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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit
1.

Wenn einmal vorausgesetzt wird, daß die Kraft der
Seele in dem Zustande einer regen Wirksam-
keit sich befindet, so ist nun vornehmlich auf das Wie
und Wodurch zu sehen, wenn sie zu ihren besondern
Anwendungen, Handlungen und Verrichtungen gebracht
werde? Jch bin wachend und munter, und komme auf
mein Zimmer. Jnnerlich sind eine Menge von Em-
pfindungen rege, und außerhalb umgeben mich viele
Gegenstände. Es reget sich das Gefühl meines Be-
rufs; ich empfinde Triebe, Verlangen; eine Menge
von Vorstellungen ist gegenwärtig. Jch setze mich nie-
der, um über die Freyheit zu denken und zu schreiben.
Wie geht es zu, daß mein inneres thätiges Princip zu
dieser besondern Art von Wirksamkeit und auf diese be-
sondern Objekte gelenket wird?

Erste Erfahrung. "Wenn ich Eindrücke von
"Gegenständen empfange, die auf meine Sinnglieder
"wirken, und solche fühle, so mag es seyn, daß dieß
"Aufnehmen und dieß Fühlen eine Thätigkeit sey, die
"aus meinem innern Princip hervorgeht; aber es ist
"gewiß, daß ich zu dieser Aeußerung bestimmet wer-
"de."
Es ist eine Reaktion, zu der mich die Ein-
wirkung der äußern Dinge nöthiget; und mir kommt
das ganze Gefühl wie ein Leiden vor. Aber es sey
eine Thätigkeit, so ist dieß doch gewiß kein thätiger
Aktus, daß meine Kraft auf diese Art angewendet
wird.
Dieß letztere ist eine Leidenheit, wozu sie
bestimmt wird. Die Größe der Reaktion und ihre
Richtung hängt von einer andern Ursache ab.

Wenn ich diese Empfindung fortsetze, genauer zu-
sehe, oder die Augen wegwende, verschließe, so fühle
ichs, daß ich hier schon mich selbst bestimmen kann.
Die Jmpressionen, welche wir annehmen, können wohl

mittel-
XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
1.

Wenn einmal vorausgeſetzt wird, daß die Kraft der
Seele in dem Zuſtande einer regen Wirkſam-
keit ſich befindet, ſo iſt nun vornehmlich auf das Wie
und Wodurch zu ſehen, wenn ſie zu ihren beſondern
Anwendungen, Handlungen und Verrichtungen gebracht
werde? Jch bin wachend und munter, und komme auf
mein Zimmer. Jnnerlich ſind eine Menge von Em-
pfindungen rege, und außerhalb umgeben mich viele
Gegenſtaͤnde. Es reget ſich das Gefuͤhl meines Be-
rufs; ich empfinde Triebe, Verlangen; eine Menge
von Vorſtellungen iſt gegenwaͤrtig. Jch ſetze mich nie-
der, um uͤber die Freyheit zu denken und zu ſchreiben.
Wie geht es zu, daß mein inneres thaͤtiges Princip zu
dieſer beſondern Art von Wirkſamkeit und auf dieſe be-
ſondern Objekte gelenket wird?

Erſte Erfahrung. „Wenn ich Eindruͤcke von
„Gegenſtaͤnden empfange, die auf meine Sinnglieder
„wirken, und ſolche fuͤhle, ſo mag es ſeyn, daß dieß
„Aufnehmen und dieß Fuͤhlen eine Thaͤtigkeit ſey, die
„aus meinem innern Princip hervorgeht; aber es iſt
„gewiß, daß ich zu dieſer Aeußerung beſtimmet wer-
„de.‟
Es iſt eine Reaktion, zu der mich die Ein-
wirkung der aͤußern Dinge noͤthiget; und mir kommt
das ganze Gefuͤhl wie ein Leiden vor. Aber es ſey
eine Thaͤtigkeit, ſo iſt dieß doch gewiß kein thaͤtiger
Aktus, daß meine Kraft auf dieſe Art angewendet
wird.
Dieß letztere iſt eine Leidenheit, wozu ſie
beſtimmt wird. Die Groͤße der Reaktion und ihre
Richtung haͤngt von einer andern Urſache ab.

Wenn ich dieſe Empfindung fortſetze, genauer zu-
ſehe, oder die Augen wegwende, verſchließe, ſo fuͤhle
ichs, daß ich hier ſchon mich ſelbſt beſtimmen kann.
Die Jmpreſſionen, welche wir annehmen, koͤnnen wohl

mittel-
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[74/0104] XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit 1. Wenn einmal vorausgeſetzt wird, daß die Kraft der Seele in dem Zuſtande einer regen Wirkſam- keit ſich befindet, ſo iſt nun vornehmlich auf das Wie und Wodurch zu ſehen, wenn ſie zu ihren beſondern Anwendungen, Handlungen und Verrichtungen gebracht werde? Jch bin wachend und munter, und komme auf mein Zimmer. Jnnerlich ſind eine Menge von Em- pfindungen rege, und außerhalb umgeben mich viele Gegenſtaͤnde. Es reget ſich das Gefuͤhl meines Be- rufs; ich empfinde Triebe, Verlangen; eine Menge von Vorſtellungen iſt gegenwaͤrtig. Jch ſetze mich nie- der, um uͤber die Freyheit zu denken und zu ſchreiben. Wie geht es zu, daß mein inneres thaͤtiges Princip zu dieſer beſondern Art von Wirkſamkeit und auf dieſe be- ſondern Objekte gelenket wird? Erſte Erfahrung. „Wenn ich Eindruͤcke von „Gegenſtaͤnden empfange, die auf meine Sinnglieder „wirken, und ſolche fuͤhle, ſo mag es ſeyn, daß dieß „Aufnehmen und dieß Fuͤhlen eine Thaͤtigkeit ſey, die „aus meinem innern Princip hervorgeht; aber es iſt „gewiß, daß ich zu dieſer Aeußerung beſtimmet wer- „de.‟ Es iſt eine Reaktion, zu der mich die Ein- wirkung der aͤußern Dinge noͤthiget; und mir kommt das ganze Gefuͤhl wie ein Leiden vor. Aber es ſey eine Thaͤtigkeit, ſo iſt dieß doch gewiß kein thaͤtiger Aktus, daß meine Kraft auf dieſe Art angewendet wird. Dieß letztere iſt eine Leidenheit, wozu ſie beſtimmt wird. Die Groͤße der Reaktion und ihre Richtung haͤngt von einer andern Urſache ab. Wenn ich dieſe Empfindung fortſetze, genauer zu- ſehe, oder die Augen wegwende, verſchließe, ſo fuͤhle ichs, daß ich hier ſchon mich ſelbſt beſtimmen kann. Die Jmpreſſionen, welche wir annehmen, koͤnnen wohl mittel-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/104>, abgerufen am 29.03.2024.