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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Einheit zusammen. Von diesem allgemeinen Hintergrunde he-
ben sich zuerst die lebenden Wesen hervor, die sich unaufhör-
lich im Raume hin und her bewegen und dadurch von allem,
was nicht zu ihnen gehört, ablösen. Das Kind sieht Personen
und Thiere gehen und kommen; es selbst geht aus den Armen
des Einen in die des Andern über. So lernt es jene als beson-
dere Einheiten von allem Uebrigen abscheiden. -- Die Dinge
werden hin und her gerückt; Tische und Stühle stehen bald
dort, bald hier. Auf dem Tische steht bald dies, bald jenes,
bald gar nichts. Das Kind sieht die Dinge bald liegend, bald
weggenommen und bald wieder hingelegt, und nimmt sie selbst in
die Hand. So zerreißt also die Einheit des durch die Empfin-
dung Wahrgenommenen in so viele Stücke, als die Wirklichkeit
selbst sich auflöst. So bekommt das Kind Anschauungen
von Dingen
. Sieht es dann auch noch den Tisch aus einan-
der gelegt, die Decke abgenommen, die Füße losgelöst: so zer-
legt sich die Anschauung des Tisches von neuem in eben so
viele und eben solche Anschauungen, als der Tisch in Theile
zerlegt ist, und es erhält zugleich die Anschauung der Thätig-
keiten des Auseinandernehmens und Zusammensetzens. Soviel
lernt ein Kind im ersten und zweiten Jahre, und so stehen wir
hier schon an der Schwelle der Sprache.

Die Sprache ist aber nicht reine geistige Thätigkeit, son-
dern zugleich eine leibliche, und zwar so, daß leibliche und
geistige Thätigkeit eng an einander geknüpft sind. Es ist da-
her nöthig, über den Zusammenhang zwischen Seele und Leib
einige für die Sprachschöpfung wichtige Punkte vorauszuschicken.
Vergegenwärtigen wir uns zuerst die Thatsachen, die für un-
sern Zweck Interesse haben. Wir entlehnen sie dem berühm-
ten Werke J. Müllers: Handbuch der Physiologie des Men-
schen. Worauf es uns hier ankommt, das sind die Erscheinun-
gen, welche man als Association und Reflexion von Vor-
stellung oder Empfindung und Bewegung bezeichnet hat.

§. 87. Reflexion und Association von Seelenthätigkeit und Körper-
bewegung.

Mit dem Namen Association bezeichnet man die Erschei-
nung, daß etwas Empfundenes oder Gefühltes oder Gedachtes,
welches mit einem andern Seelenerzeugnisse in irgend eine Ver-
bindung gesetzt war (weil sie gleichzeitig oder dicht nach ein-
ander statthatten, oder weil beide eine gewisse Aehnlichkeit oder

Einheit zusammen. Von diesem allgemeinen Hintergrunde he-
ben sich zuerst die lebenden Wesen hervor, die sich unaufhör-
lich im Raume hin und her bewegen und dadurch von allem,
was nicht zu ihnen gehört, ablösen. Das Kind sieht Personen
und Thiere gehen und kommen; es selbst geht aus den Armen
des Einen in die des Andern über. So lernt es jene als beson-
dere Einheiten von allem Uebrigen abscheiden. — Die Dinge
werden hin und her gerückt; Tische und Stühle stehen bald
dort, bald hier. Auf dem Tische steht bald dies, bald jenes,
bald gar nichts. Das Kind sieht die Dinge bald liegend, bald
weggenommen und bald wieder hingelegt, und nimmt sie selbst in
die Hand. So zerreißt also die Einheit des durch die Empfin-
dung Wahrgenommenen in so viele Stücke, als die Wirklichkeit
selbst sich auflöst. So bekommt das Kind Anschauungen
von Dingen
. Sieht es dann auch noch den Tisch aus einan-
der gelegt, die Decke abgenommen, die Füße losgelöst: so zer-
legt sich die Anschauung des Tisches von neuem in eben so
viele und eben solche Anschauungen, als der Tisch in Theile
zerlegt ist, und es erhält zugleich die Anschauung der Thätig-
keiten des Auseinandernehmens und Zusammensetzens. Soviel
lernt ein Kind im ersten und zweiten Jahre, und so stehen wir
hier schon an der Schwelle der Sprache.

