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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Schlussabhandlung. §. 146.
§. 146.
Die speculative Christologie.

Schon Kant hatte gesagt, das gute Princip sei nicht
bloss zu einer gewissen Zeit, sondern vom Ursprung
des menschlichen Geschlechts an unsichtbarerweise vom
Himmel in die Menschheit herabgekommen und Schel-
ling
stellte den Saz auf: die Menschwerdung Gottes
ist eine Menschwerdung von Ewigkeit 1). Aber wäh-
rend der erstere unter jenem Ausdruck nur die morali-
sche Anlage verstanden hatte, welche mit ihrem Ideal und
ihrem Sollen von jeher dem Menschen eingepflanzt gewe-
sen sei: verstand der leztere unter dem menschgeworde-
nen Sohn Gottes das Endliche selbst, wie es im Menschen
zum Bewusstsein kommt, und in seinem Unterschied von
dem Unendlichen, mit dem es doch Eins ist, als ein lei-
dender und den Verhältnissen der Zeit unterworfener Gott
erscheint.

In der neuesten Philosophie ist diess weiter so aus-
geführt worden 2). Wenn Gott als Geist ausgesprochen
wird, so liegt darin, da auch der Mensch Geist ist, be-
reits, dass beide an sich nicht verschieden sind. Näher
ist in der Erkenntniss Gottes als Geistes, da der Geist we-
sentlich diess ist, in der Unterscheidung seiner von sich
identisch mit sich zu bleiben, im Andern seiner sich selbst
zu haben, diess enthalten, dass Gott nicht als sprödes
Unendliche ausser und über dem Endlichen verharrt, son-
dern in dasselbe eingeht, die Endlichkeit, die Natur und
den menschlichen Geist, nur als seine Entäusserung sezt,
aus der er ebenso ewig wieder in die Einheit mit sich

1) Vorlesungen über die Methode des academischen Studium,
S. 192.
2) Hegel's Phänomenologie des Geistes, S. 561 ff.; desselben Vor-
lesungen über die Philos. der Relig. 2, S. 234 ff. Marhei-
neke
, Grundlehren der christl. Dogmatik, S. 174 ff. Rosen-
kranz
, Encyklopädie der theol. Wissenschaften, S. 38 ff. 148 ff.
Schluſsabhandlung. §. 146.
§. 146.
Die speculative Christologie.

Schon Kant hatte gesagt, das gute Princip sei nicht
bloſs zu einer gewissen Zeit, sondern vom Ursprung
des menschlichen Geschlechts an unsichtbarerweise vom
Himmel in die Menschheit herabgekommen und Schel-
ling
stellte den Saz auf: die Menschwerdung Gottes
ist eine Menschwerdung von Ewigkeit 1). Aber wäh-
rend der erstere unter jenem Ausdruck nur die morali-
sche Anlage verstanden hatte, welche mit ihrem Ideal und
ihrem Sollen von jeher dem Menschen eingepflanzt gewe-
sen sei: verstand der leztere unter dem menschgeworde-
nen Sohn Gottes das Endliche selbst, wie es im Menschen
zum Bewuſstsein kommt, und in seinem Unterschied von
dem Unendlichen, mit dem es doch Eins ist, als ein lei-
dender und den Verhältnissen der Zeit unterworfener Gott
erscheint.

In der neuesten Philosophie ist dieſs weiter so aus-
geführt worden 2). Wenn Gott als Geist ausgesprochen
wird, so liegt darin, da auch der Mensch Geist ist, be-
reits, daſs beide an sich nicht verschieden sind. Näher
ist in der Erkenntniſs Gottes als Geistes, da der Geist we-
sentlich dieſs ist, in der Unterscheidung seiner von sich
identisch mit sich zu bleiben, im Andern seiner sich selbst
zu haben, dieſs enthalten, daſs Gott nicht als sprödes
Unendliche ausser und über dem Endlichen verharrt, son-
dern in dasselbe eingeht, die Endlichkeit, die Natur und
den menschlichen Geist, nur als seine Entäusserung sezt,
aus der er ebenso ewig wieder in die Einheit mit sich

1) Vorlesungen über die Methode des academischen Studium,
S. 192.
2) Hegel's Phänomenologie des Geistes, S. 561 ff.; desselben Vor-
lesungen über die Philos. der Relig. 2, S. 234 ff. Marhei-
neke
, Grundlehren der christl. Dogmatik, S. 174 ff. Rosen-
kranz
, Encyklopädie der theol. Wissenschaften, S. 38 ff. 148 ff.
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[729/0748] Schluſsabhandlung. §. 146. §. 146. Die speculative Christologie. Schon Kant hatte gesagt, das gute Princip sei nicht bloſs zu einer gewissen Zeit, sondern vom Ursprung des menschlichen Geschlechts an unsichtbarerweise vom Himmel in die Menschheit herabgekommen und Schel- ling stellte den Saz auf: die Menschwerdung Gottes ist eine Menschwerdung von Ewigkeit 1). Aber wäh- rend der erstere unter jenem Ausdruck nur die morali- sche Anlage verstanden hatte, welche mit ihrem Ideal und ihrem Sollen von jeher dem Menschen eingepflanzt gewe- sen sei: verstand der leztere unter dem menschgeworde- nen Sohn Gottes das Endliche selbst, wie es im Menschen zum Bewuſstsein kommt, und in seinem Unterschied von dem Unendlichen, mit dem es doch Eins ist, als ein lei- dender und den Verhältnissen der Zeit unterworfener Gott erscheint. In der neuesten Philosophie ist dieſs weiter so aus- geführt worden 2). Wenn Gott als Geist ausgesprochen wird, so liegt darin, da auch der Mensch Geist ist, be- reits, daſs beide an sich nicht verschieden sind. Näher ist in der Erkenntniſs Gottes als Geistes, da der Geist we- sentlich dieſs ist, in der Unterscheidung seiner von sich identisch mit sich zu bleiben, im Andern seiner sich selbst zu haben, dieſs enthalten, daſs Gott nicht als sprödes Unendliche ausser und über dem Endlichen verharrt, son- dern in dasselbe eingeht, die Endlichkeit, die Natur und den menschlichen Geist, nur als seine Entäusserung sezt, aus der er ebenso ewig wieder in die Einheit mit sich 1) Vorlesungen über die Methode des academischen Studium, S. 192. 2) Hegel's Phänomenologie des Geistes, S. 561 ff.; desselben Vor- lesungen über die Philos. der Relig. 2, S. 234 ff. Marhei- neke, Grundlehren der christl. Dogmatik, S. 174 ff. Rosen- kranz, Encyklopädie der theol. Wissenschaften, S. 38 ff. 148 ff.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 729. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/748>, abgerufen am 19.04.2024.