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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Leb
den Alten am seltensten findet. So ist auch ihre Jn-
strumentalmusik, und eben dieser Geschmak des Leb-
haften findet sich auch in ihren zeichnenden Künsten.

Der Mensch ist nie lebhafter, als im Zorn und
in der Freude; deswegen auch die Lebhaftigkeit der
Gedanken und des Ausdruks sich am besten zu die-
sen beyden Leidenschaften schiken. Jn der Rache
kommen bisweilen beyde zusammen, und alsdenn ent-
steht eine sehr große Lebhaftigkeit, wovon wir in
folgender Stelle des Horaz ein schönes Beyspiel
haben:

Audivere Lyce, DI mea vota; DI
Audivere Lyce: fis anus, et tamen
Vis formosa videri.
(*)

Die Werke des Geschmaks, deren Hauptcharakter
Lebhaftigkeit ist, können den Nutzen haben, träge,
kalte, auch zu ernsthafte Gemüther etwas zu ermun-
tern. Vorzüglich können lebhafte Lieder mit guten
Melodien diese Würkung thun. Es würde in man-
chem Fall für die Erziehung der Jugend vortheil-
haft seyn, wenn man unter den gangbaren Werken
der Dichtkunst eine Anzahl solcher Lieder hätte, da-
von man zur Ermunterung der Gemüther, denen
es an Lebhaftigkeit fehlet, Gebrauch machen könnte.
Alles Scherzhafte, darin wahre Lebhaftigkeit herrscht,
wenn nur sonst nichts, das den guten Geschmak be-
leidiget, darin ist, kann zu diesem Behuf angewen-
det werden.

Lehrende Rede.

Eine der drey Hauptgatrungen der Rede (*), bey
welcher es darauf ankommt, daß gewisse Begriffe,
Urtheile, oder Meinungen in dem Verstande des Zu-
hörers festgesezt und würksam werden. Der Philo-
soph könnte denselben Stoff bearbeiten, den der
Redner gewählt hat; beyde würden die Absicht ha-
ben, ihre Begriffe, Urtheile oder Schlüsse, dem Zu-
hörer beyzubringen: aber in ihrer Art zu verfahren
würde sich ein merklicher Unterschied zeigen, den wir
hier näher zu betrachten haben. Der große Beyfall,
den die Wolfische Philosophie mit Recht in Deutsch-
land gefunden, hat der Beredsamkeit in Absicht auf
den lehrenden Vortrag merklichen Schaden gethan;
indem verschiedene Redner und Schrifisteller den
genauen philosophischen Vortrag auch in die Bered-
samkeit haben einführen wollen, die ihn gar nicht
verträgt. Man hörte Reden, darin alles beynahe
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Leh
mit euklidischer Trokenheit erkläret, oder bewiesen
wurd; und es gewann das Ansehen, daß die wahre
Beredsamkeit in Absicht auf den lehrenden Vortrag,
völlig würde verloren gehen. Seit zwanzig Jahren
ist man zwar von diesem verkehrten Geschmak ziem-
lich zurükgekommen; indessen wird es nicht ohne
Nuzen seyn, wenn wir hier den eigentlichen Unter-
schied zwischen dem philosophischen und rednerischen
Vortrag, mit einiger Genauigkeit bestimmen.

Der Philosoph arbeitet auf deutliche Erkenntnis,
und so ungezweifelte Gewißheit, daß der Geist die
völlige Unmöglichkeit sich das Gegentheil der erwie-
senen Säze vorzustellen, empfindet. Zu dieser Ge-
wißheit gelanget er dadurch, daß er alle Begriffe,
die in den Urtheilen zum Grunde gelegt werden,
deutlich und vollständig entwikelt, und bis auf das
Einfache derselben, das nur durch ein unmittelbares
Gefühl gefaßt wird, herabsteiget. Auf diese Weise
erkennet man zuverläßig, was wahr oder falsch ist,
und damit hat der Philosoph seinen Endzwek, der
auf das bloße Erkennen der Sache geht, erreicht.

Man hat vielfältig angemerkt, daß dieses bloße
Erkennen, weiter nichts würket. Die wichtigsten
und nüzlichsten Wahrheiten können auf das deut-
lichste in dem Verstande liegen, ohne aus demselben
in das Gemüth herüber zu würken, um daselbst in
Beweggründe zu Handlungen verwandelt zu werden.
Der Philosoph richtet weiter nichts aus, als daß er,
wenn wir bereits den Vorsaz haben etwas zu thun,
uns lehret, wie wir es thun sollen, um die Absicht
zu erreichen; er zeiget uns den geradesten richtigsten
Weg, dahin zu gelangen, wohin wir zu gehen, uns
schon vorher vorgesezt haben; aber weder den Vor-
saz dahin zu gehen, noch die Kraft die nöthigen
Schritte zu thun, können wir von ihm bekommen.
Jhm haben wir blos das deutliche Sehen des Weges
zu danken.

