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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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weilen höchst glükliche Wendungen der Gedanken
und des Ausdruks gerührt. Das Vergnügen, das
man daraus schöpfet, erweket nicht blos kahle Be-
wundrung, sondern auch ein Bestreben eben so gut
zu sprechen; und dann findet man sich geneigt, jene
Uebungen zu Entdekung des vollkommensten Aus-
druks mit sich selbst vorzunehmen.

Che ich diesen Artikel beschließe, finde ich nöthig
zu erinnern, daß das, was hier von der Wichtigkeit
der Schreibart gesagt worden, fürnehmlich von den
Werken des Geschmaks gemeinet sey. Zwar ist
eine gute Schreibart überall etwas schäzbares, aber
bey speculativen Materien und überhaupt da, wo
es blos auf Unterricht, er sey dogmatisch, oder histo-
risch, ankommt, hat die Schreibart so viel nicht auf
sich, als in Werken des Geschmaks. Doch auch bey
diesen muß man ihr keinen höhern Werth beylegen,
als sie ihrer Natur nach haben kann. Sie gehört
immer zur Form, und muß nothwendig eine Ma-
terie zum Grund haben, die mit dieser Form be-
kleidet wird. Hat die Materie selbst keinen, oder
nur einen geringen Werth, so kann die bloße Form
in den Augen der Verständigen einem Werke wol
Annehmlichkeit, aber keinen hohen Werth, keine
beträchtliche Wichtigkeit geben. Es ist damit wie
mit den Manieren und dem äußerlichen Betragen
der Menschen, die bey einem recht guten innern
Charakter von großem Werthe seyn können, aber
da, wo dieser fehlt, wenig schäzbares auf sich ha-
ben. Ob also gleich zu wünschen ist, daß man in
der deutschen Litteratur mit mehr Ernst, als gemei-
niglich geschiehet, auf die Vollkommenheit der Schreib-
art denke; so möchte ich doch nicht erleben, daß es
bey uns dahin käme, daß man, wie izt in Frank-
reich ziemlich durchgängig geschieht, bey Beurthei-
lung neuer Schriften zuerst und vorzüglich auf die
Schreibart sähe, und das Materielle des Werks wie
eine Nebensache betrachtete.

Schreken; Schreklich.
(Schöne Künste.)

Der Schreken ist eine der heftigsten und zugleich
wiedrigsten Leidenschaften, und wird durch eine plöz-
liche Gefahr, oder unversehens begegnendes schwee-
res Unglük verursachet. So lange der Schreken
selbst anhält, ist er mehr schädlich, als nüzlich;
weil er zur Ueberlegung, wie man der Gefahr ent-
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gehen, oder das Uebel vermindern könne, untüchtig
macht. Aber, da er ein lebhaftes und wiedriges
Andenken zurüke läßt, so kann er durch die Folge
fürs künftige heilsam werden. Wer je von Schre-
ken eine Zeitlang geängstiget worden ist, wird sich
hernach sehr dafür hüten, wieder in ähnliche Um-
stände zu kommen.

Daraus folget, daß die schönen Künste heilsame
Schreken verursachen können, wenn der Künstler
die Sache mit gehöriger Ueberlegung anstellt. Die
bequämste Gelegenheit dazu hat der dramatische
Dichter, der uns Handlungen und Begebenheiten
nicht blos erzählt, oder in einem Gemählde abbildet,
sondern würklich vor das Gesicht bringt. Jn eini-
gen tragischen Schauspiehlen empfindet man nicht,
wie etwa bey Erzählungen, ein bloßes Schattenbild
oder eine schwache Regung des Schrekens, sondern
geräth in die würkliche Leidenschaft, und sühlet den
Schauder eines nicht eingebildeten sondern wahren
Schrekens.

Es bedärf keiner weitläuftigen Ausführung, um
zu zeigen, wie der tragische Dichter sich des Vor-
theils, den er hat, Schreken zu erweken, zum Nu-
zen der Zuschaner bedienen soll. Ganz unschiklich
wär es, sich desselben blos zum Zeitvertreib zu
bedienen, um durch vorher gegangenen Schreken
das Gemüth blos in den Genuß der angenehmen
Empfindung zu sezen, die sich bey glüklich überstan-
dener Gefahr einfindet und eine Zeitlang dauret,
wie das Vergnüngen, das man beym Aufwachen
aus einem plagenden Traum fühlet. Verständige
Menschen wünschen sich solche Träume nicht, so an-
genehm auch das Erwachen davon ist. Dieses die-
net also dem tragischen Dichter zur Lehre, daß er
seine Zuschauer nicht mit solchen leeren Schreken un-
terhalten soll. So oft er uns in diese Leidenschaft se-
zet, muß es so geschehen, daß das Andenken derselben
uns eine nachdrükliche Warnung sey, uns vom Bö-
sen abzuhalten. So hat Aeschylus in seinen Eume-
niden die Athenienser in Schreken, für die Beängsti-
gung des bösen Gewissens, gesezt.

