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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Tan
zu bringen, sondern es auch dazu anzuwenden, daß
sie den Eindruk des Schauspiehles unterhielten, oder
auch verstärkten. Die Sache hat an sich so wenig
Schwierigkeit, daß wir nicht einmal für nöthig hal-
ten uns hier darüber einzulassen, nachdem wir an
einem andern Orte die verschiedenen Mittel dazu be-
reits vorgeschlagen haben (*).

Tanzkunst.

Daß diese Kunst eben so viel Recht habe, ihren
Rang unter den schönen Künsten zu behaupten, als
irgend eine der andern, die durchgehends hochge-
schäzt werden, ist bereits aus dem, was wir in dem
vorhergehenden Artikel angemerkt haben, klar genug.
Wer auf die ersten Gründe der Sache zurükgehen,
und überlegen will, was für erstaunliche Kraft in
der Form der menschlichen Gestalt liegt, (*) wird
leicht begreifen, was diese Form mit veränderten
Stellungen und mit Bewegung verbunden, auszu-
drüken vermag; daraus wird er den Schluß ziehen,
daß an Stärke der ästhetischen Kraft keine Kunst
die Tanzkunst übertreffen könne. Wir betrachten
sie aber nicht in dem zufälligen schlechten Zustand,
in dem sie sich gemeiniglich auf der Schaubühne zei-
get, sondern in der Würde und Hoheit, zu der sie
erhoben werden könnte. Wir sind gar nicht in Ab-
rede, daß sie fast durchgehends sich in einer Gestalt
zeige, in der sie wenig Achtung verdienet; aber eben
deswegen ist es wichtig Männer von Genie zu er-
muntern, sie aus der Erniedrigung empor zu heben.
"Es ist eine Schande, sagt ein Meister der Kunst,
daß der Tanz sich der Herrschaft über die Gemüther,
die er behaupten könnte, begeben, und blos mit der
Belustigung der Augen zufrieden seyn solle. (+)

Es würde ein eigenes Werk erfodern etwas aus-
führlich zu zeigen, wie die Kunst zu dem Werth
und der Vollkommenheit, die sie ihrer Natur nach
haben könnte, allmählig zu erhöhen sey. Ein Bal-
letmeister von wahrem Genie, wie Noverre, wird
aus dem, was wir in dem vorhergehenden Artikel
gesagt haben, sich hinlänglich überzeugen können,
daß sie einer großen Erhebung über ihre gegenwär-
tige Beschaffenheit fähig sey, zugleich aber wird er
auch das wahre Fundament entdeken, worauf er zu
bauen hat, um diese Würde allmählig zu erreichen.

[Spaltenumbruch]
Tan

Was wir von dem Einflus der Musik auf die Er-
ziehung angemerkt haben, (*) gilt auch von der
Tanzkunst, und diese muß, da sie nicht ohne Musik
seyn kann, noch gewisser würken, als die Musik al-
lein. Ungemein leicht wär es, die Kräfte der Poesie,
Musik und Tanzkunst bey der Erziehung zu vereini-
gen; weil dazu nichts erfodert würde, als daß man
nach Liedern tanzte. Sollt' es bloß leere Einbildung
seyn, es nicht nur für möglich, sondern so gar für
leicht zu halten, daß zum Behuf der Erziehung eine
Sammlung sehr nüzlicher Lieder verfertiget, in gute
rhythmische Musik gesezt, und auf jedes ein schikli-
cher und der Jugend nüzlicher Tanz verfertiget
würde, der nicht blos das Rhythmische, sondern
auch den Jnhalt des Liedes schilderte?

Diese Anwendung des Tanzens würde freylich
eine beträchtliche Reinigung der Kunst, von allen
blos zierlichen und besonders von den übertrieben
künstlichen Stellungen und Bewegungen erfodern.
Denn was allgemein seyn soll, muß auch leicht zu
lernen seyn. Man müßte mehr auf Nachdruk, als
auf das Künstliche sehen. Es hat damit eben die
Beschaffenheit, wie mit der Musik. Wer diese, auch
nur zur Ausübung so vollständig lernen wollte, daß
er die schweeresten Sachen spiehlen, oder singen
könnte, müßte den größten Theil seiner Zeit darauf
wenden. Aber dazu, daß man ein Lied und andre
leichtere Sachen gut singe, oder spiehle, kann man
gelangen, ohne etwas von dem, was sonst der künf-
tigen Lebensart halber zu lernen ist, zu versäumen.
Eben so müßte man zum Behuf der Erziehung leichte,
aber im Charakter und Ausdruk wichtige Tänze ha-
ben, die jeder, ohne Nachtheil der andern Jugend-
übungen lernen könnte.

