Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite
b) Nähere Darlegung des Wesens der Vorstellung
und ihrer Entwickelung
.
§. 106.

Auf dem Punkte, wo wir hier stehen, ist allerdings die Ent-
wickelung der Sprache und des Gedankens identisch; denn wir
wollen eben zeigen, was das Denken durch das Sprechen ge-
winnt, welchen Zuwachs das Denken an Formbildung und Klar-
heit durch die Entwickelung der Sprache erhält. Die Sprache,
angesehen als instinctives Selbstbewußtsein, bildet eine Stufe in
der Entwickelung des Gedankens; und so weit diese Stufe reicht,
fällt also die Entwickelung des Denkens mit der des Sprechens
zusammen. Auch in der Zeit giebt es eine Epoche, in der Ge-
schichte des Urmenschen sowohl, wie im geistigen Wachsen des
Kindes, eine Epoche, sage ich, in welcher das Bewußtsein be-
stimmt ist als instinctives Selbstbewußtsein, und deren Wesen
darin besteht, daß die Entwickelung des Denkens Sprache ist.
In dieser Epoche löst das Bewußtsein die Aufgabe, den sämmt-
lichen gewonnenen Vorrath von Anschauungen nach und nach
durch das Wort in einen Schatz von Vorstellungen umzuwan-
deln. Dies giebt eine neue Definition der Sprache; denn sie ist
hiernach: der geistige Vorgang des Umwandelns der
Anschauung in Vorstellung
. Die Seele läßt also allmäh-
lich ihr inneres Auge auf allen einzelnen Anschauungen, die sie
erworben hat, ruhen und erhebt sie dadurch, jede einzeln, in
das instinctive Selbstbewußtsein, wodurch sie zu Vorstellungen
werden.

§. 107. Stoff und Form.

Bei diesem Wandel, der also keineswegs mit einem Schlage
zauberhaft vollbracht wird, treten nun mancherlei formale Ele-
mente hervor. Wir haben bisher nur materiale Verhältnisse
des Denkinhaltes betrachtet: die Anschauung ist für das
Denken ein gegebener Stoff und hat noch keine dem Gedan-
ken angehörende Form
. Nach einer gewissen philosophi-
schen Betrachtungsweise läßt sich wohl sagen, alles was Form
genannt werden kann, sei schon ein Erzeugniß der Seele. Das
Wesen der Anschauung an sich ist schon eine seelische Form.
Denn eigentlich liefert nur Empfindung und Gefühl Stoff. Wenn
aber die Anschauung eine bestimmte Summe der Empfindungen
ist, wie z. B. Gold und Silber zwei verschiedene bestimmte Sum-

b) Nähere Darlegung des Wesens der Vorstellung
und ihrer Entwickelung
.
§. 106.

Auf dem Punkte, wo wir hier stehen, ist allerdings die Ent-
wickelung der Sprache und des Gedankens identisch; denn wir
wollen eben zeigen, was das Denken durch das Sprechen ge-
winnt, welchen Zuwachs das Denken an Formbildung und Klar-
heit durch die Entwickelung der Sprache erhält. Die Sprache,
angesehen als instinctives Selbstbewußtsein, bildet eine Stufe in
der Entwickelung des Gedankens; und so weit diese Stufe reicht,
fällt also die Entwickelung des Denkens mit der des Sprechens
zusammen. Auch in der Zeit giebt es eine Epoche, in der Ge-
schichte des Urmenschen sowohl, wie im geistigen Wachsen des
Kindes, eine Epoche, sage ich, in welcher das Bewußtsein be-
stimmt ist als instinctives Selbstbewußtsein, und deren Wesen
darin besteht, daß die Entwickelung des Denkens Sprache ist.
In dieser Epoche löst das Bewußtsein die Aufgabe, den sämmt-
lichen gewonnenen Vorrath von Anschauungen nach und nach
durch das Wort in einen Schatz von Vorstellungen umzuwan-
deln. Dies giebt eine neue Definition der Sprache; denn sie ist
hiernach: der geistige Vorgang des Umwandelns der
Anschauung in Vorstellung
. Die Seele läßt also allmäh-
lich ihr inneres Auge auf allen einzelnen Anschauungen, die sie
erworben hat, ruhen und erhebt sie dadurch, jede einzeln, in
das instinctive Selbstbewußtsein, wodurch sie zu Vorstellungen
werden.

§. 107. Stoff und Form.

