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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ver
linsolo, und die folie d'Espagne des berühmten Corelli,
als Muster angeführt zu werden.

Wir wollen hier nur noch anmerken, daß bey
Symphonien und Ouverturen, selbst die ersten Vio-
linisten sich schlechterdings aller Veränderungen ent-
halten, und sich nicht einmal durchgehende Noten zu
Ausfüllung einer Terz, erlauben sollen; weil da-
durch in dergleichen Stüken gar leicht Quinten und
Octaven entstehen. Begleitende Jnstrumentisten,
besonders die Ripienisten, sollen sich aller Verände-
rungen gänzlich enthalten.

Verbindung.
(Schöne Künste.)

Es ist eine wesentliche Eigenschaft der Werke des
Geschmaks, daß alle Theile desselben unter einander
verbunden seyn: (*) jeder darin vorkommende Theil,
der wie vom Ganzen, oder von dem, was neben
ihm liegt, abgelöset da steht, wird anstößig, weil
man nicht weiß, warum er da ist, was er soll, oder
wie er auf das vorhergehende folget. Deswe-
gen hat der Künstler bey Ersindung und Zusammen-
sezung seines Werks überall auf die Verbindung
aller Theile mit dem Ganzen, oder unter einander,
wol Acht zu haben, damit nichts außer dem Zu-
sammenhang mit dem übrigen da stehe.

Jeder Theil aber muß in einer doppelten Ver-
bindung erscheinen; er muß nämlich mit dem Gan-
zen, und mit den neben ihm liegenden Theilen ver-
bunden seyn. Das erstere hat statt, wenn ein
Grund vorhanden ist, warum er als ein Theil des
Ganzen erscheinet; das andere, wenn man siehet,
oder fühlet, warum er an der Stelle steht, wo man
ihn sieht.

Die Sachen in metaphysischem Gesichtspunkt be-
trachtet, fehlet es nie an Verbindung; denn bey
Erfindung und Zusammensezung der Werke des
Geschmaks sind allemal Gründe vorhanden, warum
jeder Theil in dem Werk erscheinet, und warum er
da steht, wo wir ihn antreffen Die Rede ist aber
hier nicht von dieser in metaphysischem Sinne ge-
nommenen, sondern von der ästhetischen Verbindung,
vermöge welcher wir die Gründe, woraus das Da-
seyn, und die Stelle jedes Theils erkennt wird, füh-
len, so daß wir nirgend Anstoß bemerken, sondern
in den Vorstellungen, die das Werk in uns erweket,
überall natürlichen Zusammenhang, ohne Lüken, ohne
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Ver
Mangel, und ohne fremde, nicht zur Sache gehö-
rige Theile, empfinden.

Wir erkennen oder empfinden den Zusammenhang
der Dinge, entweder durch den Verstand, oder
durch die Einbildungskraft, oder durch leidenschaft-
liches Gefühl, und durch diese drey Mittel verbindet
der Künstler die Theile seines Werks; jedes aber
begreift wieder mehrere, und oft gar mannigfaltige
Gattungen der Verbindung. So verbindet der
Verstand Ursach und Würkung, in dem er die Wür-
kung aus der Ursach, oder diese aus jener erkennet;
er siehet die Aehnlichkeit, oder Gleichartigkeit mehre-
rer Dinge, die mancherley Arten der Abhänglichkeit,
und der Verhältnisse, und leitet daher ihre Verbin-
dungen. Die Einbildungskraft aber hat noch mehr
Arten der Verbindung; denn sie kommt auf unzähl-
bar viel Wegen von einem Gegenstand auf einen an-
dern, darunter mehrere überaus zufällig, aber ihrer
flüchtigen Natur immer angemessen sind. Die ge-
ringste zufällige Kleinigkeit führet sie ofte auf sehr
entlegene Vorstellungen. So haben auch die Em-
pfindungen des Herzens ihren eigenen Gang von
einem Gefühl zum andern.

Wir fühlen hier die Gefahr uns in sehr weit-
läuftige psychologische Bemerkungen einzulassen,
und wollen lieber die Seegel einziehen, lieber unvoll-
ständig, als schweerfällig, und für die meisten Künst-
ler und Liebhaber langweilig und unbrauchbar spre-
chen. Darum kommen wir näher zum Zwek die-
ses Artikels.

