-ſuͤnden und taͤglichen fehlern zu ſchreiben/ achte eine von den ſchwehrſten materien: ja eigentlich ſtehet der unterſcheid nicht ſo wohl in den ſuͤnden ſelbs/ als in der bewandnuͤß und gemuͤth deſſen/ von dem ſie begangen werden: alſo daß zuweilen einem etwas

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken01_1700/174>, abgerufen am 19.04.2024.