Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

und das Besondere nur als Glied eines Ganzen da, dem es dient,
und von dem es getragen wird; das Allgemeine scheidet sich
überall durch mannigfaltige Gegensätze in Besonderes, und in
jedem Besonderen liegt noch ein zu einer Einheit verbundener
Gegensatz." Die Welt ist also "tiefer betrachtet" ebenso wohl
ein organisches Wesen, wie der Geist; die realen Dinge stehen
sich einander in Gegensätzen gegenüber, und jedes ist nur für
sein Gegenüber da; und so organisch in einander entgegenge-
setzte Reihen aufgepflanzt, kann sie der Geist aufnehmen. Der
Fehler der Sinne wird also, gleichgültig wie, verbessert. Sie
waren so dumm, die Welt als ein bloßes Aggregat zu erfassen;
aber der Geist, obgleich er von der Welt gar nichts weiter weiß,
als was ihm die Sinne bieten, gestaltet in eigenem Schöpfungs-
triebe, wahrscheinlich jedoch von "einer tiefer eingehenden Be-
trachtung" belehrt, das Empfangene in Begriffe um, und zwar --
man staune vor dem Wunder! -- so, daß die Begriffe, nicht den
Anschauungen, sondern den realen Dingen entsprechend, das
organische Wesen der letztern bekunden. Tiefer betrachtet
schwindet wohl das Wunder. Denn die organische Anordnung
des Ganzen beruht einfach darauf, daß man alle Dinge der Welt
in zwei Reihen gegenüberstellt, Gegensätze oder Gegenstellun-
gen bildet. Das ist nicht schwer, und ob die Welt auch so
zwei sich starr anblickende Reihen bildet oder nicht, was küm-
mert das den Geist?

§. 34. Allgemeines und Besonderes; Thätigkeit und Sein.

"Als der oberste und allgemeinste Gegensatz stellt sich in
der realen Welt der Gegensatz von Thätigkeit und Sein --
Kraft
und Materie -- dar. Die Thätigkeit ist aber das Er-
ste, und das Sein nur die mit sich selbst in einen Gegensatz
getretene -- durch sich selbst gehemmte -- Thätigkeit: auch
in der Materie ist ein Gegensatz von Thätigkeiten -- Ex-
pansion und Contraction -- zu einer Einheit verbunden." Be-
cker giebt uns eine Geschichte der Schöpfung. Im Anfang
war die Kraft
-- oder die Thätigkeit? das ist einerlei. Die
Thätigkeit aber war gewiß eine organische; sie mußte sich also
verleiblichen -- eine schwierige Aufgabe! Was that sie? sie trat
mit sich in einen Gegensatz. Woher kommt aber der Gegen-
satz? Die Thätigkeit hemmte sich -- wie? warum? Genug,
sie thut's. Also: und die Kraft war beim Gegensatz.
Was aber nun? so haben wir gehemmte Thätigkeit, gehemmte

6

und das Besondere nur als Glied eines Ganzen da, dem es dient,
und von dem es getragen wird; das Allgemeine scheidet sich
überall durch mannigfaltige Gegensätze in Besonderes, und in
jedem Besonderen liegt noch ein zu einer Einheit verbundener
Gegensatz.“ Die Welt ist also „tiefer betrachtet“ ebenso wohl
ein organisches Wesen, wie der Geist; die realen Dinge stehen
sich einander in Gegensätzen gegenüber, und jedes ist nur für
sein Gegenüber da; und so organisch in einander entgegenge-
setzte Reihen aufgepflanzt, kann sie der Geist aufnehmen. Der
Fehler der Sinne wird also, gleichgültig wie, verbessert. Sie
waren so dumm, die Welt als ein bloßes Aggregat zu erfassen;
aber der Geist, obgleich er von der Welt gar nichts weiter weiß,
als was ihm die Sinne bieten, gestaltet in eigenem Schöpfungs-
triebe, wahrscheinlich jedoch von „einer tiefer eingehenden Be-
trachtung“ belehrt, das Empfangene in Begriffe um, und zwar —
man staune vor dem Wunder! — so, daß die Begriffe, nicht den
Anschauungen, sondern den realen Dingen entsprechend, das
organische Wesen der letztern bekunden. Tiefer betrachtet
schwindet wohl das Wunder. Denn die organische Anordnung
des Ganzen beruht einfach darauf, daß man alle Dinge der Welt
in zwei Reihen gegenüberstellt, Gegensätze oder Gegenstellun-
gen bildet. Das ist nicht schwer, und ob die Welt auch so
zwei sich starr anblickende Reihen bildet oder nicht, was küm-
mert das den Geist?

