Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

und Entwickelung des Menschen.
wiederum so viel gewiß, daß unser gegenwärtiges Zeit-
alter zu der erstern wachsenden Periode, die sich mit un-
serer Geschichte anfängt und noch ihr Ende nicht errei-
chet hat, gerechnet werden müsse, und daß daher auch
noch ein fernerer Fortschritt in der Vervollkommnung
zu erwarten sey.

Künste und Wissenschaften sind zwar ein Mittel, wo-
durch die Vervollkommnung befördert wird; allein
man würde sich übereilen, wenn man nach dem Grade
der Erweiterung und Verbesserung derselben die Grade
der Vollkommenheit der Menschen schätzen wollte. Wenn
dieß angienge, so ließe sich der Vorzug unsrer Zeiten vor
dem Alterthum, auch gegen Hr. Dutens behaupten.
Wir sind zum wenigsten in den Kenntnissen, wobey völ-
lige Gewißheit stattfindet, weiter gekommen, als die
Griechen und Römer waren. Dieß macht allein die
Sache nicht aus. Es kommt dazu, daß der Fortgang
in den Wissenschaften und die Erweiterung derselben et-
was anders ist, als die Verbreitung der Kenntnisse un-
ter den Jndividuen. Das Licht der Wissenschaften giebt
unserm Jahrhundert eine glänzende Seite. Diese ist
eben diejenige, wobey die Vervollkommnung anfangen
muß. Allein diese eine Seite muß uns nicht blenden
und abhalten weiter nachzuforschen, wie tief die entwi-
ckelnde Wärme eingedrungen, und wie weit sie an allen
Seiten hin ausgebreitet sey?

2.

Wäre es möglich, wozu einige uns Hoffnung ge-
macht haben, daß die Naturanlagen in unsern Kin-
dern verbessert werden könnten: so ließe sich ungemein viel
zur Veredelung des künftigen Geschlechts ausrichten.
Jedes Jndividuum muß immer von demselbigen Punkt
anfangen, und hat dieselbigen Stufen seiner Entwicke-
lung vor sich, die es von der untersten an durchgehen

muß,
C c c 2

und Entwickelung des Menſchen.
wiederum ſo viel gewiß, daß unſer gegenwaͤrtiges Zeit-
alter zu der erſtern wachſenden Periode, die ſich mit un-
ſerer Geſchichte anfaͤngt und noch ihr Ende nicht errei-
chet hat, gerechnet werden muͤſſe, und daß daher auch
noch ein fernerer Fortſchritt in der Vervollkommnung
zu erwarten ſey.

Kuͤnſte und Wiſſenſchaften ſind zwar ein Mittel, wo-
durch die Vervollkommnung befoͤrdert wird; allein
man wuͤrde ſich uͤbereilen, wenn man nach dem Grade
der Erweiterung und Verbeſſerung derſelben die Grade
der Vollkommenheit der Menſchen ſchaͤtzen wollte. Wenn
dieß angienge, ſo ließe ſich der Vorzug unſrer Zeiten vor
dem Alterthum, auch gegen Hr. Dutens behaupten.
Wir ſind zum wenigſten in den Kenntniſſen, wobey voͤl-
lige Gewißheit ſtattfindet, weiter gekommen, als die
Griechen und Roͤmer waren. Dieß macht allein die
Sache nicht aus. Es kommt dazu, daß der Fortgang
in den Wiſſenſchaften und die Erweiterung derſelben et-
was anders iſt, als die Verbreitung der Kenntniſſe un-
ter den Jndividuen. Das Licht der Wiſſenſchaften giebt
unſerm Jahrhundert eine glaͤnzende Seite. Dieſe iſt
eben diejenige, wobey die Vervollkommnung anfangen
muß. Allein dieſe eine Seite muß uns nicht blenden
und abhalten weiter nachzuforſchen, wie tief die entwi-
ckelnde Waͤrme eingedrungen, und wie weit ſie an allen
Seiten hin ausgebreitet ſey?

2.

Waͤre es moͤglich, wozu einige uns Hoffnung ge-
macht haben, daß die Naturanlagen in unſern Kin-
dern verbeſſert werden koͤnnten: ſo ließe ſich ungemein viel
zur Veredelung des kuͤnftigen Geſchlechts ausrichten.
Jedes Jndividuum muß immer von demſelbigen Punkt
anfangen, und hat dieſelbigen Stufen ſeiner Entwicke-
lung vor ſich, die es von der unterſten an durchgehen

