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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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viel Eitelkeit, Unlauterkeit, falsche Schätzung des Wissens, Drei-
stigkeit des sinnlosen Plauderns!" Und der große Psychologe
merkt nicht, daß er den Mephistopheles spielt, der vom Men-
schen meint, er habe die Vernunft nur, um das unvernünftigste
Vieh zu sein. Die Sprache ist also ein nothwendiges Uebel,
unsern Gedanken "angeheftet".

Es kommt darauf an, zu erkennen, wie innig sich die Spra-
che in das Denken hineinschlingt. Das Wichtigste hierfür ha-
ben wir schon geleistet in dem, was wir über das Hervorbre-
chen der Sprache, die Entwickelung der innern Sprachform und
der Vorstellung dargethan. Denn dort haben wir das Denken
durch mehrere nothwendige Stufen seiner Entwickelung verfolgt.
Dort haben wir also schon theils geradezu die Identität, theils
die Durchdringung von Sprechen und Denken erkannt; und so
ist es für uns völlig unstatthaft, von "Ballast" und "anheften"
zu reden. Nun bricht aber die Wirksamkeit der Sprache noch
nicht ab. Durch alle Urtheile hindurch, vermittelst deren die
Anschauung zum Begriffe wird, begleitet die Sprache das Den-
ken ganz offenbar. Und diese Begleitung, die ihren Grund in
der innigsten Verschlingung hat, sollte einflußlos auf das Den-
ken bleiben? ihm rein äußerlich angeheftet werden?

§. 112. Leistung der Vorstellung.

Das Wort, sagten wir, ist die inhaltslose Beziehung des
Bewußtseins auf die Anschauung und dadurch Stützpunkt der
Seele bei der Bildung des Begriffs. Man sieht also hieraus, daß
allerdings die Vorstellung nicht eigentlich in gleicher Linie mit
Anschauung und Begriff steht; sondern wie die Wahrnehmung
auf einer ganz andern Linie, als Gefühl, Empfindung und An-
schauung, lag: so liegt auch die Vorstellung nicht auf dersel-
ben, die sich zum Begriffe verlängert. Die Vorstellung ist viel-
mehr eine Fortsetzung der Linie, auf der die Wahrnehmung
liegt.

Wahrnehmung ist die Vermittlung der leiblichen Bewe-
gungen mit der Seele, die Beziehung der Seele auf den Leib,
ohne welche kein Bewußtsein, weder von der Außenwelt, noch
von der eigenen Leiblichkeit, entsteht. Wie viele Bewegungen
gehen in unserm Leibe vor, von denen wir nichts wissen, weil
wir sie nicht wahrnehmen, d. h. weil die Seele, das Bewußtsein,
nicht darauf bezogen ist. Das Für-uns-sein oder das Bewußt-
sein der Gefühle, Empfindungen und Anschauungen wird durch

viel Eitelkeit, Unlauterkeit, falsche Schätzung des Wissens, Drei-
stigkeit des sinnlosen Plauderns!“ Und der große Psychologe
merkt nicht, daß er den Mephistopheles spielt, der vom Men-
schen meint, er habe die Vernunft nur, um das unvernünftigste
Vieh zu sein. Die Sprache ist also ein nothwendiges Uebel,
unsern Gedanken „angeheftet“.

Es kommt darauf an, zu erkennen, wie innig sich die Spra-
che in das Denken hineinschlingt. Das Wichtigste hierfür ha-
ben wir schon geleistet in dem, was wir über das Hervorbre-
chen der Sprache, die Entwickelung der innern Sprachform und
der Vorstellung dargethan. Denn dort haben wir das Denken
durch mehrere nothwendige Stufen seiner Entwickelung verfolgt.
Dort haben wir also schon theils geradezu die Identität, theils
die Durchdringung von Sprechen und Denken erkannt; und so
ist es für uns völlig unstatthaft, von „Ballast“ und „anheften“
zu reden. Nun bricht aber die Wirksamkeit der Sprache noch
nicht ab. Durch alle Urtheile hindurch, vermittelst deren die
Anschauung zum Begriffe wird, begleitet die Sprache das Den-
ken ganz offenbar. Und diese Begleitung, die ihren Grund in
der innigsten Verschlingung hat, sollte einflußlos auf das Den-
ken bleiben? ihm rein äußerlich angeheftet werden?