§. 34. Allgemeines und Besonderes; Thätigkeit und Sein.

„Als der oberste und allgemeinste Gegensatz stellt sich in
der realen Welt der Gegensatz von Thätigkeit und Sein —
Kraft
und Materie — dar. Die Thätigkeit ist aber das Er-
ste, und das Sein nur die mit sich selbst in einen Gegensatz
getretene — durch sich selbst gehemmte — Thätigkeit: auch
in der Materie ist ein Gegensatz von Thätigkeiten — Ex-
pansion und Contraction — zu einer Einheit verbunden.“ Be-
cker giebt uns eine Geschichte der Schöpfung. Im Anfang
war die Kraft
— oder die Thätigkeit? das ist einerlei. Die
Thätigkeit aber war gewiß eine organische; sie mußte sich also
verleiblichen — eine schwierige Aufgabe! Was that sie? sie trat
mit sich in einen Gegensatz. Woher kommt aber der Gegen-
satz? Die Thätigkeit hemmte sich — wie? warum? Genug,
sie thut’s. Also: und die Kraft war beim Gegensatz.
Was aber nun? so haben wir gehemmte Thätigkeit, gehemmte

6
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0119" n="81"/>
und das Besondere nur als Glied eines Ganzen da, dem es dient,<lb/>
und von dem es getragen wird; das Allgemeine scheidet sich<lb/>
überall durch mannigfaltige Gegensätze in Besonderes, und in<lb/>
jedem Besonderen liegt noch ein zu einer Einheit verbundener<lb/>
Gegensatz.&#x201C; Die Welt ist also &#x201E;tiefer betrachtet&#x201C; ebenso wohl<lb/>
ein organisches Wesen, wie der Geist; die realen Dinge stehen<lb/>
sich einander in Gegensätzen gegenüber, und jedes ist nur für<lb/>
sein Gegenüber da; und so organisch in einander entgegenge-<lb/>
setzte Reihen aufgepflanzt, kann sie der Geist aufnehmen. Der<lb/>
Fehler der Sinne wird also, gleichgültig wie, verbessert. Sie<lb/>
waren so dumm, die Welt als ein bloßes Aggregat zu erfassen;<lb/>
aber der Geist, obgleich er von der Welt gar nichts weiter weiß,<lb/>
als was ihm die Sinne bieten, gestaltet in eigenem Schöpfungs-<lb/>
triebe, wahrscheinlich jedoch von &#x201E;einer tiefer eingehenden Be-<lb/>
trachtung&#x201C; belehrt, das Empfangene in Begriffe um, und zwar &#x2014;<lb/>
man staune vor dem Wunder! &#x2014; so, daß die Begriffe, nicht den<lb/>
Anschauungen, sondern den realen Dingen entsprechend, das<lb/>
organische Wesen der letztern bekunden. Tiefer betrachtet<lb/>
schwindet wohl das Wunder. Denn die organische Anordnung<lb/>
des Ganzen beruht einfach darauf, daß man alle Dinge der Welt<lb/>
in zwei Reihen gegenüberstellt, Gegensätze oder Gegenstellun-<lb/>
gen bildet. Das ist nicht schwer, und ob die Welt auch so<lb/>
zwei sich starr anblickende Reihen bildet oder nicht, was küm-<lb/>
mert das den Geist?</p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 34. Allgemeines und Besonderes; Thätigkeit und Sein.</head><lb/>
                <p>&#x201E;Als der oberste und allgemeinste Gegensatz stellt sich in<lb/>
der realen Welt der Gegensatz von <hi rendition="#g">Thätigkeit</hi> und <hi rendition="#g">Sein &#x2014;<lb/>
Kraft</hi> und <hi rendition="#g">Materie</hi> &#x2014; dar. Die Thätigkeit ist aber das Er-<lb/>
ste, und das Sein nur die mit sich selbst in einen Gegensatz<lb/>
getretene &#x2014; durch sich selbst gehemmte &#x2014; Thätigkeit: auch<lb/>
in der Materie ist ein Gegensatz von <hi rendition="#g">Thätigkeiten</hi> &#x2014; Ex-<lb/>