muß,
C c c 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0801" n="771"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
wiederum &#x017F;o viel gewiß, daß un&#x017F;er gegenwa&#x0364;rtiges Zeit-<lb/>
alter zu der er&#x017F;tern wach&#x017F;enden Periode, die &#x017F;ich mit un-<lb/>
&#x017F;erer Ge&#x017F;chichte anfa&#x0364;ngt und noch ihr Ende nicht errei-<lb/>
chet hat, gerechnet werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, und daß daher auch<lb/>
noch ein fernerer Fort&#x017F;chritt in der Vervollkommnung<lb/>
zu erwarten &#x017F;ey.</p><lb/>
            <p>Ku&#x0364;n&#x017F;te und Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften &#x017F;ind zwar ein Mittel, wo-<lb/>
durch die Vervollkommnung befo&#x0364;rdert wird; allein<lb/>
man wu&#x0364;rde &#x017F;ich u&#x0364;bereilen, wenn man nach dem Grade<lb/>
der Erweiterung und Verbe&#x017F;&#x017F;erung der&#x017F;elben die Grade<lb/>
der Vollkommenheit der Men&#x017F;chen &#x017F;cha&#x0364;tzen wollte. Wenn<lb/>
dieß angienge, &#x017F;o ließe &#x017F;ich der Vorzug un&#x017F;rer Zeiten vor<lb/>
dem Alterthum, auch gegen Hr. <hi rendition="#fr">Dutens</hi> behaupten.<lb/>
Wir &#x017F;ind zum wenig&#x017F;ten in den Kenntni&#x017F;&#x017F;en, wobey vo&#x0364;l-<lb/>
lige Gewißheit &#x017F;tattfindet, weiter gekommen, als die<lb/>
Griechen und Ro&#x0364;mer waren. Dieß macht allein die<lb/>
Sache nicht aus. Es kommt dazu, daß der Fortgang<lb/>
in den Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften und die Erweiterung der&#x017F;elben et-<lb/>
was anders i&#x017F;t, als die Verbreitung der Kenntni&#x017F;&#x017F;e un-<lb/>
ter den Jndividuen. Das Licht der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften giebt<lb/>
un&#x017F;erm Jahrhundert eine gla&#x0364;nzende Seite. Die&#x017F;e i&#x017F;t<lb/>
eben diejenige, wobey die Vervollkommnung anfangen<lb/>
muß. Allein die&#x017F;e eine Seite muß uns nicht blenden<lb/>
und abhalten weiter nachzufor&#x017F;chen, wie tief die entwi-<lb/>
ckelnde Wa&#x0364;rme eingedrungen, und wie weit &#x017F;ie an allen<lb/>
Seiten hin ausgebreitet &#x017F;ey?</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>2.</head><lb/>
            <p>Wa&#x0364;re es mo&#x0364;glich, wozu einige uns Hoffnung ge-<lb/>
macht haben, daß die <hi rendition="#fr">Naturanlagen</hi> in un&#x017F;ern Kin-<lb/>
dern verbe&#x017F;&#x017F;ert werden ko&#x0364;nnten: &#x017F;o ließe &#x017F;ich ungemein viel<lb/>
zur Veredelung des ku&#x0364;nftigen Ge&#x017F;chlechts ausrichten.<lb/>
Jedes Jndividuum muß immer von dem&#x017F;elbigen Punkt<lb/>
anfangen, und hat die&#x017F;elbigen Stufen &#x017F;einer Entwicke-<lb/>
lung vor &#x017F;ich, die es von der unter&#x017F;ten an durchgehen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C c c 2</fw><fw place="bottom" type="catch">muß,</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[771/0801] und Entwickelung des Menſchen. wiederum ſo viel gewiß, daß unſer gegenwaͤrtiges Zeit- alter zu der erſtern wachſenden Periode, die ſich mit un- ſerer Geſchichte anfaͤngt und noch ihr Ende nicht errei- chet hat, gerechnet werden muͤſſe, und daß daher auch noch ein fernerer Fortſchritt in der Vervollkommnung zu erwarten ſey. Kuͤnſte und Wiſſenſchaften ſind zwar ein Mittel, wo- durch die Vervollkommnung befoͤrdert wird; allein man wuͤrde ſich uͤbereilen, wenn man nach dem Grade der Erweiterung und Verbeſſerung derſelben die Grade der Vollkommenheit der Menſchen ſchaͤtzen wollte. Wenn dieß angienge, ſo ließe ſich der Vorzug unſrer Zeiten vor dem Alterthum, auch gegen Hr. Dutens behaupten. Wir ſind zum wenigſten in den Kenntniſſen, wobey voͤl- lige Gewißheit ſtattfindet, weiter gekommen, als die Griechen und Roͤmer waren. Dieß macht allein die Sache nicht aus. Es kommt dazu, daß der Fortgang in den Wiſſenſchaften und die Erweiterung derſelben et- was anders iſt, als die Verbreitung der Kenntniſſe un- ter den Jndividuen. Das Licht der Wiſſenſchaften giebt unſerm Jahrhundert eine glaͤnzende Seite. Dieſe iſt eben diejenige, wobey die Vervollkommnung anfangen muß. Allein dieſe eine Seite muß uns nicht blenden und abhalten weiter nachzuforſchen, wie tief die entwi- ckelnde Waͤrme eingedrungen, und wie weit ſie an allen Seiten hin ausgebreitet ſey? 2. Waͤre es moͤglich, wozu einige uns Hoffnung ge- macht haben, daß die Naturanlagen in unſern Kin- dern verbeſſert werden koͤnnten: ſo ließe ſich ungemein viel zur Veredelung des kuͤnftigen Geſchlechts ausrichten. Jedes Jndividuum muß immer von demſelbigen Punkt anfangen, und hat dieſelbigen Stufen ſeiner Entwicke- lung vor ſich, die es von der unterſten an durchgehen muß, C c c 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/801
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 771. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/801>, abgerufen am 19.04.2024.