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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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und Gewohnheiten, Institutionen und Thaten, Ueberlieferungen
und Gesängen: dies sind die Erzeugnisse des Volksgeistes.

§ 142. Eintheilung der Völkerpsychologie.

Die Völkerpsychologie gliedert sich in folgende Zweige:
sie ist, erstlich, analytisch, indem sie die allgemeinen Gesetze
darlegt, nach welchen die im Volksleben wirkenden Kräfte sich
entwickeln und in einander eingreifen; sie ist synthetisch, in-
dem sie aus dieser Wirkungsweise der Kräfte die einzelnen Pro-
ducte entwickelt, und dieselben als einen aus vielfachen Organen
und Functionen zusammengesetzten Organismus betrachtet, und
zwar zunächst als einen auf sich fest beruhenden und in seiner
Constitution beharrenden, dann aber auch als sich in einem ge-
schichtlichen Leben entwickelnd; sie ist endlich psychische
Ethnologie,
indem sie alle Völker der Erde als ein Reich
von Volksgeistern
nach seinen individuellen Gestalten dar-
stellt.

So bildet die Völkerpsychologie die allseitige
Grundlage zur Philosophie der Geschichte
.

§. 143. Sprache und Volksgeist.

Ueberall in diesen Betrachtungen nun spielt die Erforschung
der Sprache die bedeutendste Rolle, und die Sprachwissenschaft
führt am lebendigsten in die Völkerpsychologie ein; ja, wie die
Entwickelung des allgemeinen Wesens der Sprache geradezu ein
Capitel der individuellen Psychologie ist: so ist die Erforschung
der individuellen Sprachen als eigenthümlicher Verwirklichungs-
formen der Sprache überhaupt und als besonderer einheitlicher
Systeme einer instinctiven Weltanschauung, deren jedes sein be-
sonderes Princip hat, ein Capitel aus der psychischen Ethno-
logie. Denn wenn man auch die Entstehung und Entwickelung
der Sprache überhaupt aus dem individuellen Geiste heraus zu
verfolgen hat -- wiewohl man auch hierbei schon auf den Men-
schen als ein gesellschaftliches Wesen stößt --: so fragt sich
nun, wenn man die wirkliche, geschaffene, und also sogleich in-
dividuelle Sprache betrachtet: wem gehört sie? wer hat
sie geschaffen?
Nicht das Individuum an sich; sondern das
Individuum spricht in Gesellschaft. Indem es sprechend die
Sprache schuf, ward es verstanden; folglich war das was der
Eine sprach, und wie er es sprach, schon bevor er dies gethan
hatte, eben so im Geiste des Hörenden. Der Sprechende hat
also zugleich aus seiner Seele und aus der des Hörenden die

und Gewohnheiten, Institutionen und Thaten, Ueberlieferungen
und Gesängen: dies sind die Erzeugnisse des Volksgeistes.

§ 142. Eintheilung der Völkerpsychologie.

Die Völkerpsychologie gliedert sich in folgende Zweige:
sie ist, erstlich, analytisch, indem sie die allgemeinen Gesetze
darlegt, nach welchen die im Volksleben wirkenden Kräfte sich
entwickeln und in einander eingreifen; sie ist synthetisch, in-
dem sie aus dieser Wirkungsweise der Kräfte die einzelnen Pro-
ducte entwickelt, und dieselben als einen aus vielfachen Organen
und Functionen zusammengesetzten Organismus betrachtet, und
zwar zunächst als einen auf sich fest beruhenden und in seiner
Constitution beharrenden, dann aber auch als sich in einem ge-
schichtlichen Leben entwickelnd; sie ist endlich psychische
Ethnologie,
indem sie alle Völker der Erde als ein Reich
von Volksgeistern
nach seinen individuellen Gestalten dar-
stellt.

So bildet die Völkerpsychologie die allseitige
Grundlage zur Philosophie der Geschichte
.

§. 143. Sprache und Volksgeist.