Der Schreken ist also für das Trauerspiehl eine
weit wichtigere Leidenschaft, als das Mitleiden, da
dieses selten so wichtig und so heilsam werden kann (*).
Und doch sehen wir zehen Trauerspiehle, die nur
Mitleiden erweken, gegen eines das Schreken macht;
weil jenes dem Dichter viel leichter wird, als dieses.
Unter der Menge der Trauerspiehldichter sind wenige,

die
(*) S.
Mitlei-
den.
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Schr
weilen hoͤchſt gluͤkliche Wendungen der Gedanken
und des Ausdruks geruͤhrt. Das Vergnuͤgen, das
man daraus ſchoͤpfet, erweket nicht blos kahle Be-
wundrung, ſondern auch ein Beſtreben eben ſo gut
zu ſprechen; und dann findet man ſich geneigt, jene
Uebungen zu Entdekung des vollkommenſten Aus-
druks mit ſich ſelbſt vorzunehmen.

Che ich dieſen Artikel beſchließe, finde ich noͤthig
zu erinnern, daß das, was hier von der Wichtigkeit
der Schreibart geſagt worden, fuͤrnehmlich von den
Werken des Geſchmaks gemeinet ſey. Zwar iſt
eine gute Schreibart uͤberall etwas ſchaͤzbares, aber
bey ſpeculativen Materien und uͤberhaupt da, wo
es blos auf Unterricht, er ſey dogmatiſch, oder hiſto-
riſch, ankommt, hat die Schreibart ſo viel nicht auf
ſich, als in Werken des Geſchmaks. Doch auch bey
dieſen muß man ihr keinen hoͤhern Werth beylegen,
als ſie ihrer Natur nach haben kann. Sie gehoͤrt
immer zur Form, und muß nothwendig eine Ma-
terie zum Grund haben, die mit dieſer Form be-
kleidet wird. Hat die Materie ſelbſt keinen, oder
nur einen geringen Werth, ſo kann die bloße Form
in den Augen der Verſtaͤndigen einem Werke wol
Annehmlichkeit, aber keinen hohen Werth, keine
betraͤchtliche Wichtigkeit geben. Es iſt damit wie
mit den Manieren und dem aͤußerlichen Betragen
der Menſchen, die bey einem recht guten innern
Charakter von großem Werthe ſeyn koͤnnen, aber
da, wo dieſer fehlt, wenig ſchaͤzbares auf ſich ha-
ben. Ob alſo gleich zu wuͤnſchen iſt, daß man in
der deutſchen Litteratur mit mehr Ernſt, als gemei-
niglich geſchiehet, auf die Vollkommenheit der Schreib-
art denke; ſo moͤchte ich doch nicht erleben, daß es
bey uns dahin kaͤme, daß man, wie izt in Frank-
reich ziemlich durchgaͤngig geſchieht, bey Beurthei-
lung neuer Schriften zuerſt und vorzuͤglich auf die
Schreibart ſaͤhe, und das Materielle des Werks wie
eine Nebenſache betrachtete.

Schreken; Schreklich.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Der Schreken iſt eine der heftigſten und zugleich
wiedrigſten Leidenſchaften, und wird durch eine ploͤz-
liche Gefahr, oder unverſehens begegnendes ſchwee-
res Ungluͤk verurſachet. So lange der Schreken
ſelbſt anhaͤlt, iſt er mehr ſchaͤdlich, als nuͤzlich;
weil er zur Ueberlegung, wie man der Gefahr ent-
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Schr
gehen, oder das Uebel vermindern koͤnne, untuͤchtig
macht. Aber, da er ein lebhaftes und wiedriges
Andenken zuruͤke laͤßt, ſo kann er durch die Folge
fuͤrs kuͤnftige heilſam werden. Wer je von Schre-
ken eine Zeitlang geaͤngſtiget worden iſt, wird ſich
hernach ſehr dafuͤr huͤten, wieder in aͤhnliche Um-
ſtaͤnde zu kommen.