Es ist schlechterdings das Jntresse des Künstlers,
daß die, für welche er arbeitet, in seinem Werk
keinen Mangel der Verbindung bemerken. Jeder
einzele Theil des Werks muß mit dem Ganzen so
verbunden seyn, daß man den Grund erkenne, wa-
rum er da ist; wenigstens, daß er nicht fremd, nicht
völlig überflüßig, und außer dem Charakter des
Ganzen liegend erscheine. Außer dem aber muß
auch Verbindung der Ordnung überall statt haben.

Zu beydem gehört Beurtheilung und Ueberle-
gung; weil es nicht genug ist, daß der Künstler
bey Zusammensezung, und im Feuer der Arbeit
beyde Arten der Verbindung fühle, sondern auch
nachher, bey schon etwas kältern Geblüthe, die Ver-
bindung würklich noch gewahr werde. Es geschie-
het gar ofte, daß Gedanken und Vorstellungen sich
aus einander entwikeln, und in unsrer gegenwär-
tigen Gemüthslage auf einander folgen, deren Zu-

sam-
(*) S.
Werke des
Geschmaks.

[Spaltenumbruch]

Ver
linſolo, und die folie d’Eſpagne des beruͤhmten Corelli,
als Muſter angefuͤhrt zu werden.

Wir wollen hier nur noch anmerken, daß bey
Symphonien und Ouverturen, ſelbſt die erſten Vio-
liniſten ſich ſchlechterdings aller Veraͤnderungen ent-
halten, und ſich nicht einmal durchgehende Noten zu
Ausfuͤllung einer Terz, erlauben ſollen; weil da-
durch in dergleichen Stuͤken gar leicht Quinten und
Octaven entſtehen. Begleitende Jnſtrumentiſten,
beſonders die Ripieniſten, ſollen ſich aller Veraͤnde-
rungen gaͤnzlich enthalten.

Verbindung.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Es iſt eine weſentliche Eigenſchaft der Werke des
Geſchmaks, daß alle Theile deſſelben unter einander
verbunden ſeyn: (*) jeder darin vorkommende Theil,
der wie vom Ganzen, oder von dem, was neben
ihm liegt, abgeloͤſet da ſteht, wird anſtoͤßig, weil
man nicht weiß, warum er da iſt, was er ſoll, oder
wie er auf das vorhergehende folget. Deswe-
gen hat der Kuͤnſtler bey Erſindung und Zuſammen-
ſezung ſeines Werks uͤberall auf die Verbindung
aller Theile mit dem Ganzen, oder unter einander,
wol Acht zu haben, damit nichts außer dem Zu-
ſammenhang mit dem uͤbrigen da ſtehe.

Jeder Theil aber muß in einer doppelten Ver-
bindung erſcheinen; er muß naͤmlich mit dem Gan-
zen, und mit den neben ihm liegenden Theilen ver-
bunden ſeyn. Das erſtere hat ſtatt, wenn ein
Grund vorhanden iſt, warum er als ein Theil des
Ganzen erſcheinet; das andere, wenn man ſiehet,
oder fuͤhlet, warum er an der Stelle ſteht, wo man
ihn ſieht.

Die Sachen in metaphyſiſchem Geſichtspunkt be-
trachtet, fehlet es nie an Verbindung; denn bey
Erfindung und Zuſammenſezung der Werke des
Geſchmaks ſind allemal Gruͤnde vorhanden, warum
jeder Theil in dem Werk erſcheinet, und warum er
da ſteht, wo wir ihn antreffen Die Rede iſt aber
hier nicht von dieſer in metaphyſiſchem Sinne ge-
nommenen, ſondern von der aͤſthetiſchen Verbindung,
vermoͤge welcher wir die Gruͤnde, woraus das Da-
ſeyn, und die Stelle jedes Theils erkennt wird, fuͤh-
len, ſo daß wir nirgend Anſtoß bemerken, ſondern
in den Vorſtellungen, die das Werk in uns erweket,
uͤberall natuͤrlichen Zuſammenhang, ohne Luͤken, ohne
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Ver
Mangel, und ohne fremde, nicht zur Sache gehoͤ-
rige Theile, empfinden.

