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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

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wird. Hier wird das ethische Element der Hülfe zum Grunde gelegt,
und aus der natürlichen Verpflichtung, dem Verwandten zu helfen,
eine christliche, jedem zu helfen. Das ist an sich schön und trefflich;
aber die Folgen sind, daß die Hülfe im Namen der christlichen Pflicht
ausgeübt, nicht mehr nach Grund und Maß fragt, sondern der per-
sönlichen Bitte statt dem wirklichen Bedürfniß gibt. Damit empfängt
die Trägheit ihre Prämien, und der Bettel entsteht. Gegen Bettelei
und Vagabundenthum erhebt sich dann die Polizei, und verfolgt die
Arbeits- und Heimathslosigkeit mit ihren Maßregeln und Strafen;
allein das genügt doch nur im Einzelnen. Das Correlat ist die Ueber-
nahme der Unterstützung bei wirklicher Noth von Seiten der Gemein-
schaft; dieselbe, indem sie diese Verpflichtung anerkennt, fordert natürlich
auch das Recht, die objektive Ordnung für ihre Thätigkeit aufzustellen.
So entsteht als dritte große Epoche die systematische Verwaltung in
Gesetzgebung und Verwaltung. Allein in diese Epoche ragt schon die
folgende herein. Die Erkenntniß, daß die Arbeit die Basis der wirth-
schaftlichen Selbständigkeit sei, zeigt, daß das was man bisher Noth
genannt, einen zweifachen Inhalt habe. Es gibt einen wirklichen Zu-
stand des Mangels; es gibt aber auch einen Zustand, in welchem
nur das Gefühl des gesellschaftlichen Gegensatzes der Hülflosigkeit
der niederen Classe
gegenüber der höheren das Analogon der Noth
bildet. Die Classe der Armen scheidet sich von der der Besitzlosen;
die Erkenntniß greift Platz, daß beides, bis dahin vermengt, zwei
wesentlich verschiedene Gebiete der gesellschaftlichen Zustände enthalte,
und daß demgemäß auch die Aufgabe für jedes derselben eine wesentlich
verschiedene sei. Das ist der Charakter der Gegenwart; so wird jetzt
das Gebiet der wirthschaftlichen Noth zu einem durchaus selbständigen,
gegenüber dem der aufsteigenden Bewegung der nichtbesitzenden Classe,
und jetzt unterscheiden wir daher das Unterstützungswesen als
Gegenstand des Folgenden, von dem Hülfswesen als dem dritten
Theile der gesellschaftlichen Verwaltung.

I. Gesellschaftliche Polizei der Roth.
a) Die Theurungspolizei.

Der Begriff der Theurung ist zunächst ein nationalökonomischer
und wird meist ausschließlich als die Höhe der Preise der nothwendigen
Lebensbedürfnisse aufgefaßt. Das ist richtig. Allein seine höhere Be-
deutung ist die gesellschaftliche. Im Sinne der Gesellschaftslehre ist
die Höhe der Preise für den Begriff der Theurung ganz gleichgültig;
die Theurung ist für sie diejenige Höhe der Preise, welche gegen-

wird. Hier wird das ethiſche Element der Hülfe zum Grunde gelegt,
und aus der natürlichen Verpflichtung, dem Verwandten zu helfen,
eine chriſtliche, jedem zu helfen. Das iſt an ſich ſchön und trefflich;
aber die Folgen ſind, daß die Hülfe im Namen der chriſtlichen Pflicht
ausgeübt, nicht mehr nach Grund und Maß fragt, ſondern der per-
ſönlichen Bitte ſtatt dem wirklichen Bedürfniß gibt. Damit empfängt
die Trägheit ihre Prämien, und der Bettel entſteht. Gegen Bettelei
und Vagabundenthum erhebt ſich dann die Polizei, und verfolgt die
Arbeits- und Heimathsloſigkeit mit ihren Maßregeln und Strafen;
allein das genügt doch nur im Einzelnen. Das Correlat iſt die Ueber-
nahme der Unterſtützung bei wirklicher Noth von Seiten der Gemein-
ſchaft; dieſelbe, indem ſie dieſe Verpflichtung anerkennt, fordert natürlich
auch das Recht, die objektive Ordnung für ihre Thätigkeit aufzuſtellen.
So entſteht als dritte große Epoche die ſyſtematiſche Verwaltung in
Geſetzgebung und Verwaltung. Allein in dieſe Epoche ragt ſchon die
folgende herein. Die Erkenntniß, daß die Arbeit die Baſis der wirth-
ſchaftlichen Selbſtändigkeit ſei, zeigt, daß das was man bisher Noth
genannt, einen zweifachen Inhalt habe. Es gibt einen wirklichen Zu-
ſtand des Mangels; es gibt aber auch einen Zuſtand, in welchem
nur das Gefühl des geſellſchaftlichen Gegenſatzes der Hülfloſigkeit
der niederen Claſſe
gegenüber der höheren das Analogon der Noth
bildet. Die Claſſe der Armen ſcheidet ſich von der der Beſitzloſen;
die Erkenntniß greift Platz, daß beides, bis dahin vermengt, zwei
weſentlich verſchiedene Gebiete der geſellſchaftlichen Zuſtände enthalte,
und daß demgemäß auch die Aufgabe für jedes derſelben eine weſentlich
verſchiedene ſei. Das iſt der Charakter der Gegenwart; ſo wird jetzt
das Gebiet der wirthſchaftlichen Noth zu einem durchaus ſelbſtändigen,
gegenüber dem der aufſteigenden Bewegung der nichtbeſitzenden Claſſe,
und jetzt unterſcheiden wir daher das Unterſtützungsweſen als
Gegenſtand des Folgenden, von dem Hülfsweſen als dem dritten
Theile der geſellſchaftlichen Verwaltung.