Daraus folget, daß die ſchoͤnen Kuͤnſte heilſame
Schreken verurſachen koͤnnen, wenn der Kuͤnſtler
die Sache mit gehoͤriger Ueberlegung anſtellt. Die
bequaͤmſte Gelegenheit dazu hat der dramatiſche
Dichter, der uns Handlungen und Begebenheiten
nicht blos erzaͤhlt, oder in einem Gemaͤhlde abbildet,
ſondern wuͤrklich vor das Geſicht bringt. Jn eini-
gen tragiſchen Schauſpiehlen empfindet man nicht,
wie etwa bey Erzaͤhlungen, ein bloßes Schattenbild
oder eine ſchwache Regung des Schrekens, ſondern
geraͤth in die wuͤrkliche Leidenſchaft, und ſuͤhlet den
Schauder eines nicht eingebildeten ſondern wahren
Schrekens.

Es bedaͤrf keiner weitlaͤuftigen Ausfuͤhrung, um
zu zeigen, wie der tragiſche Dichter ſich des Vor-
theils, den er hat, Schreken zu erweken, zum Nu-
zen der Zuſchaner bedienen ſoll. Ganz unſchiklich
waͤr es, ſich deſſelben blos zum Zeitvertreib zu
bedienen, um durch vorher gegangenen Schreken
das Gemuͤth blos in den Genuß der angenehmen
Empfindung zu ſezen, die ſich bey gluͤklich uͤberſtan-
dener Gefahr einfindet und eine Zeitlang dauret,
wie das Vergnuͤngen, das man beym Aufwachen
aus einem plagenden Traum fuͤhlet. Verſtaͤndige
Menſchen wuͤnſchen ſich ſolche Traͤume nicht, ſo an-
genehm auch das Erwachen davon iſt. Dieſes die-
net alſo dem tragiſchen Dichter zur Lehre, daß er
ſeine Zuſchauer nicht mit ſolchen leeren Schreken un-
terhalten ſoll. So oft er uns in dieſe Leidenſchaft ſe-
zet, muß es ſo geſchehen, daß das Andenken derſelben
uns eine nachdruͤkliche Warnung ſey, uns vom Boͤ-
ſen abzuhalten. So hat Aeſchylus in ſeinen Eume-
niden die Athenienſer in Schreken, fuͤr die Beaͤngſti-
gung des boͤſen Gewiſſens, geſezt.

Der Schreken iſt alſo fuͤr das Trauerſpiehl eine
weit wichtigere Leidenſchaft, als das Mitleiden, da
dieſes ſelten ſo wichtig und ſo heilſam werden kann (*).
Und doch ſehen wir zehen Trauerſpiehle, die nur
Mitleiden erweken, gegen eines das Schreken macht;
weil jenes dem Dichter viel leichter wird, als dieſes.
Unter der Menge der Trauerſpiehldichter ſind wenige,

