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Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Berlin, 1888.

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Manchmal hatte er eine Faust voll Kleierde
mitgebracht; dann setzte er sich neben den Alten,
der ihn jetzt gewähren ließ, und knetete bei dem
Schein der dünnen Unschlittkerze allerlei Deich-
modelle, legte sie in ein flaches Gefäß mit Wasser
und suchte darin die Ausspülung der Wellen nach-
zumachen, oder er nahm seine Schiefertafel und
zeichnete darauf das Profil der Deiche nach der
Seeseite, wie es nach seiner Meinung sein mußte.

Mit denen zu verkehren, die mit ihm auf der
Schulbank gesessen hatten, fiel ihm nicht ein; auch
schien es, als ob ihnen an dem Träumer nichts
gelegen sei. Als es wieder Winter geworden und
der Frost hereingebrochen war, wanderte er noch
weiter, wohin er früher nie gekommen, auf den
Deich hinaus, bis die unabsehbare eisbedeckte Fläche
der Watten vor ihm lag.

Im Februar bei dauerndem Frostwetter wurden
angetriebene Leichen aufgefunden; draußen am offenen
Haf auf den gefrorenen Watten hatten sie gelegen.
Ein junges Weib, die dabei gewesen war, als man
sie in das Dorf geholt hatte, stand redselig vor
dem alten Haien: "Glaubt nicht, daß sie wie
Menschen aussahen," rief sie; "nein, wie die See-

Manchmal hatte er eine Fauſt voll Kleierde
mitgebracht; dann ſetzte er ſich neben den Alten,
der ihn jetzt gewähren ließ, und knetete bei dem
Schein der dünnen Unſchlittkerze allerlei Deich-
modelle, legte ſie in ein flaches Gefäß mit Waſſer
und ſuchte darin die Ausſpülung der Wellen nach-
zumachen, oder er nahm ſeine Schiefertafel und
zeichnete darauf das Profil der Deiche nach der
Seeſeite, wie es nach ſeiner Meinung ſein mußte.

Mit denen zu verkehren, die mit ihm auf der
Schulbank geſeſſen hatten, fiel ihm nicht ein; auch
ſchien es, als ob ihnen an dem Träumer nichts
gelegen ſei. Als es wieder Winter geworden und
der Froſt hereingebrochen war, wanderte er noch
weiter, wohin er früher nie gekommen, auf den
Deich hinaus, bis die unabſehbare eisbedeckte Fläche
der Watten vor ihm lag.

Im Februar bei dauerndem Froſtwetter wurden
angetriebene Leichen aufgefunden; draußen am offenen
Haf auf den gefrorenen Watten hatten ſie gelegen.
Ein junges Weib, die dabei geweſen war, als man
ſie in das Dorf geholt hatte, ſtand redſelig vor
dem alten Haien: „Glaubt nicht, daß ſie wie
Menſchen ausſahen,” rief ſie; „nein, wie die See-

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[18/0030] Manchmal hatte er eine Fauſt voll Kleierde mitgebracht; dann ſetzte er ſich neben den Alten, der ihn jetzt gewähren ließ, und knetete bei dem Schein der dünnen Unſchlittkerze allerlei Deich- modelle, legte ſie in ein flaches Gefäß mit Waſſer und ſuchte darin die Ausſpülung der Wellen nach- zumachen, oder er nahm ſeine Schiefertafel und zeichnete darauf das Profil der Deiche nach der Seeſeite, wie es nach ſeiner Meinung ſein mußte. Mit denen zu verkehren, die mit ihm auf der Schulbank geſeſſen hatten, fiel ihm nicht ein; auch ſchien es, als ob ihnen an dem Träumer nichts gelegen ſei. Als es wieder Winter geworden und der Froſt hereingebrochen war, wanderte er noch weiter, wohin er früher nie gekommen, auf den Deich hinaus, bis die unabſehbare eisbedeckte Fläche der Watten vor ihm lag. Im Februar bei dauerndem Froſtwetter wurden angetriebene Leichen aufgefunden; draußen am offenen Haf auf den gefrorenen Watten hatten ſie gelegen. Ein junges Weib, die dabei geweſen war, als man ſie in das Dorf geholt hatte, ſtand redſelig vor dem alten Haien: „Glaubt nicht, daß ſie wie Menſchen ausſahen,” rief ſie; „nein, wie die See-

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Zitationshilfe: Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Berlin, 1888, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storm_schimmelreiter_1888/30>, abgerufen am 24.04.2024.