I. Geſellſchaftliche Polizei der Roth.
a) Die Theurungspolizei.

Der Begriff der Theurung iſt zunächſt ein nationalökonomiſcher
und wird meiſt ausſchließlich als die Höhe der Preiſe der nothwendigen
Lebensbedürfniſſe aufgefaßt. Das iſt richtig. Allein ſeine höhere Be-
deutung iſt die geſellſchaftliche. Im Sinne der Geſellſchaftslehre iſt
die Höhe der Preiſe für den Begriff der Theurung ganz gleichgültig;
die Theurung iſt für ſie diejenige Höhe der Preiſe, welche gegen-

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[414/0438] wird. Hier wird das ethiſche Element der Hülfe zum Grunde gelegt, und aus der natürlichen Verpflichtung, dem Verwandten zu helfen, eine chriſtliche, jedem zu helfen. Das iſt an ſich ſchön und trefflich; aber die Folgen ſind, daß die Hülfe im Namen der chriſtlichen Pflicht ausgeübt, nicht mehr nach Grund und Maß fragt, ſondern der per- ſönlichen Bitte ſtatt dem wirklichen Bedürfniß gibt. Damit empfängt die Trägheit ihre Prämien, und der Bettel entſteht. Gegen Bettelei und Vagabundenthum erhebt ſich dann die Polizei, und verfolgt die Arbeits- und Heimathsloſigkeit mit ihren Maßregeln und Strafen; allein das genügt doch nur im Einzelnen. Das Correlat iſt die Ueber- nahme der Unterſtützung bei wirklicher Noth von Seiten der Gemein- ſchaft; dieſelbe, indem ſie dieſe Verpflichtung anerkennt, fordert natürlich auch das Recht, die objektive Ordnung für ihre Thätigkeit aufzuſtellen. So entſteht als dritte große Epoche die ſyſtematiſche Verwaltung in Geſetzgebung und Verwaltung. Allein in dieſe Epoche ragt ſchon die folgende herein. Die Erkenntniß, daß die Arbeit die Baſis der wirth- ſchaftlichen Selbſtändigkeit ſei, zeigt, daß das was man bisher Noth genannt, einen zweifachen Inhalt habe. Es gibt einen wirklichen Zu- ſtand des Mangels; es gibt aber auch einen Zuſtand, in welchem nur das Gefühl des geſellſchaftlichen Gegenſatzes der Hülfloſigkeit der niederen Claſſe gegenüber der höheren das Analogon der Noth bildet. Die Claſſe der Armen ſcheidet ſich von der der Beſitzloſen; die Erkenntniß greift Platz, daß beides, bis dahin vermengt, zwei weſentlich verſchiedene Gebiete der geſellſchaftlichen Zuſtände enthalte, und daß demgemäß auch die Aufgabe für jedes derſelben eine weſentlich verſchiedene ſei. Das iſt der Charakter der Gegenwart; ſo wird jetzt das Gebiet der wirthſchaftlichen Noth zu einem durchaus ſelbſtändigen, gegenüber dem der aufſteigenden Bewegung der nichtbeſitzenden Claſſe, und jetzt unterſcheiden wir daher das Unterſtützungsweſen als Gegenſtand des Folgenden, von dem Hülfsweſen als dem dritten Theile der geſellſchaftlichen Verwaltung. I. Geſellſchaftliche Polizei der Roth. a) Die Theurungspolizei. Der Begriff der Theurung iſt zunächſt ein nationalökonomiſcher und wird meiſt ausſchließlich als die Höhe der Preiſe der nothwendigen Lebensbedürfniſſe aufgefaßt. Das iſt richtig. Allein ſeine höhere Be- deutung iſt die geſellſchaftliche. Im Sinne der Geſellſchaftslehre iſt die Höhe der Preiſe für den Begriff der Theurung ganz gleichgültig; die Theurung iſt für ſie diejenige Höhe der Preiſe, welche gegen-

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/438>, abgerufen am 20.04.2024.