die
(*) S.
Mitlei-
den.
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[1055[1037]/0484] Schr Schr weilen hoͤchſt gluͤkliche Wendungen der Gedanken und des Ausdruks geruͤhrt. Das Vergnuͤgen, das man daraus ſchoͤpfet, erweket nicht blos kahle Be- wundrung, ſondern auch ein Beſtreben eben ſo gut zu ſprechen; und dann findet man ſich geneigt, jene Uebungen zu Entdekung des vollkommenſten Aus- druks mit ſich ſelbſt vorzunehmen. Che ich dieſen Artikel beſchließe, finde ich noͤthig zu erinnern, daß das, was hier von der Wichtigkeit der Schreibart geſagt worden, fuͤrnehmlich von den Werken des Geſchmaks gemeinet ſey. Zwar iſt eine gute Schreibart uͤberall etwas ſchaͤzbares, aber bey ſpeculativen Materien und uͤberhaupt da, wo es blos auf Unterricht, er ſey dogmatiſch, oder hiſto- riſch, ankommt, hat die Schreibart ſo viel nicht auf ſich, als in Werken des Geſchmaks. Doch auch bey dieſen muß man ihr keinen hoͤhern Werth beylegen, als ſie ihrer Natur nach haben kann. Sie gehoͤrt immer zur Form, und muß nothwendig eine Ma- terie zum Grund haben, die mit dieſer Form be- kleidet wird. Hat die Materie ſelbſt keinen, oder nur einen geringen Werth, ſo kann die bloße Form in den Augen der Verſtaͤndigen einem Werke wol Annehmlichkeit, aber keinen hohen Werth, keine betraͤchtliche Wichtigkeit geben. Es iſt damit wie mit den Manieren und dem aͤußerlichen Betragen der Menſchen, die bey einem recht guten innern Charakter von großem Werthe ſeyn koͤnnen, aber da, wo dieſer fehlt, wenig ſchaͤzbares auf ſich ha- ben. Ob alſo gleich zu wuͤnſchen iſt, daß man in der deutſchen Litteratur mit mehr Ernſt, als gemei- niglich geſchiehet, auf die Vollkommenheit der Schreib- art denke; ſo moͤchte ich doch nicht erleben, daß es bey uns dahin kaͤme, daß man, wie izt in Frank- reich ziemlich durchgaͤngig geſchieht, bey Beurthei- lung neuer Schriften zuerſt und vorzuͤglich auf die Schreibart ſaͤhe, und das Materielle des Werks wie eine Nebenſache betrachtete. Schreken; Schreklich. (Schoͤne Kuͤnſte.) Der Schreken iſt eine der heftigſten und zugleich wiedrigſten Leidenſchaften, und wird durch eine ploͤz- liche Gefahr, oder unverſehens begegnendes ſchwee- res Ungluͤk verurſachet. So lange der Schreken ſelbſt anhaͤlt, iſt er mehr ſchaͤdlich, als nuͤzlich; weil er zur Ueberlegung, wie man der Gefahr ent- gehen, oder das Uebel vermindern koͤnne, untuͤchtig macht. Aber, da er ein lebhaftes und wiedriges Andenken zuruͤke laͤßt, ſo kann er durch die Folge fuͤrs kuͤnftige heilſam werden. Wer je von Schre- ken eine Zeitlang geaͤngſtiget worden iſt, wird ſich hernach ſehr dafuͤr huͤten, wieder in aͤhnliche Um- ſtaͤnde zu kommen. Daraus folget, daß die ſchoͤnen Kuͤnſte heilſame Schreken verurſachen koͤnnen, wenn der Kuͤnſtler die Sache mit gehoͤriger Ueberlegung anſtellt. Die bequaͤmſte Gelegenheit dazu hat der dramatiſche Dichter, der uns Handlungen und Begebenheiten nicht blos erzaͤhlt, oder in einem Gemaͤhlde abbildet, ſondern wuͤrklich vor das Geſicht bringt. Jn eini- gen tragiſchen Schauſpiehlen empfindet man nicht, wie etwa bey Erzaͤhlungen, ein bloßes Schattenbild oder eine ſchwache Regung des Schrekens, ſondern geraͤth in die wuͤrkliche Leidenſchaft, und ſuͤhlet den Schauder eines nicht eingebildeten ſondern wahren Schrekens. Es bedaͤrf keiner weitlaͤuftigen Ausfuͤhrung, um zu zeigen, wie der tragiſche Dichter ſich des Vor- theils, den er hat, Schreken zu erweken, zum Nu- zen der Zuſchaner bedienen ſoll. Ganz unſchiklich waͤr es, ſich deſſelben blos zum Zeitvertreib zu bedienen, um durch vorher gegangenen Schreken das Gemuͤth blos in den Genuß der angenehmen Empfindung zu ſezen, die ſich bey gluͤklich uͤberſtan- dener Gefahr einfindet und eine Zeitlang dauret, wie das Vergnuͤngen, das man beym Aufwachen aus einem plagenden Traum fuͤhlet. Verſtaͤndige Menſchen wuͤnſchen ſich ſolche Traͤume nicht, ſo an- genehm auch das Erwachen davon iſt. Dieſes die- net alſo dem tragiſchen Dichter zur Lehre, daß er ſeine Zuſchauer nicht mit ſolchen leeren Schreken un- terhalten ſoll. So oft er uns in dieſe Leidenſchaft ſe- zet, muß es ſo geſchehen, daß das Andenken derſelben uns eine nachdruͤkliche Warnung ſey, uns vom Boͤ- ſen abzuhalten. So hat Aeſchylus in ſeinen Eume- niden die Athenienſer in Schreken, fuͤr die Beaͤngſti- gung des boͤſen Gewiſſens, geſezt. Der Schreken iſt alſo fuͤr das Trauerſpiehl eine weit wichtigere Leidenſchaft, als das Mitleiden, da dieſes ſelten ſo wichtig und ſo heilſam werden kann (*). Und doch ſehen wir zehen Trauerſpiehle, die nur Mitleiden erweken, gegen eines das Schreken macht; weil jenes dem Dichter viel leichter wird, als dieſes. Unter der Menge der Trauerſpiehldichter ſind wenige, die (*) S. Mitlei- den. P p p p p p 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1055[1037]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/484>, abgerufen am 25.04.2024.