§. 112. Leistung der Vorstellung.

Das Wort, sagten wir, ist die inhaltslose Beziehung des
Bewußtseins auf die Anschauung und dadurch Stützpunkt der
Seele bei der Bildung des Begriffs. Man sieht also hieraus, daß
allerdings die Vorstellung nicht eigentlich in gleicher Linie mit
Anschauung und Begriff steht; sondern wie die Wahrnehmung
auf einer ganz andern Linie, als Gefühl, Empfindung und An-
schauung, lag: so liegt auch die Vorstellung nicht auf dersel-
ben, die sich zum Begriffe verlängert. Die Vorstellung ist viel-
mehr eine Fortsetzung der Linie, auf der die Wahrnehmung
liegt.

Wahrnehmung ist die Vermittlung der leiblichen Bewe-
gungen mit der Seele, die Beziehung der Seele auf den Leib,
ohne welche kein Bewußtsein, weder von der Außenwelt, noch
von der eigenen Leiblichkeit, entsteht. Wie viele Bewegungen
gehen in unserm Leibe vor, von denen wir nichts wissen, weil
wir sie nicht wahrnehmen, d. h. weil die Seele, das Bewußtsein,
nicht darauf bezogen ist. Das Für-uns-sein oder das Bewußt-
sein der Gefühle, Empfindungen und Anschauungen wird durch

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[333/0371] viel Eitelkeit, Unlauterkeit, falsche Schätzung des Wissens, Drei- stigkeit des sinnlosen Plauderns!“ Und der große Psychologe merkt nicht, daß er den Mephistopheles spielt, der vom Men- schen meint, er habe die Vernunft nur, um das unvernünftigste Vieh zu sein. Die Sprache ist also ein nothwendiges Uebel, unsern Gedanken „angeheftet“. Es kommt darauf an, zu erkennen, wie innig sich die Spra- che in das Denken hineinschlingt. Das Wichtigste hierfür ha- ben wir schon geleistet in dem, was wir über das Hervorbre- chen der Sprache, die Entwickelung der innern Sprachform und der Vorstellung dargethan. Denn dort haben wir das Denken durch mehrere nothwendige Stufen seiner Entwickelung verfolgt. Dort haben wir also schon theils geradezu die Identität, theils die Durchdringung von Sprechen und Denken erkannt; und so ist es für uns völlig unstatthaft, von „Ballast“ und „anheften“ zu reden. Nun bricht aber die Wirksamkeit der Sprache noch nicht ab. Durch alle Urtheile hindurch, vermittelst deren die Anschauung zum Begriffe wird, begleitet die Sprache das Den- ken ganz offenbar. Und diese Begleitung, die ihren Grund in der innigsten Verschlingung hat, sollte einflußlos auf das Den- ken bleiben? ihm rein äußerlich angeheftet werden? §. 112. Leistung der Vorstellung. Das Wort, sagten wir, ist die inhaltslose Beziehung des Bewußtseins auf die Anschauung und dadurch Stützpunkt der Seele bei der Bildung des Begriffs. Man sieht also hieraus, daß allerdings die Vorstellung nicht eigentlich in gleicher Linie mit Anschauung und Begriff steht; sondern wie die Wahrnehmung auf einer ganz andern Linie, als Gefühl, Empfindung und An- schauung, lag: so liegt auch die Vorstellung nicht auf dersel- ben, die sich zum Begriffe verlängert. Die Vorstellung ist viel- mehr eine Fortsetzung der Linie, auf der die Wahrnehmung liegt. Wahrnehmung ist die Vermittlung der leiblichen Bewe- gungen mit der Seele, die Beziehung der Seele auf den Leib, ohne welche kein Bewußtsein, weder von der Außenwelt, noch von der eigenen Leiblichkeit, entsteht. Wie viele Bewegungen gehen in unserm Leibe vor, von denen wir nichts wissen, weil wir sie nicht wahrnehmen, d. h. weil die Seele, das Bewußtsein, nicht darauf bezogen ist. Das Für-uns-sein oder das Bewußt- sein der Gefühle, Empfindungen und Anschauungen wird durch

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/371>, abgerufen am 28.03.2024.