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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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M.


Machtspruch.
(Redende Künste.)

Ein Saz, der sich durch eine vorzügliche Kraft
der Wahrheit, oder durch besondere Größe aus-
zeichnet, oder auch von der Zuversichtlichkeit, womit
der Redner ihn vorträgt, Stärke oder Gewißheit
bekommt. Cicero hat die in der Rede hervorstechen-
den Gedanken Lichter, lumina Orationis genennt;
die Machtsprüche könnten Blize fulgura Orationis
genennt werden. Von dieser Art ist der Ausspruch
des Stoikers Hierokles: die Wollust für den lezten
Endzwek halten, ist eine Lehre für H.
- - - (*)
Diese wenigen Worte zeigen uns die Lehre der aus-
gearteten Epicuräer (+) in einem Lichte, das uns
ihre völlige Falschheit und Niederträchtigkeit an-
schauend erkennen läßt. Von dieser Art ist auch
das Wort des Philosophen Bias: als einige nichts-
würdige Kerle, mit denen er sich auf der See be-
fand, bey entstandenem Sturm zu beten anfingen,
ruft er ihnen zu: Schweigt ihr! damit die Götter
nicht merken, daß ihr da seyd.
(*)

Der Charakter der Machtsprüche besteht demnach
in Wahrheit, oder Größe, mit ungemeiner Kürze
und Nachdruk verbunden. Sie bewürken ohne
Veranstaltung, Ueberzeugung und Bewundrung,
und man fühlt sich dabey so mächtig ergriffen, daß
man nicht anders denken, oder empfinden kann.
Sie gehören deswegen unter die höchsten und wich-
tigsten Schönheiten der Beredsamkeit und Dichtkunst,
weil sie wichtige und zugleich dauerhafte Eindrüke
machen. Was man erst durch langes Nachdenken
würde erkennet, oder nach langem Bestreben würde
gefühlt haben, kommt uns dabey plözlich, und wie
durch ein Wunderwerk in das Gemüth. Sie sind
als kostbare Juweelen anzusehen, sowol durch den
Glanz ihrer Schönheit, als durch innerlichen Werth,
höchst schäzbar.

Man sieht wol ein, daß nur die größten Geister
fähig sind, solche Machtsprüche zu thun; Köpfe de-
nen nach langem und gründlichem Nachdenken die
[Spaltenumbruch] wichtigsten sittlichen Wahrheiten in der höchsten Klar-
heit so geläufig worden, daß sie dieselben mit dem
vollesten Nachdruk auf die einfacheste und kürzeste
Art sagen können; Seelen die durch lange Uebung
ihrer sittlichen Kräfte, sie zu einer Höhe gebracht
haben, wo ihnen leicht wird, was andern starke An-
strengung kostete.

Wenn der Redner ein Mann von Ansehen ist,
für dessen Denkungsart wir zum voraus eingenom-
men sind, so hat ein Machtspruch, dessen Wahrheit
wir nicht einsehen, in seinem Munde die Kraft uns
zu überreden. Die Denker selbst unterstehen sich
kaum an den Aussprüchen, die große Männer mit
völlig zuversichtlichem und entscheidendem Ton vor-
tragen, zu zweifeln; aber für andre, selber wenig
denkende Köpfe, macht das Vorurtheil des Ansehens,
sie völlig zu unzweifelhaften Wahrheiten. Ein sol-
cher Mann därf nur, um alle seine Zuhörer von
einer gewissen Classe plözlich gegen eine Meinung ein-
zunehmen, ihrer mit Verachtung erwähnen. Wenn
er z. B. einen Saz etwa so anfienge: Es hat Nar-
ren gegeben, die dieses, oder das geglaubt haben;

so kann sicher seyn, daß der größte Theil seiner Zu-
hörer sich nun nicht getraut, diese Sache zu glau-
ben. Solche Machtsprüche gehören unter die Kunst-
griffe zur Ueberredung. Hingegen werden sie auch
den denkenden Köpfen, wenn der Redner selbst ein
Mann von zweifelhaftem Ansehen ist, nur lächer-
lich. Darum sollen junge Redner und Schriftstel-
ler, deren Ansehen noch nicht feste gesezt ist, für-
nehmlich in Sachen, die noch einigem Zweifel unter-
worfen, sich solcher Machtsprüche, wodurch sie we-
gen ihres geringen Ansehens mehr verderben, als
gut machen würden, sich sorgfältig enthalten.

Mahlerey Mahlerkunst.

Diese so durchgehends gefallende und angenehme
Kunst scheinet auf den ersten Blik blos für die Be-
lustigung des Auges und für sanftes Ergözen zu ar-
beiten; aber eine überlegtere Betrachtung zeiget sie

uns
(*) edone
telos por-
nes dogma.
S. Aul.
Gell. Noct.
L. IX. c.
5.
(+) [Spaltenumbruch] Der Ausgearteten; denn Epicur war ein wahrer
Philosoph, der so niedrig nicht dachte, wie seine späthe-
[Spaltenumbruch] ren Nachfolger, die den wahren Geist seiner Lehre nicht
zu fassen vermochten.
(*) Diog.
Laert.
M.


Machtſpruch.
(Redende Kuͤnſte.)