Wir erkennen oder empfinden den Zuſammenhang
der Dinge, entweder durch den Verſtand, oder
durch die Einbildungskraft, oder durch leidenſchaft-
liches Gefuͤhl, und durch dieſe drey Mittel verbindet
der Kuͤnſtler die Theile ſeines Werks; jedes aber
begreift wieder mehrere, und oft gar mannigfaltige
Gattungen der Verbindung. So verbindet der
Verſtand Urſach und Wuͤrkung, in dem er die Wuͤr-
kung aus der Urſach, oder dieſe aus jener erkennet;
er ſiehet die Aehnlichkeit, oder Gleichartigkeit mehre-
rer Dinge, die mancherley Arten der Abhaͤnglichkeit,
und der Verhaͤltniſſe, und leitet daher ihre Verbin-
dungen. Die Einbildungskraft aber hat noch mehr
Arten der Verbindung; denn ſie kommt auf unzaͤhl-
bar viel Wegen von einem Gegenſtand auf einen an-
dern, darunter mehrere uͤberaus zufaͤllig, aber ihrer
fluͤchtigen Natur immer angemeſſen ſind. Die ge-
ringſte zufaͤllige Kleinigkeit fuͤhret ſie ofte auf ſehr
entlegene Vorſtellungen. So haben auch die Em-
pfindungen des Herzens ihren eigenen Gang von
einem Gefuͤhl zum andern.

Wir fuͤhlen hier die Gefahr uns in ſehr weit-
laͤuftige pſychologiſche Bemerkungen einzulaſſen,
und wollen lieber die Seegel einziehen, lieber unvoll-
ſtaͤndig, als ſchweerfaͤllig, und fuͤr die meiſten Kuͤnſt-
ler und Liebhaber langweilig und unbrauchbar ſpre-
chen. Darum kommen wir naͤher zum Zwek die-
ſes Artikels.

Es iſt ſchlechterdings das Jntreſſe des Kuͤnſtlers,
daß die, fuͤr welche er arbeitet, in ſeinem Werk
keinen Mangel der Verbindung bemerken. Jeder
einzele Theil des Werks muß mit dem Ganzen ſo
verbunden ſeyn, daß man den Grund erkenne, wa-
rum er da iſt; wenigſtens, daß er nicht fremd, nicht
voͤllig uͤberfluͤßig, und außer dem Charakter des
Ganzen liegend erſcheine. Außer dem aber muß
auch Verbindung der Ordnung uͤberall ſtatt haben.

Zu beydem gehoͤrt Beurtheilung und Ueberle-
gung; weil es nicht genug iſt, daß der Kuͤnſtler
bey Zuſammenſezung, und im Feuer der Arbeit
beyde Arten der Verbindung fuͤhle, ſondern auch
nachher, bey ſchon etwas kaͤltern Gebluͤthe, die Ver-
bindung wuͤrklich noch gewahr werde. Es geſchie-
het gar ofte, daß Gedanken und Vorſtellungen ſich
aus einander entwikeln, und in unſrer gegenwaͤr-
tigen Gemuͤthslage auf einander folgen, deren Zu-

