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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857.

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schön vor Augen, was er bildet, wie sollte er meinen,
daß reine unbeschädigte Augen es nicht sehen? Was
roth ist, ist es nicht allen roth? Was selbst der ge¬
meine Mann für schön hält, glaubt er das nicht für
alle schön? Und sollte der Künstler das wirklich
Schöne nicht für die Geweihten schön halten? Woher
käme denn sonst die Erscheinung, daß einer ein herr¬
liches Werk macht, das seine Mitwelt nicht ergreift?
Er wundert sich, weil er eines andern Glaubens war.
Es sind dies die Größten, welche ihrem Volke voran
gehen, und auf einer Höhe der Gefühle und Gedanken
stehen, zu der sie ihre Welt erst durch ihre Werke
führen müssen. Nach Jahrzehenden denkt und fühlt
man wie jene Künstler, und man begreift nicht, wie
sie konnten mißverstanden werden. Aber man hat
durch diese Künstler erst so denken und fühlen gelernt.
Daher die Erscheinung, daß gerade die größten Men¬
schen die naivsten sind. Wenn nun der früher angege¬
bene Fall möglich wäre, wenn es einen wahren Künst¬
ler gäbe, der zugleich wüßte, daß sein beabsichtigtes
Werk nie verstanden werden würde, so würde er es
doch machen, und wenn er es unterläßt, so ist er schon
gar kein Künstler mehr, sondern ein Mensch, der an
Dingen hängt, die außer der Kunst liegen. Hieher

ſchön vor Augen, was er bildet, wie ſollte er meinen,
daß reine unbeſchädigte Augen es nicht ſehen? Was
roth iſt, iſt es nicht allen roth? Was ſelbſt der ge¬
meine Mann für ſchön hält, glaubt er das nicht für
alle ſchön? Und ſollte der Künſtler das wirklich
Schöne nicht für die Geweihten ſchön halten? Woher
käme denn ſonſt die Erſcheinung, daß einer ein herr¬
liches Werk macht, das ſeine Mitwelt nicht ergreift?
Er wundert ſich, weil er eines andern Glaubens war.
Es ſind dies die Größten, welche ihrem Volke voran
gehen, und auf einer Höhe der Gefühle und Gedanken
ſtehen, zu der ſie ihre Welt erſt durch ihre Werke
führen müſſen. Nach Jahrzehenden denkt und fühlt
man wie jene Künſtler, und man begreift nicht, wie
ſie konnten mißverſtanden werden. Aber man hat
durch dieſe Künſtler erſt ſo denken und fühlen gelernt.
Daher die Erſcheinung, daß gerade die größten Men¬
ſchen die naivſten ſind. Wenn nun der früher angege¬
bene Fall möglich wäre, wenn es einen wahren Künſt¬
ler gäbe, der zugleich wüßte, daß ſein beabſichtigtes
Werk nie verſtanden werden würde, ſo würde er es
doch machen, und wenn er es unterläßt, ſo iſt er ſchon
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[86/0100] ſchön vor Augen, was er bildet, wie ſollte er meinen, daß reine unbeſchädigte Augen es nicht ſehen? Was roth iſt, iſt es nicht allen roth? Was ſelbſt der ge¬ meine Mann für ſchön hält, glaubt er das nicht für alle ſchön? Und ſollte der Künſtler das wirklich Schöne nicht für die Geweihten ſchön halten? Woher käme denn ſonſt die Erſcheinung, daß einer ein herr¬ liches Werk macht, das ſeine Mitwelt nicht ergreift? Er wundert ſich, weil er eines andern Glaubens war. Es ſind dies die Größten, welche ihrem Volke voran gehen, und auf einer Höhe der Gefühle und Gedanken ſtehen, zu der ſie ihre Welt erſt durch ihre Werke führen müſſen. Nach Jahrzehenden denkt und fühlt man wie jene Künſtler, und man begreift nicht, wie ſie konnten mißverſtanden werden. Aber man hat durch dieſe Künſtler erſt ſo denken und fühlen gelernt. Daher die Erſcheinung, daß gerade die größten Men¬ ſchen die naivſten ſind. Wenn nun der früher angege¬ bene Fall möglich wäre, wenn es einen wahren Künſt¬ ler gäbe, der zugleich wüßte, daß ſein beabſichtigtes Werk nie verſtanden werden würde, ſo würde er es doch machen, und wenn er es unterläßt, ſo iſt er ſchon gar kein Künſtler mehr, ſondern ein Menſch, der an Dingen hängt, die außer der Kunſt liegen. Hieher

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857/100>, abgerufen am 28.03.2024.