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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 93.
Jesu, als die Frau zu ihm tritt, bilden nach Matthäus
seine Jünger, nach Markus und Lukas drängende Volks-
massen. Nachdem nun alle drei Berichterstatter erzählt
haben, wie die Frau, ebenso schüchtern als vertrauens-
voll, von hinten herzugetreten sei und den Saum von Jesu
Gewand berührt habe, melden Markus und Lukas, sie sei
alsbald geheilt worden, Jesus aber habe das Ausgehen ei-
ner Kraft gefühlt und gefragt, wer ihn berührt habe? Als
die Jünger befremdet erwiedern, wie er denn bei so all-
gemeinem Drängen und Drücken des Volks eine einzelne
Berührung habe unterscheiden können? beharrt er nach
Lukas auf seiner Behauptung, nach Markus blickt er su-
chend um sich, die Thäterin ausfindig zu machen. Auf
dieses kommt nach beiden die Frau zitternd herbei, fällt
ihm zu Füssen und bekennt Alles, worauf er ihr die be-
ruhigende Versicherung giebt, dass ihr Glaube ihr gehol-
fen habe. Diesen complicirten Hergang hat Matthäus nicht,
sondern lässt nach der Berührung Jesum sich umschauen,
die Frau entdecken, ihr die Rettung durch ihren Glauben
verkündigen, und sofort ihre Heilung erfolgen.

Die vorgelegte Differenz ist so erheblich, dass man
sich nicht zu sehr wundern darf, wenn Storr zwei ver-
schiedene Heilungen blutflüssiger Frauen annehmen woll-
te 1). Wurde er aber hiezu noch mehr durch die bedeu-
tenderen Abweichungen bestimmt, welche in der mit vor-
liegender Heilungsgeschichte verflochtenen Erzählung von
der Auferweckung der Tochter des Jairus sich finden: so
wird es eben durch diese Verflechtung vollends unmöglich,
sich vorzustellen, dass Jesus zweimal, beidemale im Hin-
weg zur Wiederbelebung der Tochter eines jüdischen ar-
khon, eine zwölf Jahre lang mit dem Blutfluss behaftete
Frau geheilt haben solle. Wenn in Betracht dessen die
Kritik längst für die Einheit der faktischen Grundlage un-

1) Über den Zweck der evang. Gesch. und der Br. Joh. S. 351 f.

Neuntes Kapitel. §. 93.
Jesu, als die Frau zu ihm tritt, bilden nach Matthäus
seine Jünger, nach Markus und Lukas drängende Volks-
massen. Nachdem nun alle drei Berichterstatter erzählt
haben, wie die Frau, ebenso schüchtern als vertrauens-
voll, von hinten herzugetreten sei und den Saum von Jesu
Gewand berührt habe, melden Markus und Lukas, sie sei
alsbald geheilt worden, Jesus aber habe das Ausgehen ei-
ner Kraft gefühlt und gefragt, wer ihn berührt habe? Als
die Jünger befremdet erwiedern, wie er denn bei so all-
gemeinem Drängen und Drücken des Volks eine einzelne
Berührung habe unterscheiden können? beharrt er nach
Lukas auf seiner Behauptung, nach Markus blickt er su-
chend um sich, die Thäterin ausfindig zu machen. Auf
dieses kommt nach beiden die Frau zitternd herbei, fällt
ihm zu Füſsen und bekennt Alles, worauf er ihr die be-
ruhigende Versicherung giebt, daſs ihr Glaube ihr gehol-
fen habe. Diesen complicirten Hergang hat Matthäus nicht,
sondern läſst nach der Berührung Jesum sich umschauen,
die Frau entdecken, ihr die Rettung durch ihren Glauben
verkündigen, und sofort ihre Heilung erfolgen.

Die vorgelegte Differenz ist so erheblich, daſs man
sich nicht zu sehr wundern darf, wenn Storr zwei ver-
schiedene Heilungen blutflüssiger Frauen annehmen woll-
te 1). Wurde er aber hiezu noch mehr durch die bedeu-
tenderen Abweichungen bestimmt, welche in der mit vor-
liegender Heilungsgeschichte verflochtenen Erzählung von
der Auferweckung der Tochter des Jairus sich finden: so
wird es eben durch diese Verflechtung vollends unmöglich,
sich vorzustellen, daſs Jesus zweimal, beidemale im Hin-
weg zur Wiederbelebung der Tochter eines jüdischen ἄρ-
χων, eine zwölf Jahre lang mit dem Blutfluſs behaftete
Frau geheilt haben solle. Wenn in Betracht dessen die
Kritik längst für die Einheit der faktischen Grundlage un-

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[95/0114] Neuntes Kapitel. §. 93. Jesu, als die Frau zu ihm tritt, bilden nach Matthäus seine Jünger, nach Markus und Lukas drängende Volks- massen. Nachdem nun alle drei Berichterstatter erzählt haben, wie die Frau, ebenso schüchtern als vertrauens- voll, von hinten herzugetreten sei und den Saum von Jesu Gewand berührt habe, melden Markus und Lukas, sie sei alsbald geheilt worden, Jesus aber habe das Ausgehen ei- ner Kraft gefühlt und gefragt, wer ihn berührt habe? Als die Jünger befremdet erwiedern, wie er denn bei so all- gemeinem Drängen und Drücken des Volks eine einzelne Berührung habe unterscheiden können? beharrt er nach Lukas auf seiner Behauptung, nach Markus blickt er su- chend um sich, die Thäterin ausfindig zu machen. Auf dieses kommt nach beiden die Frau zitternd herbei, fällt ihm zu Füſsen und bekennt Alles, worauf er ihr die be- ruhigende Versicherung giebt, daſs ihr Glaube ihr gehol- fen habe. Diesen complicirten Hergang hat Matthäus nicht, sondern läſst nach der Berührung Jesum sich umschauen, die Frau entdecken, ihr die Rettung durch ihren Glauben verkündigen, und sofort ihre Heilung erfolgen. Die vorgelegte Differenz ist so erheblich, daſs man sich nicht zu sehr wundern darf, wenn Storr zwei ver- schiedene Heilungen blutflüssiger Frauen annehmen woll- te 1). Wurde er aber hiezu noch mehr durch die bedeu- tenderen Abweichungen bestimmt, welche in der mit vor- liegender Heilungsgeschichte verflochtenen Erzählung von der Auferweckung der Tochter des Jairus sich finden: so wird es eben durch diese Verflechtung vollends unmöglich, sich vorzustellen, daſs Jesus zweimal, beidemale im Hin- weg zur Wiederbelebung der Tochter eines jüdischen ἄρ- χων, eine zwölf Jahre lang mit dem Blutfluſs behaftete Frau geheilt haben solle. Wenn in Betracht dessen die Kritik längst für die Einheit der faktischen Grundlage un- 1) Über den Zweck der evang. Gesch. und der Br. Joh. S. 351 f.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/114>, abgerufen am 28.03.2024.