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Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692.

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Das 2. Hauptst. von der grösten
höchste Gut sein/ weil sie nach demselben trach-
ten/
und dadurch anzeigen/ daß es in ihnen nicht
bestehe.

53.

Daß man aber insgemein das gröste Gut
in dem Thun des menschlichen Willens gesucht/
ist daher entstanden/ daß wie man bey denen Gü-
tern des Leibes dieselbigen betrachtet als wenn
sie würcklich könten von einander gesondert wer-
den; also auch bey denen Gütern der Seelen die-
se irrige Meynung geheget/ als ob der Verstand
ohne dem Willen seyn könte/
und der Wille
ohne Verstand/ woraus hernach die schöne Fa-
bel entstanden/ das man in der Lehre von dem Ur-
sprung und Fortsetzung des menschlichen Thun
und Lassens den Willen als einen König/ den
Verstand aber als einen Rath vorgestellet/ der
einen andern feindseeligen Rath/ nemlich die
sinnliche Begierde an der Seite hätte/ welche
beyde einander zuwieder wären/ und den guten
Herrn König gleichsam bey dem Ermel von einer
Seiten zu der andern zerreten/ biß endlich einer
von beyden die Oberhand behielte.

54.

Gleich wie aber die gelehrten Leute die sich
dieses Possen-Spiels in Unterweisung der studi-
renden Jugend bedienen/ hätten bedencken sollen/
daß die sinnliche Begierde ein ungeschaffe-
ner Zwitter sey/ den ihr Gehirne aus Vermi-
schung des Verstandes und Willens gemacht;
also hätten sie sich auch erinnern sollen/ daß
sie selbsten sagen/ daß man keine Begierde

zu

Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
hoͤchſte Gut ſein/ weil ſie nach demſelben trach-
ten/
und dadurch anzeigen/ daß es in ihnen nicht
beſtehe.

53.

Daß man aber insgemein das groͤſte Gut
in dem Thun des menſchlichen Willens geſucht/
iſt daher entſtanden/ daß wie man bey denen Guͤ-
tern des Leibes dieſelbigen betrachtet als wenn
ſie wuͤrcklich koͤnten von einander geſondert wer-
den; alſo auch bey denen Guͤtern der Seelen die-
ſe irrige Meynung geheget/ als ob der Verſtand
ohne dem Willen ſeyn koͤnte/
und der Wille
ohne Verſtand/ woraus hernach die ſchoͤne Fa-
bel entſtanden/ das man in der Lehre von dem Ur-
ſprung und Fortſetzung des menſchlichen Thun
und Laſſens den Willen als einen Koͤnig/ den
Verſtand aber als einen Rath vorgeſtellet/ der
einen andern feindſeeligen Rath/ nemlich die
ſinnliche Begierde an der Seite haͤtte/ welche
beyde einander zuwieder waͤren/ und den guten
Herrn Koͤnig gleichſam bey dem Ermel von einer
Seiten zu der andern zerreten/ biß endlich einer
von beyden die Oberhand behielte.

54.

Gleich wie aber die gelehrten Leute die ſich
dieſes Poſſen-Spiels in Unterweiſung der ſtudi-
renden Jugend bedienen/ haͤtten bedencken ſollen/
daß die ſinnliche Begierde ein ungeſchaffe-
ner Zwitter ſey/ den ihr Gehirne aus Vermi-
ſchung des Verſtandes und Willens gemacht;
alſo haͤtten ſie ſich auch erinnern ſollen/ daß
ſie ſelbſten ſagen/ daß man keine Begierde

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[80/0112] Das 2. Hauptſt. von der groͤſten hoͤchſte Gut ſein/ weil ſie nach demſelben trach- ten/ und dadurch anzeigen/ daß es in ihnen nicht beſtehe. 53. Daß man aber insgemein das groͤſte Gut in dem Thun des menſchlichen Willens geſucht/ iſt daher entſtanden/ daß wie man bey denen Guͤ- tern des Leibes dieſelbigen betrachtet als wenn ſie wuͤrcklich koͤnten von einander geſondert wer- den; alſo auch bey denen Guͤtern der Seelen die- ſe irrige Meynung geheget/ als ob der Verſtand ohne dem Willen ſeyn koͤnte/ und der Wille ohne Verſtand/ woraus hernach die ſchoͤne Fa- bel entſtanden/ das man in der Lehre von dem Ur- ſprung und Fortſetzung des menſchlichen Thun und Laſſens den Willen als einen Koͤnig/ den Verſtand aber als einen Rath vorgeſtellet/ der einen andern feindſeeligen Rath/ nemlich die ſinnliche Begierde an der Seite haͤtte/ welche beyde einander zuwieder waͤren/ und den guten Herrn Koͤnig gleichſam bey dem Ermel von einer Seiten zu der andern zerreten/ biß endlich einer von beyden die Oberhand behielte. 54. Gleich wie aber die gelehrten Leute die ſich dieſes Poſſen-Spiels in Unterweiſung der ſtudi- renden Jugend bedienen/ haͤtten bedencken ſollen/ daß die ſinnliche Begierde ein ungeſchaffe- ner Zwitter ſey/ den ihr Gehirne aus Vermi- ſchung des Verſtandes und Willens gemacht; alſo haͤtten ſie ſich auch erinnern ſollen/ daß ſie ſelbſten ſagen/ daß man keine Begierde zu

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Zitationshilfe: Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692/112>, abgerufen am 29.03.2024.