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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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der normannisch-staatlichen Formation angehört. Die wahre Bedeu-
tung der englischen Selbstverwaltung liegt daher auch hier in dem
System der Gemeinden, an deren Spitze der Friedensrichter steht, und
zu denen wir unten gelangen.

Ganz anders, und kaum noch eine Landschaft zu nennen, ist das,
was in Frankreich dieselbe seit der Revolution vertritt.

2) Frankreich. Das Departement, das Conseil de prefecture und das
Conseil general.

Wir dürfen hier die alte Landschaft Frankreichs als eine historisch
gänzlich verschwundene Erscheinung übergehen. Es genügt wohl, zu
bemerken, daß diese allerdings im vollen Sinne des Wortes eine Land-
schaft war. Sie hatte nicht bloß eine selbständige Gesetzgebung für
ihre eigenen Angelegenheiten in ihren Ständen, den Etats, sondern sie
verwaltete auch das ganze Finanzwesen, so weit es nicht auf Hoheits-
rechten beruhte, und war namentlich in jenen Etats das Organ der
Steuerbewilligung der ständischen Epoche, die sich bekanntlich nur auf
die direkten Steuern bezog. Sie hatte außerdem ihre eigene Organi-
sation, ihre eigenen Beamteten, ihre eigene Rechtsbildung in dem droit
coutumier,
unter dem man bekanntlich nicht etwa ein Gewohnheitsrecht,
sondern eben das Landesrecht gegenüber dem Reichsrecht zu verstehen
hat, ihre eigene Rechtsverwaltung, zwar nicht in Jury's, wohl aber
in den Landesparlamenten, die einander gegenüber ganz selbständig
waren, und einen sehr wesentlichen Theil der innern Verwaltung.
Sie waren daher bei der fast unbedingten Abhängigkeit der übrigen
Lebensverhältnisse des Staats vom Centrum des letztern der Sitz der
Selbständigkeit; in ihnen stellte sich das historische Recht dem königlichen
entgegen; an sie wagte sich das sonst allmächtige Königthum nicht;
durch sie lebte die Vorstellung der staatsbürgerlichen Selbständigkeit fort,
die sich in dem Rechte der Parlamente, einer königlichen Verordnung die
Gültigkeit der Gesetze durch Eintragung in die Parlamentsbücher zu
verleihen, oft dem königlichen Willen gegenüber sehr bestimmt äußerte;
sie waren im Ganzen der Ausdruck des germanischen Princips im
französischen Staatsleben, das erst die Revolution dem romanischen
einer centralen Despotie geopfert hat. So haben die Landschaften
selbst unter Ludwig dem XIV. und XV. bestanden, und noch unter
Ludwig XVI. kurz vor der Revolution einen Kampf mit dem König-
thum gekämpft, in dem sie zuletzt Sieger blieben. Das war die Zeit
Meaupou's und der Verbannung des Pariser Parlaments nach Orleans.
In diesem Sinne forderte auch Necker, und in Deutschland Benzenberg
(Preußens Geldhaushalt S. 51) solche landschaftliche oder kreisähnliche

der normanniſch-ſtaatlichen Formation angehört. Die wahre Bedeu-
tung der engliſchen Selbſtverwaltung liegt daher auch hier in dem
Syſtem der Gemeinden, an deren Spitze der Friedensrichter ſteht, und
zu denen wir unten gelangen.

Ganz anders, und kaum noch eine Landſchaft zu nennen, iſt das,
was in Frankreich dieſelbe ſeit der Revolution vertritt.

2) Frankreich. Das Département, das Conseil de préfecture und das
Conseil général.