Der Redner hat andre Absichten, und muß daher
sich auch andrer Mittel bedienen sie zuerreichen.
Sein lezter Endzwek ist, die Begriffe und Wahrhei-
ten nicht deutlich, oder gewiß, sondern kräftig und
würksam zu machen. Er bemühet sich, denselben
die höchste Klarheit, einen Glanz zu geben, der auf
die Empfindung würket. Was der Philosoph bis
auf die kleinesten Theile zergliedert, und stükweise
betrachtet, sucht der Redner im Ganzen vorzustellen,
damit alle einzele Theile zugleich würken; weil nur

diese
(*) L. IV.
13.
(*) S.
Rede.

[Spaltenumbruch]

Leb
den Alten am ſeltenſten findet. So iſt auch ihre Jn-
ſtrumentalmuſik, und eben dieſer Geſchmak des Leb-
haften findet ſich auch in ihren zeichnenden Kuͤnſten.

Der Menſch iſt nie lebhafter, als im Zorn und
in der Freude; deswegen auch die Lebhaftigkeit der
Gedanken und des Ausdruks ſich am beſten zu die-
ſen beyden Leidenſchaften ſchiken. Jn der Rache
kommen bisweilen beyde zuſammen, und alsdenn ent-
ſteht eine ſehr große Lebhaftigkeit, wovon wir in
folgender Stelle des Horaz ein ſchoͤnes Beyſpiel
haben:

Audivere Lyce, DI mea vota; DI
Audivere Lyce: fis anus, et tamen
Vis formoſa videri.
(*)

Die Werke des Geſchmaks, deren Hauptcharakter
Lebhaftigkeit iſt, koͤnnen den Nutzen haben, traͤge,
kalte, auch zu ernſthafte Gemuͤther etwas zu ermun-
tern. Vorzuͤglich koͤnnen lebhafte Lieder mit guten
Melodien dieſe Wuͤrkung thun. Es wuͤrde in man-
chem Fall fuͤr die Erziehung der Jugend vortheil-
haft ſeyn, wenn man unter den gangbaren Werken
der Dichtkunſt eine Anzahl ſolcher Lieder haͤtte, da-
von man zur Ermunterung der Gemuͤther, denen
es an Lebhaftigkeit fehlet, Gebrauch machen koͤnnte.
Alles Scherzhafte, darin wahre Lebhaftigkeit herrſcht,
wenn nur ſonſt nichts, das den guten Geſchmak be-
leidiget, darin iſt, kann zu dieſem Behuf angewen-
det werden.

Lehrende Rede.

Eine der drey Hauptgatrungen der Rede (*), bey
welcher es darauf ankommt, daß gewiſſe Begriffe,
Urtheile, oder Meinungen in dem Verſtande des Zu-
hoͤrers feſtgeſezt und wuͤrkſam werden. Der Philo-
ſoph koͤnnte denſelben Stoff bearbeiten, den der
Redner gewaͤhlt hat; beyde wuͤrden die Abſicht ha-
ben, ihre Begriffe, Urtheile oder Schluͤſſe, dem Zu-
hoͤrer beyzubringen: aber in ihrer Art zu verfahren
wuͤrde ſich ein merklicher Unterſchied zeigen, den wir
hier naͤher zu betrachten haben. Der große Beyfall,
den die Wolfiſche Philoſophie mit Recht in Deutſch-
land gefunden, hat der Beredſamkeit in Abſicht auf
den lehrenden Vortrag merklichen Schaden gethan;
indem verſchiedene Redner und Schrifiſteller den
genauen philoſophiſchen Vortrag auch in die Bered-
ſamkeit haben einfuͤhren wollen, die ihn gar nicht
vertraͤgt. Man hoͤrte Reden, darin alles beynahe
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Leh
mit euklidiſcher Trokenheit erklaͤret, oder bewieſen
wurd; und es gewann das Anſehen, daß die wahre
Beredſamkeit in Abſicht auf den lehrenden Vortrag,
voͤllig wuͤrde verloren gehen. Seit zwanzig Jahren
iſt man zwar von dieſem verkehrten Geſchmak ziem-
lich zuruͤkgekommen; indeſſen wird es nicht ohne
Nuzen ſeyn, wenn wir hier den eigentlichen Unter-
ſchied zwiſchen dem philoſophiſchen und redneriſchen
Vortrag, mit einiger Genauigkeit beſtimmen.