Jn Ansehung des öffentlichen Gebrauchs dieser
Kunst, getrauen wir uns nicht die mancherley An-
wendungen, die bey verschiedenen Völkern ehedem
vom Tanzen bey sehr ernsthaften Gelegenheiten ge-
macht wurden, wieder in Vorschlag zu bringen.
Unsre Zeiten vertragen das ceremonienreiche der öf-
fentlichen Feste, das bey einer größern Einfalt des
Nationalcharakters von so großer Kraft ist, nicht.
Je weiter sich die speculative Vernunft ausbreitet,
je mehr erhebt sich der Mensch über die Sinnlichkeit:

Ob
(*) S.
Ballet.
(*) S.
Reiz;
Schönheit;
Stellung.
(+) Il est honteux que la danse renonce a l'empire qu'el-
le peut avoir sur l'Ame et qu'elle ne s'attache qu'a
[Spaltenumbruch] plaire aux yeux. Noverre lettres sur la danse.
(*) S.
Musik.

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Tan
zu bringen, ſondern es auch dazu anzuwenden, daß
ſie den Eindruk des Schauſpiehles unterhielten, oder
auch verſtaͤrkten. Die Sache hat an ſich ſo wenig
Schwierigkeit, daß wir nicht einmal fuͤr noͤthig hal-
ten uns hier daruͤber einzulaſſen, nachdem wir an
einem andern Orte die verſchiedenen Mittel dazu be-
reits vorgeſchlagen haben (*).

Tanzkunſt.

Daß dieſe Kunſt eben ſo viel Recht habe, ihren
Rang unter den ſchoͤnen Kuͤnſten zu behaupten, als
irgend eine der andern, die durchgehends hochge-
ſchaͤzt werden, iſt bereits aus dem, was wir in dem
vorhergehenden Artikel angemerkt haben, klar genug.
Wer auf die erſten Gruͤnde der Sache zuruͤkgehen,
und uͤberlegen will, was fuͤr erſtaunliche Kraft in
der Form der menſchlichen Geſtalt liegt, (*) wird
leicht begreifen, was dieſe Form mit veraͤnderten
Stellungen und mit Bewegung verbunden, auszu-
druͤken vermag; daraus wird er den Schluß ziehen,
daß an Staͤrke der aͤſthetiſchen Kraft keine Kunſt
die Tanzkunſt uͤbertreffen koͤnne. Wir betrachten
ſie aber nicht in dem zufaͤlligen ſchlechten Zuſtand,
in dem ſie ſich gemeiniglich auf der Schaubuͤhne zei-
get, ſondern in der Wuͤrde und Hoheit, zu der ſie
erhoben werden koͤnnte. Wir ſind gar nicht in Ab-
rede, daß ſie faſt durchgehends ſich in einer Geſtalt
zeige, in der ſie wenig Achtung verdienet; aber eben
deswegen iſt es wichtig Maͤnner von Genie zu er-
muntern, ſie aus der Erniedrigung empor zu heben.
„Es iſt eine Schande, ſagt ein Meiſter der Kunſt,
daß der Tanz ſich der Herrſchaft uͤber die Gemuͤther,
die er behaupten koͤnnte, begeben, und blos mit der
Beluſtigung der Augen zufrieden ſeyn ſolle. (†)

Es wuͤrde ein eigenes Werk erfodern etwas aus-
fuͤhrlich zu zeigen, wie die Kunſt zu dem Werth
und der Vollkommenheit, die ſie ihrer Natur nach
haben koͤnnte, allmaͤhlig zu erhoͤhen ſey. Ein Bal-
letmeiſter von wahrem Genie, wie Noverre, wird
aus dem, was wir in dem vorhergehenden Artikel
geſagt haben, ſich hinlaͤnglich uͤberzeugen koͤnnen,
daß ſie einer großen Erhebung uͤber ihre gegenwaͤr-
tige Beſchaffenheit faͤhig ſey, zugleich aber wird er
auch das wahre Fundament entdeken, worauf er zu
bauen hat, um dieſe Wuͤrde allmaͤhlig zu erreichen.

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Tan

Was wir von dem Einflus der Muſik auf die Er-
ziehung angemerkt haben, (*) gilt auch von der
Tanzkunſt, und dieſe muß, da ſie nicht ohne Muſik
ſeyn kann, noch gewiſſer wuͤrken, als die Muſik al-
lein. Ungemein leicht waͤr es, die Kraͤfte der Poeſie,
Muſik und Tanzkunſt bey der Erziehung zu vereini-
gen; weil dazu nichts erfodert wuͤrde, als daß man
nach Liedern tanzte. Sollt’ es bloß leere Einbildung
ſeyn, es nicht nur fuͤr moͤglich, ſondern ſo gar fuͤr
leicht zu halten, daß zum Behuf der Erziehung eine
Sammlung ſehr nuͤzlicher Lieder verfertiget, in gute
rhythmiſche Muſik geſezt, und auf jedes ein ſchikli-
cher und der Jugend nuͤzlicher Tanz verfertiget
wuͤrde, der nicht blos das Rhythmiſche, ſondern
auch den Jnhalt des Liedes ſchilderte?