Die Sprache ist aber nicht reine geistige Thätigkeit, son-
dern zugleich eine leibliche, und zwar so, daß leibliche und
geistige Thätigkeit eng an einander geknüpft sind. Es ist da-
her nöthig, über den Zusammenhang zwischen Seele und Leib
einige für die Sprachschöpfung wichtige Punkte vorauszuschicken.
Vergegenwärtigen wir uns zuerst die Thatsachen, die für un-
sern Zweck Interesse haben. Wir entlehnen sie dem berühm-
ten Werke J. Müllers: Handbuch der Physiologie des Men-
schen. Worauf es uns hier ankommt, das sind die Erscheinun-
gen, welche man als Association und Reflexion von Vor-
stellung oder Empfindung und Bewegung bezeichnet hat.

§. 87. Reflexion und Association von Seelenthätigkeit und Körper-
bewegung.

Mit dem Namen Association bezeichnet man die Erschei-
nung, daß etwas Empfundenes oder Gefühltes oder Gedachtes,
welches mit einem andern Seelenerzeugnisse in irgend eine Ver-
bindung gesetzt war (weil sie gleichzeitig oder dicht nach ein-
ander statthatten, oder weil beide eine gewisse Aehnlichkeit oder

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[246/0284] Einheit zusammen. Von diesem allgemeinen Hintergrunde he- ben sich zuerst die lebenden Wesen hervor, die sich unaufhör- lich im Raume hin und her bewegen und dadurch von allem, was nicht zu ihnen gehört, ablösen. Das Kind sieht Personen und Thiere gehen und kommen; es selbst geht aus den Armen des Einen in die des Andern über. So lernt es jene als beson- dere Einheiten von allem Uebrigen abscheiden. — Die Dinge werden hin und her gerückt; Tische und Stühle stehen bald dort, bald hier. Auf dem Tische steht bald dies, bald jenes, bald gar nichts. Das Kind sieht die Dinge bald liegend, bald weggenommen und bald wieder hingelegt, und nimmt sie selbst in die Hand. So zerreißt also die Einheit des durch die Empfin- dung Wahrgenommenen in so viele Stücke, als die Wirklichkeit selbst sich auflöst. So bekommt das Kind Anschauungen von Dingen. Sieht es dann auch noch den Tisch aus einan- der gelegt, die Decke abgenommen, die Füße losgelöst: so zer- legt sich die Anschauung des Tisches von neuem in eben so viele und eben solche Anschauungen, als der Tisch in Theile zerlegt ist, und es erhält zugleich die Anschauung der Thätig- keiten des Auseinandernehmens und Zusammensetzens. Soviel lernt ein Kind im ersten und zweiten Jahre, und so stehen wir hier schon an der Schwelle der Sprache. Die Sprache ist aber nicht reine geistige Thätigkeit, son- dern zugleich eine leibliche, und zwar so, daß leibliche und geistige Thätigkeit eng an einander geknüpft sind. Es ist da- her nöthig, über den Zusammenhang zwischen Seele und Leib einige für die Sprachschöpfung wichtige Punkte vorauszuschicken. Vergegenwärtigen wir uns zuerst die Thatsachen, die für un- sern Zweck Interesse haben. Wir entlehnen sie dem berühm- ten Werke J. Müllers: Handbuch der Physiologie des Men- schen. Worauf es uns hier ankommt, das sind die Erscheinun- gen, welche man als Association und Reflexion von Vor- stellung oder Empfindung und Bewegung bezeichnet hat. §. 87. Reflexion und Association von Seelenthätigkeit und Körper- bewegung. Mit dem Namen Association bezeichnet man die Erschei- nung, daß etwas Empfundenes oder Gefühltes oder Gedachtes, welches mit einem andern Seelenerzeugnisse in irgend eine Ver- bindung gesetzt war (weil sie gleichzeitig oder dicht nach ein- ander statthatten, oder weil beide eine gewisse Aehnlichkeit oder

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/284>, abgerufen am 19.04.2024.