Der Philoſoph arbeitet auf deutliche Erkenntnis,
und ſo ungezweifelte Gewißheit, daß der Geiſt die
voͤllige Unmoͤglichkeit ſich das Gegentheil der erwie-
ſenen Saͤze vorzuſtellen, empfindet. Zu dieſer Ge-
wißheit gelanget er dadurch, daß er alle Begriffe,
die in den Urtheilen zum Grunde gelegt werden,
deutlich und vollſtaͤndig entwikelt, und bis auf das
Einfache derſelben, das nur durch ein unmittelbares
Gefuͤhl gefaßt wird, herabſteiget. Auf dieſe Weiſe
erkennet man zuverlaͤßig, was wahr oder falſch iſt,
und damit hat der Philoſoph ſeinen Endzwek, der
auf das bloße Erkennen der Sache geht, erreicht.

Man hat vielfaͤltig angemerkt, daß dieſes bloße
Erkennen, weiter nichts wuͤrket. Die wichtigſten
und nuͤzlichſten Wahrheiten koͤnnen auf das deut-
lichſte in dem Verſtande liegen, ohne aus demſelben
in das Gemuͤth heruͤber zu wuͤrken, um daſelbſt in
Beweggruͤnde zu Handlungen verwandelt zu werden.
Der Philoſoph richtet weiter nichts aus, als daß er,
wenn wir bereits den Vorſaz haben etwas zu thun,
uns lehret, wie wir es thun ſollen, um die Abſicht
zu erreichen; er zeiget uns den geradeſten richtigſten
Weg, dahin zu gelangen, wohin wir zu gehen, uns
ſchon vorher vorgeſezt haben; aber weder den Vor-
ſaz dahin zu gehen, noch die Kraft die noͤthigen
Schritte zu thun, koͤnnen wir von ihm bekommen.
Jhm haben wir blos das deutliche Sehen des Weges
zu danken.

Der Redner hat andre Abſichten, und muß daher
ſich auch andrer Mittel bedienen ſie zuerreichen.
Sein lezter Endzwek iſt, die Begriffe und Wahrhei-
ten nicht deutlich, oder gewiß, ſondern kraͤftig und
wuͤrkſam zu machen. Er bemuͤhet ſich, denſelben
die hoͤchſte Klarheit, einen Glanz zu geben, der auf
die Empfindung wuͤrket. Was der Philoſoph bis
auf die kleineſten Theile zergliedert, und ſtuͤkweiſe
betrachtet, ſucht der Redner im Ganzen vorzuſtellen,
damit alle einzele Theile zugleich wuͤrken; weil nur