Dieſe Anwendung des Tanzens wuͤrde freylich
eine betraͤchtliche Reinigung der Kunſt, von allen
blos zierlichen und beſonders von den uͤbertrieben
kuͤnſtlichen Stellungen und Bewegungen erfodern.
Denn was allgemein ſeyn ſoll, muß auch leicht zu
lernen ſeyn. Man muͤßte mehr auf Nachdruk, als
auf das Kuͤnſtliche ſehen. Es hat damit eben die
Beſchaffenheit, wie mit der Muſik. Wer dieſe, auch
nur zur Ausuͤbung ſo vollſtaͤndig lernen wollte, daß
er die ſchweereſten Sachen ſpiehlen, oder ſingen
koͤnnte, muͤßte den groͤßten Theil ſeiner Zeit darauf
wenden. Aber dazu, daß man ein Lied und andre
leichtere Sachen gut ſinge, oder ſpiehle, kann man
gelangen, ohne etwas von dem, was ſonſt der kuͤnf-
tigen Lebensart halber zu lernen iſt, zu verſaͤumen.
Eben ſo muͤßte man zum Behuf der Erziehung leichte,
aber im Charakter und Ausdruk wichtige Taͤnze ha-
ben, die jeder, ohne Nachtheil der andern Jugend-
uͤbungen lernen koͤnnte.

Jn Anſehung des oͤffentlichen Gebrauchs dieſer
Kunſt, getrauen wir uns nicht die mancherley An-
wendungen, die bey verſchiedenen Voͤlkern ehedem
vom Tanzen bey ſehr ernſthaften Gelegenheiten ge-
macht wurden, wieder in Vorſchlag zu bringen.
Unſre Zeiten vertragen das ceremonienreiche der oͤf-
fentlichen Feſte, das bey einer groͤßern Einfalt des
Nationalcharakters von ſo großer Kraft iſt, nicht.
Je weiter ſich die ſpeculative Vernunft ausbreitet,
je mehr erhebt ſich der Menſch uͤber die Sinnlichkeit:

Ob
(*) S.
Ballet.
(*) S.
Reiz;
Schoͤnheit;
Stellung.
(†) Il eſt honteux que la danſe renonce à l’empire qu’el-
le peut avoir ſur l’Ame et qu’elle ne s’attache qu’à
[Spaltenumbruch] plaire aux yeux. Noverre lettres ſur la danſe.
(*) S.
Muſik.
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[1142[1124]/0571] Tan Tan zu bringen, ſondern es auch dazu anzuwenden, daß ſie den Eindruk des Schauſpiehles unterhielten, oder auch verſtaͤrkten. Die Sache hat an ſich ſo wenig Schwierigkeit, daß wir nicht einmal fuͤr noͤthig hal- ten uns hier daruͤber einzulaſſen, nachdem wir an einem andern Orte die verſchiedenen Mittel dazu be- reits vorgeſchlagen haben (*). Tanzkunſt. Daß dieſe Kunſt eben ſo viel Recht habe, ihren Rang unter den ſchoͤnen Kuͤnſten zu behaupten, als irgend eine der andern, die durchgehends hochge- ſchaͤzt werden, iſt bereits aus dem, was wir in dem vorhergehenden Artikel angemerkt haben, klar genug. Wer auf die erſten Gruͤnde der Sache zuruͤkgehen, und uͤberlegen will, was fuͤr erſtaunliche Kraft in der Form der menſchlichen Geſtalt liegt, (*) wird leicht begreifen, was dieſe Form mit veraͤnderten Stellungen und mit Bewegung verbunden, auszu- druͤken vermag; daraus wird er den Schluß ziehen, daß an Staͤrke der aͤſthetiſchen Kraft keine Kunſt die Tanzkunſt uͤbertreffen koͤnne. Wir betrachten ſie aber nicht in dem zufaͤlligen ſchlechten Zuſtand, in dem ſie ſich gemeiniglich auf der Schaubuͤhne zei- get, ſondern in der Wuͤrde und Hoheit, zu der ſie erhoben werden koͤnnte. Wir ſind gar nicht in Ab- rede, daß ſie faſt durchgehends ſich in einer Geſtalt zeige, in der ſie wenig Achtung verdienet; aber eben deswegen iſt es wichtig Maͤnner von Genie zu er- muntern, ſie aus der Erniedrigung empor zu heben. „Es iſt eine Schande, ſagt ein Meiſter der Kunſt, daß der Tanz ſich der Herrſchaft uͤber die Gemuͤther, die er behaupten koͤnnte, begeben, und blos mit der Beluſtigung der Augen zufrieden ſeyn ſolle. (†) Es wuͤrde ein eigenes Werk erfodern etwas aus- fuͤhrlich zu zeigen, wie die Kunſt zu dem Werth und der Vollkommenheit, die ſie ihrer Natur nach haben koͤnnte, allmaͤhlig zu erhoͤhen ſey. Ein Bal- letmeiſter von wahrem Genie, wie Noverre, wird aus dem, was wir in dem vorhergehenden Artikel geſagt haben, ſich hinlaͤnglich uͤberzeugen koͤnnen, daß ſie einer großen Erhebung uͤber ihre gegenwaͤr- tige Beſchaffenheit faͤhig ſey, zugleich aber wird er auch das wahre Fundament entdeken, worauf er zu bauen hat, um dieſe Wuͤrde allmaͤhlig zu erreichen. Was wir von dem Einflus der Muſik auf die Er- ziehung angemerkt haben, (*) gilt auch von der Tanzkunſt, und dieſe muß, da ſie nicht ohne Muſik ſeyn kann, noch gewiſſer wuͤrken, als die Muſik al- lein. Ungemein leicht waͤr es, die Kraͤfte der Poeſie, Muſik und Tanzkunſt bey der Erziehung zu vereini- gen; weil dazu nichts erfodert wuͤrde, als daß man nach Liedern tanzte. Sollt’ es bloß leere Einbildung ſeyn, es nicht nur fuͤr moͤglich, ſondern ſo gar fuͤr leicht zu halten, daß zum Behuf der Erziehung eine Sammlung ſehr nuͤzlicher Lieder verfertiget, in gute rhythmiſche Muſik geſezt, und auf jedes ein ſchikli- cher und der Jugend nuͤzlicher Tanz verfertiget wuͤrde, der nicht blos das Rhythmiſche, ſondern auch den Jnhalt des Liedes ſchilderte? Dieſe Anwendung des Tanzens wuͤrde freylich eine betraͤchtliche Reinigung der Kunſt, von allen blos zierlichen und beſonders von den uͤbertrieben kuͤnſtlichen Stellungen und Bewegungen erfodern. Denn was allgemein ſeyn ſoll, muß auch leicht zu lernen ſeyn. Man muͤßte mehr auf Nachdruk, als auf das Kuͤnſtliche ſehen. Es hat damit eben die Beſchaffenheit, wie mit der Muſik. Wer dieſe, auch nur zur Ausuͤbung ſo vollſtaͤndig lernen wollte, daß er die ſchweereſten Sachen ſpiehlen, oder ſingen koͤnnte, muͤßte den groͤßten Theil ſeiner Zeit darauf wenden. Aber dazu, daß man ein Lied und andre leichtere Sachen gut ſinge, oder ſpiehle, kann man gelangen, ohne etwas von dem, was ſonſt der kuͤnf- tigen Lebensart halber zu lernen iſt, zu verſaͤumen. Eben ſo muͤßte man zum Behuf der Erziehung leichte, aber im Charakter und Ausdruk wichtige Taͤnze ha- ben, die jeder, ohne Nachtheil der andern Jugend- uͤbungen lernen koͤnnte. Jn Anſehung des oͤffentlichen Gebrauchs dieſer Kunſt, getrauen wir uns nicht die mancherley An- wendungen, die bey verſchiedenen Voͤlkern ehedem vom Tanzen bey ſehr ernſthaften Gelegenheiten ge- macht wurden, wieder in Vorſchlag zu bringen. Unſre Zeiten vertragen das ceremonienreiche der oͤf- fentlichen Feſte, das bey einer groͤßern Einfalt des Nationalcharakters von ſo großer Kraft iſt, nicht. Je weiter ſich die ſpeculative Vernunft ausbreitet, je mehr erhebt ſich der Menſch uͤber die Sinnlichkeit: Ob (*) S. Ballet. (*) S. Reiz; Schoͤnheit; Stellung. (†) Il eſt honteux que la danſe renonce à l’empire qu’el- le peut avoir ſur l’Ame et qu’elle ne s’attache qu’à plaire aux yeux. Noverre lettres ſur la danſe. (*) S. Muſik.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1142[1124]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/571>, abgerufen am 29.03.2024.