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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.

An diesem Beispiel lässt sich schliesslich besonders
augenscheinlich zeigen, wie die natürliche Erklärung, in-
dem sie die historische Gewissheit der Erzählungen fest-
halten will, die ideale Wahrheit derselben verliert, gegen
die Form den Inhalt aufgiebt: wogegen die mythische durch
Aufopferung des geschichtlichen Leibes solcher Erzählun-
gen doch die Idee derselben, welche ihr Geist und ihre
Seele ist, erhält und rettet. War nämlich der natürlichen
Erklärung zufolge der Lichtglanz um Jesum ein zufälliges
optisches Phänomen, und die beiden Erschienenen entwe-
der Traumbilder oder unbekannte Menschen: wo bleibt
da die Bedeutung der Begebenheit? wo ein Grund, eine
solche ideenlose, gehaltleere, auf gemeiner Täuschung und
Aberglauben beruhende Anekdote in die Evangelien aufzu-
nehmen? Dagegen, wenn ich nach der mythischen Auffas-
sung in dem evangelischen Berichte zwar keine wirkliche
Begebenheit finden kann, so behalte ich doch einen Sinn
und Inhalt der Erzählung, weiss, was die erste Christen-
gemeinde sich bei derselben gedacht, und warum die Ver-
fasser der Evangelien ihr eine so wichtige Stelle in ihren
Denkschriften eingeräumt haben 17).

§. 104.
Abweichende Nachrichten über die lezte Reise Jesu nach Jerusalem.

Bald nach der Verklärung auf dem Berge lassen die
Evangelisten Jesum die verhängnissvolle Reise antreten,

17) Auch Plato im Symposion (p. 223. B. ff. Steph.) verherrlicht
seinen Sokrates dadurch, dass er auf natürlichem und ko-
mischem Grunde eine ähnliche Gruppe veranstaltet, wie die
Evangelisten hier auf tragischem und übernatürlichem. Nach
einem Trinkgelage überwacht Sokrates die Freunde, welche
schlafend um ihn liegen: wie hier die Jünger um den Herrn;
mit Sokrates wachen nur noch zwei grossartige Gestalten,
der tragische Dichter und der komische, die beiden Elemen-
te des früheren griechischen Lebens, welche Sokrates in sich
Zweiter Abschnitt.

An diesem Beispiel läſst sich schlieſslich besonders
augenscheinlich zeigen, wie die natürliche Erklärung, in-
dem sie die historische Gewiſsheit der Erzählungen fest-
halten will, die ideale Wahrheit derselben verliert, gegen
die Form den Inhalt aufgiebt: wogegen die mythische durch
Aufopferung des geschichtlichen Leibes solcher Erzählun-
gen doch die Idee derselben, welche ihr Geist und ihre
Seele ist, erhält und rettet. War nämlich der natürlichen
Erklärung zufolge der Lichtglanz um Jesum ein zufälliges
optisches Phänomen, und die beiden Erschienenen entwe-
der Traumbilder oder unbekannte Menschen: wo bleibt
da die Bedeutung der Begebenheit? wo ein Grund, eine
solche ideenlose, gehaltleere, auf gemeiner Täuschung und
Aberglauben beruhende Anekdote in die Evangelien aufzu-
nehmen? Dagegen, wenn ich nach der mythischen Auffas-
sung in dem evangelischen Berichte zwar keine wirkliche
Begebenheit finden kann, so behalte ich doch einen Sinn
und Inhalt der Erzählung, weiſs, was die erste Christen-
gemeinde sich bei derselben gedacht, und warum die Ver-
fasser der Evangelien ihr eine so wichtige Stelle in ihren
Denkschriften eingeräumt haben 17).

§. 104.
Abweichende Nachrichten über die lezte Reise Jesu nach Jerusalem.

Bald nach der Verklärung auf dem Berge lassen die
Evangelisten Jesum die verhängniſsvolle Reise antreten,

17) Auch Plato im Symposion (p. 223. B. ff. Steph.) verherrlicht
seinen Sokrates dadurch, dass er auf natürlichem und ko-
mischem Grunde eine ähnliche Gruppe veranstaltet, wie die
Evangelisten hier auf tragischem und übernatürlichem. Nach
einem Trinkgelage überwacht Sokrates die Freunde, welche
schlafend um ihn liegen: wie hier die Jünger um den Herrn;
mit Sokrates wachen nur noch zwei grossartige Gestalten,
der tragische Dichter und der komische, die beiden Elemen-
te des früheren griechischen Lebens, welche Sokrates in sich
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[274/0293] Zweiter Abschnitt. An diesem Beispiel läſst sich schlieſslich besonders augenscheinlich zeigen, wie die natürliche Erklärung, in- dem sie die historische Gewiſsheit der Erzählungen fest- halten will, die ideale Wahrheit derselben verliert, gegen die Form den Inhalt aufgiebt: wogegen die mythische durch Aufopferung des geschichtlichen Leibes solcher Erzählun- gen doch die Idee derselben, welche ihr Geist und ihre Seele ist, erhält und rettet. War nämlich der natürlichen Erklärung zufolge der Lichtglanz um Jesum ein zufälliges optisches Phänomen, und die beiden Erschienenen entwe- der Traumbilder oder unbekannte Menschen: wo bleibt da die Bedeutung der Begebenheit? wo ein Grund, eine solche ideenlose, gehaltleere, auf gemeiner Täuschung und Aberglauben beruhende Anekdote in die Evangelien aufzu- nehmen? Dagegen, wenn ich nach der mythischen Auffas- sung in dem evangelischen Berichte zwar keine wirkliche Begebenheit finden kann, so behalte ich doch einen Sinn und Inhalt der Erzählung, weiſs, was die erste Christen- gemeinde sich bei derselben gedacht, und warum die Ver- fasser der Evangelien ihr eine so wichtige Stelle in ihren Denkschriften eingeräumt haben 17). §. 104. Abweichende Nachrichten über die lezte Reise Jesu nach Jerusalem. Bald nach der Verklärung auf dem Berge lassen die Evangelisten Jesum die verhängniſsvolle Reise antreten, 17) Auch Plato im Symposion (p. 223. B. ff. Steph.) verherrlicht seinen Sokrates dadurch, dass er auf natürlichem und ko- mischem Grunde eine ähnliche Gruppe veranstaltet, wie die Evangelisten hier auf tragischem und übernatürlichem. Nach einem Trinkgelage überwacht Sokrates die Freunde, welche schlafend um ihn liegen: wie hier die Jünger um den Herrn; mit Sokrates wachen nur noch zwei grossartige Gestalten, der tragische Dichter und der komische, die beiden Elemen- te des früheren griechischen Lebens, welche Sokrates in sich

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/293>, abgerufen am 29.03.2024.