dieſe
(*) L. IV.
13.
(*) S.
Rede.
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[684[666]/0101] Leb Leh den Alten am ſeltenſten findet. So iſt auch ihre Jn- ſtrumentalmuſik, und eben dieſer Geſchmak des Leb- haften findet ſich auch in ihren zeichnenden Kuͤnſten. Der Menſch iſt nie lebhafter, als im Zorn und in der Freude; deswegen auch die Lebhaftigkeit der Gedanken und des Ausdruks ſich am beſten zu die- ſen beyden Leidenſchaften ſchiken. Jn der Rache kommen bisweilen beyde zuſammen, und alsdenn ent- ſteht eine ſehr große Lebhaftigkeit, wovon wir in folgender Stelle des Horaz ein ſchoͤnes Beyſpiel haben: Audivere Lyce, DI mea vota; DI Audivere Lyce: fis anus, et tamen Vis formoſa videri. (*) Die Werke des Geſchmaks, deren Hauptcharakter Lebhaftigkeit iſt, koͤnnen den Nutzen haben, traͤge, kalte, auch zu ernſthafte Gemuͤther etwas zu ermun- tern. Vorzuͤglich koͤnnen lebhafte Lieder mit guten Melodien dieſe Wuͤrkung thun. Es wuͤrde in man- chem Fall fuͤr die Erziehung der Jugend vortheil- haft ſeyn, wenn man unter den gangbaren Werken der Dichtkunſt eine Anzahl ſolcher Lieder haͤtte, da- von man zur Ermunterung der Gemuͤther, denen es an Lebhaftigkeit fehlet, Gebrauch machen koͤnnte. Alles Scherzhafte, darin wahre Lebhaftigkeit herrſcht, wenn nur ſonſt nichts, das den guten Geſchmak be- leidiget, darin iſt, kann zu dieſem Behuf angewen- det werden. Lehrende Rede. Eine der drey Hauptgatrungen der Rede (*), bey welcher es darauf ankommt, daß gewiſſe Begriffe, Urtheile, oder Meinungen in dem Verſtande des Zu- hoͤrers feſtgeſezt und wuͤrkſam werden. Der Philo- ſoph koͤnnte denſelben Stoff bearbeiten, den der Redner gewaͤhlt hat; beyde wuͤrden die Abſicht ha- ben, ihre Begriffe, Urtheile oder Schluͤſſe, dem Zu- hoͤrer beyzubringen: aber in ihrer Art zu verfahren wuͤrde ſich ein merklicher Unterſchied zeigen, den wir hier naͤher zu betrachten haben. Der große Beyfall, den die Wolfiſche Philoſophie mit Recht in Deutſch- land gefunden, hat der Beredſamkeit in Abſicht auf den lehrenden Vortrag merklichen Schaden gethan; indem verſchiedene Redner und Schrifiſteller den genauen philoſophiſchen Vortrag auch in die Bered- ſamkeit haben einfuͤhren wollen, die ihn gar nicht vertraͤgt. Man hoͤrte Reden, darin alles beynahe mit euklidiſcher Trokenheit erklaͤret, oder bewieſen wurd; und es gewann das Anſehen, daß die wahre Beredſamkeit in Abſicht auf den lehrenden Vortrag, voͤllig wuͤrde verloren gehen. Seit zwanzig Jahren iſt man zwar von dieſem verkehrten Geſchmak ziem- lich zuruͤkgekommen; indeſſen wird es nicht ohne Nuzen ſeyn, wenn wir hier den eigentlichen Unter- ſchied zwiſchen dem philoſophiſchen und redneriſchen Vortrag, mit einiger Genauigkeit beſtimmen. Der Philoſoph arbeitet auf deutliche Erkenntnis, und ſo ungezweifelte Gewißheit, daß der Geiſt die voͤllige Unmoͤglichkeit ſich das Gegentheil der erwie- ſenen Saͤze vorzuſtellen, empfindet. Zu dieſer Ge- wißheit gelanget er dadurch, daß er alle Begriffe, die in den Urtheilen zum Grunde gelegt werden, deutlich und vollſtaͤndig entwikelt, und bis auf das Einfache derſelben, das nur durch ein unmittelbares Gefuͤhl gefaßt wird, herabſteiget. Auf dieſe Weiſe erkennet man zuverlaͤßig, was wahr oder falſch iſt, und damit hat der Philoſoph ſeinen Endzwek, der auf das bloße Erkennen der Sache geht, erreicht. Man hat vielfaͤltig angemerkt, daß dieſes bloße Erkennen, weiter nichts wuͤrket. Die wichtigſten und nuͤzlichſten Wahrheiten koͤnnen auf das deut- lichſte in dem Verſtande liegen, ohne aus demſelben in das Gemuͤth heruͤber zu wuͤrken, um daſelbſt in Beweggruͤnde zu Handlungen verwandelt zu werden. Der Philoſoph richtet weiter nichts aus, als daß er, wenn wir bereits den Vorſaz haben etwas zu thun, uns lehret, wie wir es thun ſollen, um die Abſicht zu erreichen; er zeiget uns den geradeſten richtigſten Weg, dahin zu gelangen, wohin wir zu gehen, uns ſchon vorher vorgeſezt haben; aber weder den Vor- ſaz dahin zu gehen, noch die Kraft die noͤthigen Schritte zu thun, koͤnnen wir von ihm bekommen. Jhm haben wir blos das deutliche Sehen des Weges zu danken. Der Redner hat andre Abſichten, und muß daher ſich auch andrer Mittel bedienen ſie zuerreichen. Sein lezter Endzwek iſt, die Begriffe und Wahrhei- ten nicht deutlich, oder gewiß, ſondern kraͤftig und wuͤrkſam zu machen. Er bemuͤhet ſich, denſelben die hoͤchſte Klarheit, einen Glanz zu geben, der auf die Empfindung wuͤrket. Was der Philoſoph bis auf die kleineſten Theile zergliedert, und ſtuͤkweiſe betrachtet, ſucht der Redner im Ganzen vorzuſtellen, damit alle einzele Theile zugleich wuͤrken; weil nur dieſe (*) L. IV. 13. (*) S. Rede.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 684[666]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/101>, abgerufen am 24.04.2024.