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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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läßt sich auch am Christenthum nachweisen, indem bis in die
die Reformation vorbereitende Zeit hinein der Verstand unter
der Herrschaft der christlichen Dogmen gefangen gehalten wurde,
im vorreformatorischen Jahrhundert aber sophistisch sich erhob
und mit allen Glaubenssätzen ein ketzerisches Spiel trieb.
Dabei hieß es denn, zumal in Italien und am römischen Hofe:
wenn nur das Herz christlich gesinnt bleibt, so mag der Ver¬
stand immerhin seine Lust genießen.

Man war längst vor der Reformation so sehr an spitzfin¬
diges "Gezänk" gewöhnt, daß der Papst und die Meisten auch
Luthers Auftreten anfänglich für ein bloßes "Mönchsgezänk"
ansahen. Der Humanismus entspricht der Sophistik, und wie
zur Zeit der Sophisten das griechische Leben in höchster Blüthe
stand (Perikleisches Zeitalter), so geschah das Glänzendste zur
Zeit des Humanismus, oder, wie man vielleicht auch sagen
könnte, des Macchiavellismus (Buchdruckerkunst, Neue Welt
u.s.w.). Das Herz war in dieser Zeit noch weit davon
entfernt, des christlichen Inhalts sich entledigen zu wollen.

Aber die Reformation machte endlich, wie Sokrates, mit
dem Herzen selber Ernst, und seitdem sind die Herzen zu¬
sehends -- unchristlicher geworden. Indem man mit Luther
anfing, sich die Sache zu Herzen zu nehmen, mußte dieser
Schritt der Reformation dahin führen, daß auch das Herz von
der schweren Last der Christlichkeit erleichtert wird. Das Herz,
von Tag zu Tag unchristlicher, verliert den Inhalt, mit welchem
es sich beschäftigt, bis zuletzt ihm nichts als die leere Herz¬
lichkeit übrig bleibt, die ganze allgemeine Menschenliebe, die
Liebe des Menschen, das Freiheitsbewußtsein, das "Selbst¬
bewußtsein".

So erst ist das Christenthum vollendet, weil es kahl, ab¬

läßt ſich auch am Chriſtenthum nachweiſen, indem bis in die
die Reformation vorbereitende Zeit hinein der Verſtand unter
der Herrſchaft der chriſtlichen Dogmen gefangen gehalten wurde,
im vorreformatoriſchen Jahrhundert aber ſophiſtiſch ſich erhob
und mit allen Glaubensſätzen ein ketzeriſches Spiel trieb.
Dabei hieß es denn, zumal in Italien und am römiſchen Hofe:
wenn nur das Herz chriſtlich geſinnt bleibt, ſo mag der Ver¬
ſtand immerhin ſeine Luſt genießen.

Man war längſt vor der Reformation ſo ſehr an ſpitzfin¬
diges „Gezänk“ gewöhnt, daß der Papſt und die Meiſten auch
Luthers Auftreten anfänglich für ein bloßes „Mönchsgezänk“
anſahen. Der Humanismus entſpricht der Sophiſtik, und wie
zur Zeit der Sophiſten das griechiſche Leben in höchſter Blüthe
ſtand (Perikleiſches Zeitalter), ſo geſchah das Glänzendſte zur
Zeit des Humanismus, oder, wie man vielleicht auch ſagen
könnte, des Macchiavellismus (Buchdruckerkunſt, Neue Welt
u.ſ.w.). Das Herz war in dieſer Zeit noch weit davon
entfernt, des chriſtlichen Inhalts ſich entledigen zu wollen.

Aber die Reformation machte endlich, wie Sokrates, mit
dem Herzen ſelber Ernſt, und ſeitdem ſind die Herzen zu¬
ſehends — unchriſtlicher geworden. Indem man mit Luther
anfing, ſich die Sache zu Herzen zu nehmen, mußte dieſer
Schritt der Reformation dahin führen, daß auch das Herz von
der ſchweren Laſt der Chriſtlichkeit erleichtert wird. Das Herz,
von Tag zu Tag unchriſtlicher, verliert den Inhalt, mit welchem
es ſich beſchäftigt, bis zuletzt ihm nichts als die leere Herz¬
lichkeit übrig bleibt, die ganze allgemeine Menſchenliebe, die
Liebe des Menſchen, das Freiheitsbewußtſein, das „Selbſt¬
bewußtſein“.

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[34/0042] läßt ſich auch am Chriſtenthum nachweiſen, indem bis in die die Reformation vorbereitende Zeit hinein der Verſtand unter der Herrſchaft der chriſtlichen Dogmen gefangen gehalten wurde, im vorreformatoriſchen Jahrhundert aber ſophiſtiſch ſich erhob und mit allen Glaubensſätzen ein ketzeriſches Spiel trieb. Dabei hieß es denn, zumal in Italien und am römiſchen Hofe: wenn nur das Herz chriſtlich geſinnt bleibt, ſo mag der Ver¬ ſtand immerhin ſeine Luſt genießen. Man war längſt vor der Reformation ſo ſehr an ſpitzfin¬ diges „Gezänk“ gewöhnt, daß der Papſt und die Meiſten auch Luthers Auftreten anfänglich für ein bloßes „Mönchsgezänk“ anſahen. Der Humanismus entſpricht der Sophiſtik, und wie zur Zeit der Sophiſten das griechiſche Leben in höchſter Blüthe ſtand (Perikleiſches Zeitalter), ſo geſchah das Glänzendſte zur Zeit des Humanismus, oder, wie man vielleicht auch ſagen könnte, des Macchiavellismus (Buchdruckerkunſt, Neue Welt u.ſ.w.). Das Herz war in dieſer Zeit noch weit davon entfernt, des chriſtlichen Inhalts ſich entledigen zu wollen. Aber die Reformation machte endlich, wie Sokrates, mit dem Herzen ſelber Ernſt, und ſeitdem ſind die Herzen zu¬ ſehends — unchriſtlicher geworden. Indem man mit Luther anfing, ſich die Sache zu Herzen zu nehmen, mußte dieſer Schritt der Reformation dahin führen, daß auch das Herz von der ſchweren Laſt der Chriſtlichkeit erleichtert wird. Das Herz, von Tag zu Tag unchriſtlicher, verliert den Inhalt, mit welchem es ſich beſchäftigt, bis zuletzt ihm nichts als die leere Herz¬ lichkeit übrig bleibt, die ganze allgemeine Menſchenliebe, die Liebe des Menſchen, das Freiheitsbewußtſein, das „Selbſt¬ bewußtſein“. So erſt iſt das Chriſtenthum vollendet, weil es kahl, ab¬

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/42>, abgerufen am 19.04.2024.