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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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jenseitig, und Du mußt streben, ganz der Mensch zu werden.
Ein eben so fruchtloses Streben, als das des Christen, ganz
seliger Geist zu werden!

Jetzt, nachdem der Liberalismus den Menschen proclamirt
hat, kann man es aussprechen, daß damit nur die letzte Con¬
sequenz des Christenthums vollzogen wurde, und daß das Chri¬
stenthum in Wahrheit sich von Haus aus keine andere Aus¬
gabe stellte, als "den Menschen", den "wahren Menschen" zu
realisiren. Daher denn die Täuschung, es lege das Christen¬
thum dem Ich einen unendlichen Werth bei, wie z.B. in der
Unsterblichkeitslehre, in der Seelsorge u. s. w. an den Tag
kommt. Nein, diesen Werth ertheilt es allein dem Menschen.
Nur der Mensch ist unsterblich, und nur, weil Ich Mensch
bin, bin auch Ich's. In der That mußte das Christenthum
lehren, daß Keiner verloren gehe, wie eben auch der Liberalis¬
mus Alle als Menschen gleichgestellt; aber jene Ewigkeit, wie
diese Gleichheit, betraf nur den Menschen in Mir, nicht
Mich. Nur als der Träger und Beherberger des Menschen
sterbe Ich nicht, wie bekanntlich "der König nicht stirbt".
Ludwig stirbt, aber der König bleibt; Ich sterbe, aber mein
Geist, der Mensch, bleibt. Um nun Mich ganz mit dem
Menschen zu identificiren, hat man die Forderung erfunden und
gestellt: Ich müsse ein "wirkliches Gattungswesen" werden. *)

Die menschliche Religion ist nur die letzte Meta¬
morphose der christlichen Religion. Denn Religion ist der Li¬
beralismus darum, weil er mein Wesen von Mir trennt und
über Mich stellt, weil er "den Menschen" in demselben Maaße
erhöht, wie irgend eine andere Religion ihren Gott oder Götzen,

*) Z. B. Marx in den deutsch-franz. Jahrbb. S. 197.

jenſeitig, und Du mußt ſtreben, ganz der Menſch zu werden.
Ein eben ſo fruchtloſes Streben, als das des Chriſten, ganz
ſeliger Geiſt zu werden!

Jetzt, nachdem der Liberalismus den Menſchen proclamirt
hat, kann man es ausſprechen, daß damit nur die letzte Con¬
ſequenz des Chriſtenthums vollzogen wurde, und daß das Chri¬
ſtenthum in Wahrheit ſich von Haus aus keine andere Aus¬
gabe ſtellte, als „den Menſchen“, den „wahren Menſchen“ zu
realiſiren. Daher denn die Täuſchung, es lege das Chriſten¬
thum dem Ich einen unendlichen Werth bei, wie z.B. in der
Unſterblichkeitslehre, in der Seelſorge u. ſ. w. an den Tag
kommt. Nein, dieſen Werth ertheilt es allein dem Menſchen.
Nur der Menſch iſt unſterblich, und nur, weil Ich Menſch
bin, bin auch Ich's. In der That mußte das Chriſtenthum
lehren, daß Keiner verloren gehe, wie eben auch der Liberalis¬
mus Alle als Menſchen gleichgeſtellt; aber jene Ewigkeit, wie
dieſe Gleichheit, betraf nur den Menſchen in Mir, nicht
Mich. Nur als der Träger und Beherberger des Menſchen
ſterbe Ich nicht, wie bekanntlich „der König nicht ſtirbt“.
Ludwig ſtirbt, aber der König bleibt; Ich ſterbe, aber mein
Geiſt, der Menſch, bleibt. Um nun Mich ganz mit dem
Menſchen zu identificiren, hat man die Forderung erfunden und
geſtellt: Ich müſſe ein „wirkliches Gattungsweſen“ werden. *)

Die menſchliche Religion iſt nur die letzte Meta¬
morphoſe der chriſtlichen Religion. Denn Religion iſt der Li¬
beralismus darum, weil er mein Weſen von Mir trennt und
über Mich ſtellt, weil er „den Menſchen“ in demſelben Maaße
erhöht, wie irgend eine andere Religion ihren Gott oder Götzen,

*) Z. B. Marx in den deutſch-franz. Jahrbb. S. 197.
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[230/0238] jenſeitig, und Du mußt ſtreben, ganz der Menſch zu werden. Ein eben ſo fruchtloſes Streben, als das des Chriſten, ganz ſeliger Geiſt zu werden! Jetzt, nachdem der Liberalismus den Menſchen proclamirt hat, kann man es ausſprechen, daß damit nur die letzte Con¬ ſequenz des Chriſtenthums vollzogen wurde, und daß das Chri¬ ſtenthum in Wahrheit ſich von Haus aus keine andere Aus¬ gabe ſtellte, als „den Menſchen“, den „wahren Menſchen“ zu realiſiren. Daher denn die Täuſchung, es lege das Chriſten¬ thum dem Ich einen unendlichen Werth bei, wie z.B. in der Unſterblichkeitslehre, in der Seelſorge u. ſ. w. an den Tag kommt. Nein, dieſen Werth ertheilt es allein dem Menſchen. Nur der Menſch iſt unſterblich, und nur, weil Ich Menſch bin, bin auch Ich's. In der That mußte das Chriſtenthum lehren, daß Keiner verloren gehe, wie eben auch der Liberalis¬ mus Alle als Menſchen gleichgeſtellt; aber jene Ewigkeit, wie dieſe Gleichheit, betraf nur den Menſchen in Mir, nicht Mich. Nur als der Träger und Beherberger des Menſchen ſterbe Ich nicht, wie bekanntlich „der König nicht ſtirbt“. Ludwig ſtirbt, aber der König bleibt; Ich ſterbe, aber mein Geiſt, der Menſch, bleibt. Um nun Mich ganz mit dem Menſchen zu identificiren, hat man die Forderung erfunden und geſtellt: Ich müſſe ein „wirkliches Gattungsweſen“ werden. *) Die menſchliche Religion iſt nur die letzte Meta¬ morphoſe der chriſtlichen Religion. Denn Religion iſt der Li¬ beralismus darum, weil er mein Weſen von Mir trennt und über Mich ſtellt, weil er „den Menſchen“ in demſelben Maaße erhöht, wie irgend eine andere Religion ihren Gott oder Götzen, *) Z. B. Marx in den deutſch-franz. Jahrbb. S. 197.

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/238>, abgerufen am 29.03.2024.