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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
2.

Wenn man die verschiedenen formenden Ursachen mit
einander vergleichet, so ist die erste wichtige Frage diese:
Wie viel vermag die Natur? was und wie viel
muß dieser beygelegt werden?

Die Seelennatur in dem neugebornen Kinde mag
vielleicht keine völlig so stark bestimmte Anlage zu der
Seele des Erwachsenen seyn, als sein Körper es ist in
Hinsicht des ausgebildeten Körpers. Dennoch hat jene
in ihren wesentlichen Trieben, Jnstinkten und Vermö-
gen ihre unveränderlichen Eigenschaften, ohne welche
die Seele sich gar nicht entwickeln kann; ihre starken
Anlagen, ohne welche sie sich gewöhnlicherweiße nicht
entwickelt, und die sie unter jeden Umständen äußert;
und endlich ihre bloßen Möglichkeiten, die leichter verän-
dert werden, aber doch auch schon auf ihre Art be-
stimmt sind.

Hr. Verdier legt dem neugebornen Kinde keine
Seelenfähigkeit mehr bey als diese, daß es saugen und
einschlucken kann. Dieß beides hat das Kind seiner
Meinung nach schon im Mutterleibe erlernet. Er be-
merkte, daß die Ursache, warum ein zu früh gebornes
Kind nicht erhalten werden konnte, diese war, weil es
die Geschicklichkeit nicht hatte, zu saugen und seine Mus-
keln zum Hinunterschlucken zusammenzuziehen. Der
physische Reiz, den die Milch auf die innern Theile des
Mundes und des Gaumens macht, ist für sich allein
nicht stark genug die Muskeln zu diesen Bewegungen
zu bringen. Dazu gehöret seiner Meinung nach schon
eine Art von Uebung, welche das Kind im Uterus ge-
habt habe. So würde denn doch ein angebornes Ver-
mögen, und wenn auch nur Eins dergleichen, da seyn,
das in dem Embryonenstande schon zur Fertigkeit ge-
worden ist. Jst dieß, so führt uns die Analogie in

Hinsicht
und Entwickelung des Menſchen.
2.

Wenn man die verſchiedenen formenden Urſachen mit
einander vergleichet, ſo iſt die erſte wichtige Frage dieſe:
Wie viel vermag die Natur? was und wie viel
muß dieſer beygelegt werden?

Die Seelennatur in dem neugebornen Kinde mag
vielleicht keine voͤllig ſo ſtark beſtimmte Anlage zu der
Seele des Erwachſenen ſeyn, als ſein Koͤrper es iſt in
Hinſicht des ausgebildeten Koͤrpers. Dennoch hat jene
in ihren weſentlichen Trieben, Jnſtinkten und Vermoͤ-
gen ihre unveraͤnderlichen Eigenſchaften, ohne welche
die Seele ſich gar nicht entwickeln kann; ihre ſtarken
Anlagen, ohne welche ſie ſich gewoͤhnlicherweiße nicht
entwickelt, und die ſie unter jeden Umſtaͤnden aͤußert;
und endlich ihre bloßen Moͤglichkeiten, die leichter veraͤn-
dert werden, aber doch auch ſchon auf ihre Art be-
ſtimmt ſind.

Hr. Verdier legt dem neugebornen Kinde keine
Seelenfaͤhigkeit mehr bey als dieſe, daß es ſaugen und
einſchlucken kann. Dieß beides hat das Kind ſeiner
Meinung nach ſchon im Mutterleibe erlernet. Er be-
merkte, daß die Urſache, warum ein zu fruͤh gebornes
Kind nicht erhalten werden konnte, dieſe war, weil es
die Geſchicklichkeit nicht hatte, zu ſaugen und ſeine Mus-
keln zum Hinunterſchlucken zuſammenzuziehen. Der
phyſiſche Reiz, den die Milch auf die innern Theile des
Mundes und des Gaumens macht, iſt fuͤr ſich allein
nicht ſtark genug die Muskeln zu dieſen Bewegungen
zu bringen. Dazu gehoͤret ſeiner Meinung nach ſchon
eine Art von Uebung, welche das Kind im Uterus ge-
habt habe. So wuͤrde denn doch ein angebornes Ver-
moͤgen, und wenn auch nur Eins dergleichen, da ſeyn,
das in dem Embryonenſtande ſchon zur Fertigkeit ge-
worden iſt. Jſt dieß, ſo fuͤhrt uns die Analogie in

Hinſicht
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[589/0619] und Entwickelung des Menſchen. 2. Wenn man die verſchiedenen formenden Urſachen mit einander vergleichet, ſo iſt die erſte wichtige Frage dieſe: Wie viel vermag die Natur? was und wie viel muß dieſer beygelegt werden? Die Seelennatur in dem neugebornen Kinde mag vielleicht keine voͤllig ſo ſtark beſtimmte Anlage zu der Seele des Erwachſenen ſeyn, als ſein Koͤrper es iſt in Hinſicht des ausgebildeten Koͤrpers. Dennoch hat jene in ihren weſentlichen Trieben, Jnſtinkten und Vermoͤ- gen ihre unveraͤnderlichen Eigenſchaften, ohne welche die Seele ſich gar nicht entwickeln kann; ihre ſtarken Anlagen, ohne welche ſie ſich gewoͤhnlicherweiße nicht entwickelt, und die ſie unter jeden Umſtaͤnden aͤußert; und endlich ihre bloßen Moͤglichkeiten, die leichter veraͤn- dert werden, aber doch auch ſchon auf ihre Art be- ſtimmt ſind. Hr. Verdier legt dem neugebornen Kinde keine Seelenfaͤhigkeit mehr bey als dieſe, daß es ſaugen und einſchlucken kann. Dieß beides hat das Kind ſeiner Meinung nach ſchon im Mutterleibe erlernet. Er be- merkte, daß die Urſache, warum ein zu fruͤh gebornes Kind nicht erhalten werden konnte, dieſe war, weil es die Geſchicklichkeit nicht hatte, zu ſaugen und ſeine Mus- keln zum Hinunterſchlucken zuſammenzuziehen. Der phyſiſche Reiz, den die Milch auf die innern Theile des Mundes und des Gaumens macht, iſt fuͤr ſich allein nicht ſtark genug die Muskeln zu dieſen Bewegungen zu bringen. Dazu gehoͤret ſeiner Meinung nach ſchon eine Art von Uebung, welche das Kind im Uterus ge- habt habe. So wuͤrde denn doch ein angebornes Ver- moͤgen, und wenn auch nur Eins dergleichen, da ſeyn, das in dem Embryonenſtande ſchon zur Fertigkeit ge- worden iſt. Jſt dieß, ſo fuͤhrt uns die Analogie in Hinſicht

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 589. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/619>, abgerufen am 25.04.2024.