Ein Saz, der ſich durch eine vorzuͤgliche Kraft
der Wahrheit, oder durch beſondere Groͤße aus-
zeichnet, oder auch von der Zuverſichtlichkeit, womit
der Redner ihn vortraͤgt, Staͤrke oder Gewißheit
bekommt. Cicero hat die in der Rede hervorſtechen-
den Gedanken Lichter, lumina Orationis genennt;
die Machtſpruͤche koͤnnten Blize fulgura Orationis
genennt werden. Von dieſer Art iſt der Ausſpruch
des Stoikers Hierokles: die Wolluſt fuͤr den lezten
Endzwek halten, iſt eine Lehre fuͤr H.
‒ ‒ ‒ (*)
Dieſe wenigen Worte zeigen uns die Lehre der aus-
gearteten Epicuraͤer (†) in einem Lichte, das uns
ihre voͤllige Falſchheit und Niedertraͤchtigkeit an-
ſchauend erkennen laͤßt. Von dieſer Art iſt auch
das Wort des Philoſophen Bias: als einige nichts-
wuͤrdige Kerle, mit denen er ſich auf der See be-
fand, bey entſtandenem Sturm zu beten anfingen,
ruft er ihnen zu: Schweigt ihr! damit die Goͤtter
nicht merken, daß ihr da ſeyd.
(*)

Der Charakter der Machtſpruͤche beſteht demnach
in Wahrheit, oder Groͤße, mit ungemeiner Kuͤrze
und Nachdruk verbunden. Sie bewuͤrken ohne
Veranſtaltung, Ueberzeugung und Bewundrung,
und man fuͤhlt ſich dabey ſo maͤchtig ergriffen, daß
man nicht anders denken, oder empfinden kann.
Sie gehoͤren deswegen unter die hoͤchſten und wich-
tigſten Schoͤnheiten der Beredſamkeit und Dichtkunſt,
weil ſie wichtige und zugleich dauerhafte Eindruͤke
machen. Was man erſt durch langes Nachdenken
wuͤrde erkennet, oder nach langem Beſtreben wuͤrde
gefuͤhlt haben, kommt uns dabey ploͤzlich, und wie
durch ein Wunderwerk in das Gemuͤth. Sie ſind
als koſtbare Juweelen anzuſehen, ſowol durch den
Glanz ihrer Schoͤnheit, als durch innerlichen Werth,
hoͤchſt ſchaͤzbar.

Man ſieht wol ein, daß nur die groͤßten Geiſter
faͤhig ſind, ſolche Machtſpruͤche zu thun; Koͤpfe de-
nen nach langem und gruͤndlichem Nachdenken die
[Spaltenumbruch] wichtigſten ſittlichen Wahrheiten in der hoͤchſten Klar-
heit ſo gelaͤufig worden, daß ſie dieſelben mit dem
volleſten Nachdruk auf die einfacheſte und kuͤrzeſte
Art ſagen koͤnnen; Seelen die durch lange Uebung
ihrer ſittlichen Kraͤfte, ſie zu einer Hoͤhe gebracht
haben, wo ihnen leicht wird, was andern ſtarke An-
ſtrengung koſtete.

Wenn der Redner ein Mann von Anſehen iſt,
fuͤr deſſen Denkungsart wir zum voraus eingenom-
men ſind, ſo hat ein Machtſpruch, deſſen Wahrheit
wir nicht einſehen, in ſeinem Munde die Kraft uns
zu uͤberreden. Die Denker ſelbſt unterſtehen ſich
kaum an den Ausſpruͤchen, die große Maͤnner mit
voͤllig zuverſichtlichem und entſcheidendem Ton vor-
tragen, zu zweifeln; aber fuͤr andre, ſelber wenig
denkende Koͤpfe, macht das Vorurtheil des Anſehens,
ſie voͤllig zu unzweifelhaften Wahrheiten. Ein ſol-
cher Mann daͤrf nur, um alle ſeine Zuhoͤrer von
einer gewiſſen Claſſe ploͤzlich gegen eine Meinung ein-
zunehmen, ihrer mit Verachtung erwaͤhnen. Wenn
er z. B. einen Saz etwa ſo anfienge: Es hat Nar-
ren gegeben, die dieſes, oder das geglaubt haben;

ſo kann ſicher ſeyn, daß der groͤßte Theil ſeiner Zu-
hoͤrer ſich nun nicht getraut, dieſe Sache zu glau-
ben. Solche Machtſpruͤche gehoͤren unter die Kunſt-
griffe zur Ueberredung. Hingegen werden ſie auch
den denkenden Koͤpfen, wenn der Redner ſelbſt ein
Mann von zweifelhaftem Anſehen iſt, nur laͤcher-
lich. Darum ſollen junge Redner und Schriftſtel-
ler, deren Anſehen noch nicht feſte geſezt iſt, fuͤr-
nehmlich in Sachen, die noch einigem Zweifel unter-
worfen, ſich ſolcher Machtſpruͤche, wodurch ſie we-
gen ihres geringen Anſehens mehr verderben, als
gut machen wuͤrden, ſich ſorgfaͤltig enthalten.

Mahlerey Mahlerkunſt.

Dieſe ſo durchgehends gefallende und angenehme
Kunſt ſcheinet auf den erſten Blik blos fuͤr die Be-
luſtigung des Auges und fuͤr ſanftes Ergoͤzen zu ar-
beiten; aber eine uͤberlegtere Betrachtung zeiget ſie

uns
(*) ἡδονη
τέλος πορ-
νησ δογμα.
S. Aul.
Gell. Noct.
L. IX. c.
5.
(†) [Spaltenumbruch] Der Ausgearteten; denn Epicur war ein wahrer
Philoſoph, der ſo niedrig nicht dachte, wie ſeine ſpaͤthe-
[Spaltenumbruch] ren Nachfolger, die den wahren Geiſt ſeiner Lehre nicht
zu faſſen vermochten.
(*) Diog.
Laert.
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 729[711]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/146>, abgerufen am 25.04.2024.