Wir dürfen hier die alte Landſchaft Frankreichs als eine hiſtoriſch
gänzlich verſchwundene Erſcheinung übergehen. Es genügt wohl, zu
bemerken, daß dieſe allerdings im vollen Sinne des Wortes eine Land-
ſchaft war. Sie hatte nicht bloß eine ſelbſtändige Geſetzgebung für
ihre eigenen Angelegenheiten in ihren Ständen, den États, ſondern ſie
verwaltete auch das ganze Finanzweſen, ſo weit es nicht auf Hoheits-
rechten beruhte, und war namentlich in jenen États das Organ der
Steuerbewilligung der ſtändiſchen Epoche, die ſich bekanntlich nur auf
die direkten Steuern bezog. Sie hatte außerdem ihre eigene Organi-
ſation, ihre eigenen Beamteten, ihre eigene Rechtsbildung in dem droit
coutumier,
unter dem man bekanntlich nicht etwa ein Gewohnheitsrecht,
ſondern eben das Landesrecht gegenüber dem Reichsrecht zu verſtehen
hat, ihre eigene Rechtsverwaltung, zwar nicht in Jury’s, wohl aber
in den Landesparlamenten, die einander gegenüber ganz ſelbſtändig
waren, und einen ſehr weſentlichen Theil der innern Verwaltung.
Sie waren daher bei der faſt unbedingten Abhängigkeit der übrigen
Lebensverhältniſſe des Staats vom Centrum des letztern der Sitz der
Selbſtändigkeit; in ihnen ſtellte ſich das hiſtoriſche Recht dem königlichen
entgegen; an ſie wagte ſich das ſonſt allmächtige Königthum nicht;
durch ſie lebte die Vorſtellung der ſtaatsbürgerlichen Selbſtändigkeit fort,
die ſich in dem Rechte der Parlamente, einer königlichen Verordnung die
Gültigkeit der Geſetze durch Eintragung in die Parlamentsbücher zu
verleihen, oft dem königlichen Willen gegenüber ſehr beſtimmt äußerte;
ſie waren im Ganzen der Ausdruck des germaniſchen Princips im
franzöſiſchen Staatsleben, das erſt die Revolution dem romaniſchen
einer centralen Despotie geopfert hat. So haben die Landſchaften
ſelbſt unter Ludwig dem XIV. und XV. beſtanden, und noch unter
Ludwig XVI. kurz vor der Revolution einen Kampf mit dem König-
thum gekämpft, in dem ſie zuletzt Sieger blieben. Das war die Zeit
Meaupou’s und der Verbannung des Pariſer Parlaments nach Orleans.
In dieſem Sinne forderte auch Necker, und in Deutſchland Benzenberg
(Preußens Geldhaushalt S. 51) ſolche landſchaftliche oder kreisähnliche

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[420/0444] der normanniſch-ſtaatlichen Formation angehört. Die wahre Bedeu- tung der engliſchen Selbſtverwaltung liegt daher auch hier in dem Syſtem der Gemeinden, an deren Spitze der Friedensrichter ſteht, und zu denen wir unten gelangen. Ganz anders, und kaum noch eine Landſchaft zu nennen, iſt das, was in Frankreich dieſelbe ſeit der Revolution vertritt. 2) Frankreich. Das Département, das Conseil de préfecture und das Conseil général. Wir dürfen hier die alte Landſchaft Frankreichs als eine hiſtoriſch gänzlich verſchwundene Erſcheinung übergehen. Es genügt wohl, zu bemerken, daß dieſe allerdings im vollen Sinne des Wortes eine Land- ſchaft war. Sie hatte nicht bloß eine ſelbſtändige Geſetzgebung für ihre eigenen Angelegenheiten in ihren Ständen, den États, ſondern ſie verwaltete auch das ganze Finanzweſen, ſo weit es nicht auf Hoheits- rechten beruhte, und war namentlich in jenen États das Organ der Steuerbewilligung der ſtändiſchen Epoche, die ſich bekanntlich nur auf die direkten Steuern bezog. Sie hatte außerdem ihre eigene Organi- ſation, ihre eigenen Beamteten, ihre eigene Rechtsbildung in dem droit coutumier, unter dem man bekanntlich nicht etwa ein Gewohnheitsrecht, ſondern eben das Landesrecht gegenüber dem Reichsrecht zu verſtehen hat, ihre eigene Rechtsverwaltung, zwar nicht in Jury’s, wohl aber in den Landesparlamenten, die einander gegenüber ganz ſelbſtändig waren, und einen ſehr weſentlichen Theil der innern Verwaltung. Sie waren daher bei der faſt unbedingten Abhängigkeit der übrigen Lebensverhältniſſe des Staats vom Centrum des letztern der Sitz der Selbſtändigkeit; in ihnen ſtellte ſich das hiſtoriſche Recht dem königlichen entgegen; an ſie wagte ſich das ſonſt allmächtige Königthum nicht; durch ſie lebte die Vorſtellung der ſtaatsbürgerlichen Selbſtändigkeit fort, die ſich in dem Rechte der Parlamente, einer königlichen Verordnung die Gültigkeit der Geſetze durch Eintragung in die Parlamentsbücher zu verleihen, oft dem königlichen Willen gegenüber ſehr beſtimmt äußerte; ſie waren im Ganzen der Ausdruck des germaniſchen Princips im franzöſiſchen Staatsleben, das erſt die Revolution dem romaniſchen einer centralen Despotie geopfert hat. So haben die Landſchaften ſelbſt unter Ludwig dem XIV. und XV. beſtanden, und noch unter Ludwig XVI. kurz vor der Revolution einen Kampf mit dem König- thum gekämpft, in dem ſie zuletzt Sieger blieben. Das war die Zeit Meaupou’s und der Verbannung des Pariſer Parlaments nach Orleans. In dieſem Sinne forderte auch Necker, und in Deutſchland Benzenberg (Preußens Geldhaushalt S. 51) ſolche landſchaftliche oder kreisähnliche

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/444>, abgerufen am 23.04.2024.