ſam-
(*) S.
Werke des
Geſchmaks.
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[1208[1190]/0637] Ver Ver linſolo, und die folie d’Eſpagne des beruͤhmten Corelli, als Muſter angefuͤhrt zu werden. Wir wollen hier nur noch anmerken, daß bey Symphonien und Ouverturen, ſelbſt die erſten Vio- liniſten ſich ſchlechterdings aller Veraͤnderungen ent- halten, und ſich nicht einmal durchgehende Noten zu Ausfuͤllung einer Terz, erlauben ſollen; weil da- durch in dergleichen Stuͤken gar leicht Quinten und Octaven entſtehen. Begleitende Jnſtrumentiſten, beſonders die Ripieniſten, ſollen ſich aller Veraͤnde- rungen gaͤnzlich enthalten. Verbindung. (Schoͤne Kuͤnſte.) Es iſt eine weſentliche Eigenſchaft der Werke des Geſchmaks, daß alle Theile deſſelben unter einander verbunden ſeyn: (*) jeder darin vorkommende Theil, der wie vom Ganzen, oder von dem, was neben ihm liegt, abgeloͤſet da ſteht, wird anſtoͤßig, weil man nicht weiß, warum er da iſt, was er ſoll, oder wie er auf das vorhergehende folget. Deswe- gen hat der Kuͤnſtler bey Erſindung und Zuſammen- ſezung ſeines Werks uͤberall auf die Verbindung aller Theile mit dem Ganzen, oder unter einander, wol Acht zu haben, damit nichts außer dem Zu- ſammenhang mit dem uͤbrigen da ſtehe. Jeder Theil aber muß in einer doppelten Ver- bindung erſcheinen; er muß naͤmlich mit dem Gan- zen, und mit den neben ihm liegenden Theilen ver- bunden ſeyn. Das erſtere hat ſtatt, wenn ein Grund vorhanden iſt, warum er als ein Theil des Ganzen erſcheinet; das andere, wenn man ſiehet, oder fuͤhlet, warum er an der Stelle ſteht, wo man ihn ſieht. Die Sachen in metaphyſiſchem Geſichtspunkt be- trachtet, fehlet es nie an Verbindung; denn bey Erfindung und Zuſammenſezung der Werke des Geſchmaks ſind allemal Gruͤnde vorhanden, warum jeder Theil in dem Werk erſcheinet, und warum er da ſteht, wo wir ihn antreffen Die Rede iſt aber hier nicht von dieſer in metaphyſiſchem Sinne ge- nommenen, ſondern von der aͤſthetiſchen Verbindung, vermoͤge welcher wir die Gruͤnde, woraus das Da- ſeyn, und die Stelle jedes Theils erkennt wird, fuͤh- len, ſo daß wir nirgend Anſtoß bemerken, ſondern in den Vorſtellungen, die das Werk in uns erweket, uͤberall natuͤrlichen Zuſammenhang, ohne Luͤken, ohne Mangel, und ohne fremde, nicht zur Sache gehoͤ- rige Theile, empfinden. Wir erkennen oder empfinden den Zuſammenhang der Dinge, entweder durch den Verſtand, oder durch die Einbildungskraft, oder durch leidenſchaft- liches Gefuͤhl, und durch dieſe drey Mittel verbindet der Kuͤnſtler die Theile ſeines Werks; jedes aber begreift wieder mehrere, und oft gar mannigfaltige Gattungen der Verbindung. So verbindet der Verſtand Urſach und Wuͤrkung, in dem er die Wuͤr- kung aus der Urſach, oder dieſe aus jener erkennet; er ſiehet die Aehnlichkeit, oder Gleichartigkeit mehre- rer Dinge, die mancherley Arten der Abhaͤnglichkeit, und der Verhaͤltniſſe, und leitet daher ihre Verbin- dungen. Die Einbildungskraft aber hat noch mehr Arten der Verbindung; denn ſie kommt auf unzaͤhl- bar viel Wegen von einem Gegenſtand auf einen an- dern, darunter mehrere uͤberaus zufaͤllig, aber ihrer fluͤchtigen Natur immer angemeſſen ſind. Die ge- ringſte zufaͤllige Kleinigkeit fuͤhret ſie ofte auf ſehr entlegene Vorſtellungen. So haben auch die Em- pfindungen des Herzens ihren eigenen Gang von einem Gefuͤhl zum andern. Wir fuͤhlen hier die Gefahr uns in ſehr weit- laͤuftige pſychologiſche Bemerkungen einzulaſſen, und wollen lieber die Seegel einziehen, lieber unvoll- ſtaͤndig, als ſchweerfaͤllig, und fuͤr die meiſten Kuͤnſt- ler und Liebhaber langweilig und unbrauchbar ſpre- chen. Darum kommen wir naͤher zum Zwek die- ſes Artikels. Es iſt ſchlechterdings das Jntreſſe des Kuͤnſtlers, daß die, fuͤr welche er arbeitet, in ſeinem Werk keinen Mangel der Verbindung bemerken. Jeder einzele Theil des Werks muß mit dem Ganzen ſo verbunden ſeyn, daß man den Grund erkenne, wa- rum er da iſt; wenigſtens, daß er nicht fremd, nicht voͤllig uͤberfluͤßig, und außer dem Charakter des Ganzen liegend erſcheine. Außer dem aber muß auch Verbindung der Ordnung uͤberall ſtatt haben. Zu beydem gehoͤrt Beurtheilung und Ueberle- gung; weil es nicht genug iſt, daß der Kuͤnſtler bey Zuſammenſezung, und im Feuer der Arbeit beyde Arten der Verbindung fuͤhle, ſondern auch nachher, bey ſchon etwas kaͤltern Gebluͤthe, die Ver- bindung wuͤrklich noch gewahr werde. Es geſchie- het gar ofte, daß Gedanken und Vorſtellungen ſich aus einander entwikeln, und in unſrer gegenwaͤr- tigen Gemuͤthslage auf einander folgen, deren Zu- ſam- (*) S. Werke des Geſchmaks.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1208[1190]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/637>, abgerufen am 28.03.2024.