Ueberall in diesen Betrachtungen nun spielt die Erforschung
der Sprache die bedeutendste Rolle, und die Sprachwissenschaft
führt am lebendigsten in die Völkerpsychologie ein; ja, wie die
Entwickelung des allgemeinen Wesens der Sprache geradezu ein
Capitel der individuellen Psychologie ist: so ist die Erforschung
der individuellen Sprachen als eigenthümlicher Verwirklichungs-
formen der Sprache überhaupt und als besonderer einheitlicher
Systeme einer instinctiven Weltanschauung, deren jedes sein be-
sonderes Princip hat, ein Capitel aus der psychischen Ethno-
logie. Denn wenn man auch die Entstehung und Entwickelung
der Sprache überhaupt aus dem individuellen Geiste heraus zu
verfolgen hat — wiewohl man auch hierbei schon auf den Men-
schen als ein gesellschaftliches Wesen stößt —: so fragt sich
nun, wenn man die wirkliche, geschaffene, und also sogleich in-
dividuelle Sprache betrachtet: wem gehört sie? wer hat
sie geschaffen?
Nicht das Individuum an sich; sondern das
Individuum spricht in Gesellschaft. Indem es sprechend die
Sprache schuf, ward es verstanden; folglich war das was der
Eine sprach, und wie er es sprach, schon bevor er dies gethan
hatte, eben so im Geiste des Hörenden. Der Sprechende hat
also zugleich aus seiner Seele und aus der des Hörenden die

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[391/0429] und Gewohnheiten, Institutionen und Thaten, Ueberlieferungen und Gesängen: dies sind die Erzeugnisse des Volksgeistes. § 142. Eintheilung der Völkerpsychologie. Die Völkerpsychologie gliedert sich in folgende Zweige: sie ist, erstlich, analytisch, indem sie die allgemeinen Gesetze darlegt, nach welchen die im Volksleben wirkenden Kräfte sich entwickeln und in einander eingreifen; sie ist synthetisch, in- dem sie aus dieser Wirkungsweise der Kräfte die einzelnen Pro- ducte entwickelt, und dieselben als einen aus vielfachen Organen und Functionen zusammengesetzten Organismus betrachtet, und zwar zunächst als einen auf sich fest beruhenden und in seiner Constitution beharrenden, dann aber auch als sich in einem ge- schichtlichen Leben entwickelnd; sie ist endlich psychische Ethnologie, indem sie alle Völker der Erde als ein Reich von Volksgeistern nach seinen individuellen Gestalten dar- stellt. So bildet die Völkerpsychologie die allseitige Grundlage zur Philosophie der Geschichte. §. 143. Sprache und Volksgeist. Ueberall in diesen Betrachtungen nun spielt die Erforschung der Sprache die bedeutendste Rolle, und die Sprachwissenschaft führt am lebendigsten in die Völkerpsychologie ein; ja, wie die Entwickelung des allgemeinen Wesens der Sprache geradezu ein Capitel der individuellen Psychologie ist: so ist die Erforschung der individuellen Sprachen als eigenthümlicher Verwirklichungs- formen der Sprache überhaupt und als besonderer einheitlicher Systeme einer instinctiven Weltanschauung, deren jedes sein be- sonderes Princip hat, ein Capitel aus der psychischen Ethno- logie. Denn wenn man auch die Entstehung und Entwickelung der Sprache überhaupt aus dem individuellen Geiste heraus zu verfolgen hat — wiewohl man auch hierbei schon auf den Men- schen als ein gesellschaftliches Wesen stößt —: so fragt sich nun, wenn man die wirkliche, geschaffene, und also sogleich in- dividuelle Sprache betrachtet: wem gehört sie? wer hat sie geschaffen? Nicht das Individuum an sich; sondern das Individuum spricht in Gesellschaft. Indem es sprechend die Sprache schuf, ward es verstanden; folglich war das was der Eine sprach, und wie er es sprach, schon bevor er dies gethan hatte, eben so im Geiste des Hörenden. Der Sprechende hat also zugleich aus seiner Seele und aus der des Hörenden die

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/429>, abgerufen am 28.03.2024.