Bei diesem Wandel, der also keineswegs mit einem Schlage
zauberhaft vollbracht wird, treten nun mancherlei formale Ele-
mente hervor. Wir haben bisher nur materiale Verhältnisse
des Denkinhaltes betrachtet: die Anschauung ist für das
Denken ein gegebener Stoff und hat noch keine dem Gedan-
ken angehörende Form
. Nach einer gewissen philosophi-
schen Betrachtungsweise läßt sich wohl sagen, alles was Form
genannt werden kann, sei schon ein Erzeugniß der Seele. Das
Wesen der Anschauung an sich ist schon eine seelische Form.
Denn eigentlich liefert nur Empfindung und Gefühl Stoff. Wenn
aber die Anschauung eine bestimmte Summe der Empfindungen
ist, wie z. B. Gold und Silber zwei verschiedene bestimmte Sum-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0360" n="322"/>
            <div n="4">
              <head><hi rendition="#i">b</hi>) <hi rendition="#g">Nähere Darlegung des Wesens der Vorstellung<lb/>
und ihrer Entwickelung</hi>.</head><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 106.</head><lb/>
                <p>Auf dem Punkte, wo wir hier stehen, ist allerdings die Ent-<lb/>
wickelung der Sprache und des Gedankens identisch; denn wir<lb/>
wollen eben zeigen, was das Denken durch das Sprechen ge-<lb/>
winnt, welchen Zuwachs das Denken an Formbildung und Klar-<lb/>
heit durch die Entwickelung der Sprache erhält. Die Sprache,<lb/>
angesehen als instinctives Selbstbewußtsein, bildet eine Stufe in<lb/>
der Entwickelung des Gedankens; und so weit diese Stufe reicht,<lb/>
fällt also die Entwickelung des Denkens mit der des Sprechens<lb/>
zusammen. Auch in der Zeit giebt es eine Epoche, in der Ge-<lb/>
schichte des Urmenschen sowohl, wie im geistigen Wachsen des<lb/>
Kindes, eine Epoche, sage ich, in welcher das Bewußtsein be-<lb/>
stimmt ist als instinctives Selbstbewußtsein, und deren Wesen<lb/>
darin besteht, daß die Entwickelung des Denkens Sprache ist.<lb/>
In dieser Epoche löst das Bewußtsein die Aufgabe, den sämmt-<lb/>
lichen gewonnenen Vorrath von Anschauungen nach und nach<lb/>
durch das Wort in einen Schatz von Vorstellungen umzuwan-<lb/>
deln. Dies giebt eine neue Definition der Sprache; denn sie ist<lb/>
hiernach: <hi rendition="#g">der geistige Vorgang des Umwandelns der<lb/>
Anschauung in Vorstellung</hi>. Die Seele läßt also allmäh-<lb/>
lich ihr inneres Auge auf allen einzelnen Anschauungen, die sie<lb/>
erworben hat, ruhen und erhebt sie dadurch, jede einzeln, in<lb/>
das instinctive Selbstbewußtsein, wodurch sie zu Vorstellungen<lb/>
werden.</p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 107. Stoff und Form.</head><lb/>
                <p>Bei diesem Wandel, der also keineswegs mit einem Schlage<lb/>
zauberhaft vollbracht wird, treten nun mancherlei formale Ele-<lb/>
mente hervor. Wir haben bisher nur <hi rendition="#g">materiale</hi> Verhältnisse<lb/>
des <hi rendition="#g">Denkinhaltes</hi> betrachtet: die Anschauung ist für das<lb/>
Denken ein gegebener Stoff und hat noch keine <hi rendition="#g">dem Gedan-<lb/>
ken angehörende Form</hi>. Nach einer gewissen philosophi-<lb/>
schen Betrachtungsweise läßt sich wohl sagen, alles was Form<lb/>
genannt werden kann, sei schon ein Erzeugniß der Seele. Das<lb/>
Wesen der Anschauung an sich ist schon eine seelische Form.<lb/>
Denn eigentlich liefert nur Empfindung und Gefühl Stoff. Wenn<lb/>
aber die Anschauung eine bestimmte Summe der Empfindungen<lb/>
ist, wie z. B. Gold und Silber zwei verschiedene bestimmte Sum-<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[322/0360] b) Nähere Darlegung des Wesens der Vorstellung und ihrer Entwickelung. §. 106. Auf dem Punkte, wo wir hier stehen, ist allerdings die Ent- wickelung der Sprache und des Gedankens identisch; denn wir wollen eben zeigen, was das Denken durch das Sprechen ge- winnt, welchen Zuwachs das Denken an Formbildung und Klar- heit durch die Entwickelung der Sprache erhält. Die Sprache, angesehen als instinctives Selbstbewußtsein, bildet eine Stufe in der Entwickelung des Gedankens; und so weit diese Stufe reicht, fällt also die Entwickelung des Denkens mit der des Sprechens zusammen. Auch in der Zeit giebt es eine Epoche, in der Ge- schichte des Urmenschen sowohl, wie im geistigen Wachsen des Kindes, eine Epoche, sage ich, in welcher das Bewußtsein be- stimmt ist als instinctives Selbstbewußtsein, und deren Wesen darin besteht, daß die Entwickelung des Denkens Sprache ist. In dieser Epoche löst das Bewußtsein die Aufgabe, den sämmt- lichen gewonnenen Vorrath von Anschauungen nach und nach durch das Wort in einen Schatz von Vorstellungen umzuwan- deln. Dies giebt eine neue Definition der Sprache; denn sie ist hiernach: der geistige Vorgang des Umwandelns der Anschauung in Vorstellung. Die Seele läßt also allmäh- lich ihr inneres Auge auf allen einzelnen Anschauungen, die sie erworben hat, ruhen und erhebt sie dadurch, jede einzeln, in das instinctive Selbstbewußtsein, wodurch sie zu Vorstellungen werden. §. 107. Stoff und Form. Bei diesem Wandel, der also keineswegs mit einem Schlage zauberhaft vollbracht wird, treten nun mancherlei formale Ele- mente hervor. Wir haben bisher nur materiale Verhältnisse des Denkinhaltes betrachtet: die Anschauung ist für das Denken ein gegebener Stoff und hat noch keine dem Gedan- ken angehörende Form. Nach einer gewissen philosophi- schen Betrachtungsweise läßt sich wohl sagen, alles was Form genannt werden kann, sei schon ein Erzeugniß der Seele. Das Wesen der Anschauung an sich ist schon eine seelische Form. Denn eigentlich liefert nur Empfindung und Gefühl Stoff. Wenn aber die Anschauung eine bestimmte Summe der Empfindungen ist, wie z. B. Gold und Silber zwei verschiedene bestimmte Sum-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/360
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/360>, abgerufen am 19.04.2024.