pansion und Contraction &#x2014; zu einer Einheit verbunden.&#x201C; Be-<lb/>
cker giebt uns eine Geschichte der Schöpfung. <hi rendition="#g">Im Anfang<lb/>
war die Kraft</hi> &#x2014; oder die Thätigkeit? das ist einerlei. Die<lb/>
Thätigkeit aber war gewiß eine organische; sie mußte sich also<lb/>
verleiblichen &#x2014; eine schwierige Aufgabe! Was that sie? sie trat<lb/>
mit sich in einen Gegensatz. Woher kommt aber der Gegen-<lb/>
satz? Die Thätigkeit hemmte sich &#x2014; wie? warum? Genug,<lb/>
sie thut&#x2019;s. Also: <hi rendition="#g">und die Kraft war beim Gegensatz</hi>.<lb/>
Was aber nun? so haben wir gehemmte Thätigkeit, gehemmte<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">6</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[81/0119] und das Besondere nur als Glied eines Ganzen da, dem es dient, und von dem es getragen wird; das Allgemeine scheidet sich überall durch mannigfaltige Gegensätze in Besonderes, und in jedem Besonderen liegt noch ein zu einer Einheit verbundener Gegensatz.“ Die Welt ist also „tiefer betrachtet“ ebenso wohl ein organisches Wesen, wie der Geist; die realen Dinge stehen sich einander in Gegensätzen gegenüber, und jedes ist nur für sein Gegenüber da; und so organisch in einander entgegenge- setzte Reihen aufgepflanzt, kann sie der Geist aufnehmen. Der Fehler der Sinne wird also, gleichgültig wie, verbessert. Sie waren so dumm, die Welt als ein bloßes Aggregat zu erfassen; aber der Geist, obgleich er von der Welt gar nichts weiter weiß, als was ihm die Sinne bieten, gestaltet in eigenem Schöpfungs- triebe, wahrscheinlich jedoch von „einer tiefer eingehenden Be- trachtung“ belehrt, das Empfangene in Begriffe um, und zwar — man staune vor dem Wunder! — so, daß die Begriffe, nicht den Anschauungen, sondern den realen Dingen entsprechend, das organische Wesen der letztern bekunden. Tiefer betrachtet schwindet wohl das Wunder. Denn die organische Anordnung des Ganzen beruht einfach darauf, daß man alle Dinge der Welt in zwei Reihen gegenüberstellt, Gegensätze oder Gegenstellun- gen bildet. Das ist nicht schwer, und ob die Welt auch so zwei sich starr anblickende Reihen bildet oder nicht, was küm- mert das den Geist? §. 34. Allgemeines und Besonderes; Thätigkeit und Sein. „Als der oberste und allgemeinste Gegensatz stellt sich in der realen Welt der Gegensatz von Thätigkeit und Sein — Kraft und Materie — dar. Die Thätigkeit ist aber das Er- ste, und das Sein nur die mit sich selbst in einen Gegensatz getretene — durch sich selbst gehemmte — Thätigkeit: auch in der Materie ist ein Gegensatz von Thätigkeiten — Ex- pansion und Contraction — zu einer Einheit verbunden.“ Be- cker giebt uns eine Geschichte der Schöpfung. Im Anfang war die Kraft — oder die Thätigkeit? das ist einerlei. Die Thätigkeit aber war gewiß eine organische; sie mußte sich also verleiblichen — eine schwierige Aufgabe! Was that sie? sie trat mit sich in einen Gegensatz. Woher kommt aber der Gegen- satz? Die Thätigkeit hemmte sich — wie? warum? Genug, sie thut’s. Also: und die Kraft war beim Gegensatz. Was aber nun? so haben wir gehemmte Thätigkeit, gehemmte 6

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/119
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/119>, abgerufen am 28.03.2024.